Warum man jetzt unbedingt die tUnE yArDs hören sollte!

Zwischen Talking Heads und Laurie Anderson findet Merrill Garbus mit ihren tUnE-yArDs eine eigene Version von Avantgarde-Pop – und träumt sich in eine Zeit ohne Smartphones zurück.

Mit tausend Händen in die Welt fahren, das dürfte das Konzept sein, mit dem Songwriterin Merrill Garbus seit der Gründung ihres Bandprojekts tUnE-yArDs versucht, kompromisslos musikalisches Neuland zu ergründen. Dafür ist ihr jedes Mittel recht: Schneeweißen Funk, R&B, Gospel, Afropop und Free-Jazz-Elemente reichert sie mit ihrer manchmal an Nina Si­mone erinnernden Powerstimme zu einer raffinierten, eklektischen Melange an. Ein Verfahren, das sie bereits bei ihrem nahezu im Alleingang auf einem Diktiergerät eingespielten, von Ukulele-Klängen bestimmten und mit einem kostenlosen Audioschnittprogramm produzierten Debüt, „BiRd-BrAiNs“ (2009), perfektioniert hatte, bevor sie sich für ihr zweites Album, „w h o k i l l“ (2011), die Unterstützung von Multiinstrumentalist Nate Brenner holte. Längst ist der Bassist nicht nur Partner für das Studio und die Bühne, sondern auch ein wichtiger Impulsgeber. Die tUnE-yArDs sind ab sofort keine Soloangelegenheit mehr, sondern ­eine Band.

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Beim neuen Album, „I Can Feel You Creep ­Into My Private Life“, für das sich die Musiker insgesamt vier Jahre Zeit genommen haben, hat Brenner bei der Produktion und vor allem beim Schreiben der Songs großen Anteil. Es ist im Vergleich zu dem reduzierten, in sich gekehrten Album „Nikki Nack“ von 2014 wesentlich komplexer arrangiert und stark geprägt von Discobeats der 80er-Jahre, Brian Eno („Another Green World“), Laurie Anderson („Big Science“) und sogar von den Beatles. Auch mit dem prägnanten Titel wählten die Musiker einen anderen Ansatz als bisher. Statt postmodern angestrichener Undurchschaubarkeit der Texte finden sich in Songs wie „Coast To Coast“ oder „Now As Then“ kompakte und zunächst reichlich simpel anmutende Phrasen. Ja, die tUnE-yArDs sind ein wenig zugänglicher geworden – jeden­falls auf den ersten Blick.

Look At Your Hands

Dazu passt, dass die Hände nun ganz offen liegen. Zum einen auf dem Cover, wo sie Garbus’ Gesicht verbergen und zugleich das Gefühl vermitteln, als könnte die Sängerin nach etwas greifen, das der Betrachter vielleicht lieber verstecken würde, eine durchaus unheimliche Geste, die nicht klarmacht, ob sie defensiv oder offensiv ausgerichtet ist. Zum anderen findet sie sich schon im Titel der verführerisch-vetrackten Synthiepop-­Nummer „Look At Your Hands“, die die Band als erste Single ausgekoppelt hat. Wohl auch weil sie wie kaum ein anderer Track auf dieser Platte den Hörer geradezu unverschämt zum Tanzen auffordert, angetrieben von verfremdeten Geräuschen aus dem funky Elektronik-Arsenal, das die Talking Heads einst bei den Aufnahmen zu „Remain In Light“ übrig gelassen haben könnten.

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Sind Hände nicht, weil sie so selten im Mittelpunkt stehen, schon längst intimere Körperteile als all jene, die die Werbung attraktiv inszeniert, um Menschen zu verführen, etwas zu kaufen? Ja, das auch, gibt Merrill Garbus zu. Aber sie sind eben auch ein faszinierendes Medium, um aus ihnen zu lesen. Die Zukunft, die (am Fließband oder im ­Büro verbrachte) Vergangenheit, möglicherweise sogar die in kleinen Hautverästelungen abgelegte Wahrheit über einen Menschen. Erst in unseren Händen seien Objekte konkret, erklärt die Sängerin, und nur so werden sie lebendig. Ganz anders, als wenn wir sie nur betrachten, wie es in einer alternativen Welt, also vor allem im Internet, möglich ist. Hier verschwimme unsere Privatsphäre auf erschreckende Weise mit all dem, was wir öffentlich von uns preisgeben: „Ich würde gern in Zeiten zurückkehren, als Facebook und Twitter nicht existierten“, so Garbus. „Wie sähe mein Privatleben wohl ohne Handy aus?“ Es ist das Thema dieses Albums, dem bisher besten und pointiertesten der tUnE-yArDs, das ja schon mit seinem unmissverständlichen Stalking-Titel die Linie für die Probleme vorgibt, die beide Musiker anscheinend seit Längerem beschäftigen. Auch weil sie sich bewusst sind, selbst in gewisser Weise abhängig zu sein von den Geräten, die ihnen den Zugang zur Welt erleichtern.

Was macht das Internet mit uns?

