Nirvana und „In Utero“ – Die Brücke ins Nichts

Universal (VÖ. 27.10.)

Das finale Studioalbum des Trios mit Outtakes, B-Seiten und Live-Mitschnitten

Mehr Erfolg bedeutet mehr Geld, mehr Geld bedeutet die Möglichkeit eines höherwertigen Klangbilds. Deshalb wird die Einzigartigkeit des 1993 erschienenen Nirvana-Albums mit jedem Jahr offenkundiger. Weder vorher noch nachher hat es eine Band gegeben, die als Reaktion auf einen Welthit versucht hat, dem darauffolgenden Werk mit Absicht (!) einen simpleren, krachigeren und gleichzeitig schwerer erträglichen Sound zu verpassen. Kein Star – und Kurt Cobain, Dave Grohl und Krist Novoselic waren zum Aufnahmezeitpunkt von „In Utero“ Rockstars – hat das je gewagt. Auch die Seattle-Kollegen von Pearl Jam probierten sich nach „Ten“ am Protest, doch war „Vs.“ noch immer Classic Rock, oder eher noch: Complaint Rock.

Eine Koketterie mit der Unperfektion

Und „Nevermind“ war tatsächlich noch das gewesen: ein Welterfolg mit Punkrock, der im Kern Pop war und Grunge genannt wurde. Aber ist „In Utero“ deshalb wirklich Punk-Punk? „Teenage angst has paid off well, now I’m bored and old“, sang Cobain in „Serve The Servants“ und hustete – eine Koketterie mit der Unperfektion – ins Mikro. Er wollte die Platte „I Hate My self And I Want To Die“ nennen, und Steve Albini reproduzierte für Nirvana den Knochenbrecher-Schlagzeugklang von Cobains Idolen, den Pixies. Die wurden mit „Surfer Rosa“ berühmt, aber nicht erfolgreich – vielleicht wollte Cobain mit der Hommage sein Gewissen beruhigen, seinen Leuten versichern, dass er wusste, wem er was verdankte.

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Aber so ruppig die Aufnahmen, so sehr Pop waren die meisten Songs dann doch. Aus brutalen Ideen bastelte Cobain melodiöse Rundumversorgungen für geschundene Seelen: „Rape Me“, eine alberne, larmoyante Verhohnepipelung von „Smells Like Teen Spirit“, die aufgrund der Vergewaltigungsfantasie heute Wellen schlagen würde; dazu das gelungenere, wenn auch mit typisch kindischem Grunge-Sarkasmus betitelte „Radio Friendly Unit Shifter“, das eben kein „Verkaufsschlager“ werden konnte, weil es von Feedbackschleifen getragen wird. Ohne Albini hätte es wohl auch die Feuerwalze namens „Scentless Apprentice“ nie gegeben, das Juwel der Nirvana-Diskografie, zu Recht auch von Dave Grohl als ihr bestes Lied bezeichnet – und das einzige auf Erden, das besser ist als der Roman, auf dem es basiert, Patrick Süskinds Mördergeschichte „Das Parfüm“.

„In Utero“ wurde natürlich ein Welterfolg, damals hochgelobt und von vielen heute als bester Nirvana-Output verehrt

Mit „Heart-Shaped Box“ schließlich eine Single, in der die Vagina der Freundin als Falle mit Sicherheitsschloss bezeichnet wird. „In Utero“ wurde natürlich ein Welterfolg, damals hochgelobt und von vielen heute als bester Nirvana-Output verehrt. Cobains Plan, von jetzt an unauffälliger leben zu können, ging nicht auf. Stattdessen ging ein anderer Plan auf: mit einem derartigen Album die Credibility der Anfangsjahre zurückzuerobern. Kurz darauf schon war Cobain woanders. Er liebte das ein Jahr zuvor veröffentlichte R.E.M.-Album „Automatic For The People“, und für das vierte Studioalbum von Nirvana, das dann allerdings nie kam, plante er den stärkeren Einsatz von Akustikgitarren. Das diesem Ansatz folgende „In Utero“-Schluss-Statement „All Apologies“ bleibt deshalb ihr Brückenlied. Ein Brückenlied ins Nichts.

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Vielleicht hätte Cobain über die effiziente Vermarktung seines Nachlasses gelacht. Die „30th Anniversary Edition“ ist noch opulenter als die zum 20-jährigen Jubiläum, enthält auf acht LPs bzw. fünf CDs aber dieselben Outtakes und B-Seiten, dafür immerhin zwei komplette Konzerte mehr – leider nicht ihr finales, 1994 in München. Dazu Poster, Fanzines und schrammelige Backstage-Pässe als Faksimiles. Die werden nun Käufer in den Händen halten, die echt viel Geld dafür ausgegeben haben.