Der Song „ABC 123“, der schon mit dem Titel die Textfunktionen eines Smartphones in Erinnerung ruft und von einem neuen Alphabet, gar einer neuen Funktionalität der Sprache fantasiert, handelt von einer alternativen Realität, die sich durch die sozialen Medien in das Leben der Menschen geschlichen hat. Einer Realität, in der Selbstdarstellungsmöglichkeiten auch wegen des Internets unendlich erscheinen, doch jede Handlung davon abhängig ist, ob sie auch von anderen Menschen gemocht wird. „I want so badly to be liked/ I ask myself why was I nice/I ask myself what should I do“, heißt es in dem Lied vieldeutig. Es sind Fragen, die sich wohl viele stellen, die einen großen Teil ihres Privatlebens im Netz ausbreiten, beobachtet von datenhungrigen Konzernen und Geheimdiensten. Vielleicht deshalb wird die Songwriterin auch ganz konkret politisch, im Sinne einer grimmigen Aufforderung: „I called you up because we had a great connection/ You couldn’t hear me ’cause of NSA protection/But we’ll unite before the very next election/ No abstentions! Vote!“ Worte, die natürlich auch vom letzten US-Präsidentschaftswahlkampf geprägt sind, der wie keiner zuvor in der Geschichte des Landes vom Internet-Einsatz der Parteien beeinflusst war, von Fake-News und einem manisch twitternden Kandidaten der Republikaner, der damit kokettierte, seine Informationen lediglich aus dem Fernsehen und den sozialen Netzwerken zu beziehen.

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Merrill Garbus wuchs nach eigenen Angaben gut behütet in einer New Yorker Vorstadtwelt auf, in der Rassismus praktisch unbekannt war, weil es schlicht keine Schwarzen in ihrer Umgebung gab. Doch inzwischen seien Ressentiments gegenüber Schwarzen, Homosexuellen, Andersdenkenden und Anderslebenden wieder so präsent, dass darüber gesprochen werden müsse, so die Sängerin auch mit Blick auf die Proteste gegen Trump. Mehr oder weniger habe sich seit den 90er-Jahren, beginnend mit der ersten Amtszeit von Bill Clinton, ein bequemer Konservativismus vor allem beim wohlhabenden Teil der Amerikaner eingeschlichen, der inzwischen selbst das traditionell linke Kulturmilieu befallen hat. „Wir müssen endlich von unseren Bürostühlen aufspringen“, sagt Garbus kämpferisch. „Es ist gefährlich, diese Situation zu verdrängen, so wie wir es lange Zeit getan haben.“

Cover von „I Can Feel You Creep…“
Cover von „I Can Feel You Creep…“

Dazu gehören auch Themen wie Umweltverschmutzung oder die Gleichstellung von Mann und Frau, die in mehreren Songs direkt oder indirekt behandelt werden. Trotzdem will die 39-jährige Musikerin, die sich in ihren Liedern schon früher mit feministischen Gedanken beschäftigte, die neue Platte der tUnE-yArDs nicht so einfach als politische Angelegenheit missverstanden wissen. Jedenfalls nicht im Sinne einer platten Handlungsanweisung nach dem Motto: Dieses oder jenes müssen wir jetzt endlich durchsetzen, damit es allen Menschen besser geht. „Ich wollte vielmehr meine Erfahrungen ausdrücken, und das heißt auch, darüber zu schreiben, in was für einem Körper ich mich befinde und wie ich mich selbst als Mensch in den vergangenen Jahren entwickelt ­habe.“ Als Künstlerin will Garbus diese Erfahrungen auch im wahren Leben zur Geltung bringen. Mit ihrem Vorbild Laurie Anderson sowie mit Mohammed el Gharani, einem ehemaligen Häftling des Gefängnislagers Guantanamo, arbeitet sie seit 2015 für das Musik-­Kunst-Projekt Habeas Corpus zusammen – und das ist nur eine von vielen Kooperationen, die durch das Engagement der Sängerin in Avantgardekreisen zustande kam. Von Lou Reeds Witwe Anderson borgte sie sich wohl auch eine ganz spezielle Gesangs­technik.

Fast alle Musiker lieben Technik

Bei mehreren Songs auf „I Can Feel You Creep Into My Private Life“ klingt Garbus nämlich, als würde sie bewusst singend einen Roboter imitieren, wie einst Anderson in „O Superman“. Allerdings einen Roboter mit Gespür für Rhythm & Soul. Möglicherweise ein Teil des Konzepts, doch nicht bewusst gewählt, wie die Musikerin bestätigt. „Maschinen sind allgegenwärtig, wir können ihnen vor allem als Musiker nicht mehr ausweichen.“ Was liege da näher, als das auch im eigenen Werk zu reflektieren? Garbus: „Die meisten Musiker sind technologiebegeistert. Da geht es mir nicht anders. Aber ich wollte das immer zu einem gewissen Teil fortschieben und darüber nachdenken, was mich musikalisch definiert und was mich auch technisch begrenzt.“ So feiert Garbus mit ihren spitzen Melodien und ihren mal auf Wohlklang getrimmten, mal zickigen elektronischen Beats auch die Musik ihrer Jugend. Dazu gehören neben den Talking Heads wohl auch Ornette Coleman und John Zorn, am deutlichsten zu hören beim widerspenstigen Free-Jazz-Track „Who Are You“.

Doch am weitesten treiben die tUnE-yArDs ihre souveräne musikalische Fortentwicklung mit dem grandiosen „Colonizer“, einem dunkel-brütenden Noise-Stück, das an Radiohead aus „The King Of Limbs“-Zeiten erinnert und mit mysteriösen Gitarreneffekten und gespenstischen Stimmfärbungen arbeitet und das vor ­allem live – die Band spielte es 2017 bereits ­häufiger bei Konzerten – einen schaurig-schönen Sog entfaltet.

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4AD/Beggars
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