Klassik-Rock in weniger doof

Für einen rockmusiker bin ich alt“, sagt Bryce Dessner – und ergänzt mit schelmischem Grinsen: „Aber als klassischer Komponist bin ich noch ein Baby.“ Doch man darf den 37-Jährigen dabei nicht missverstehen. Für ihn gehören diese beiden musikalischen Welten quasi von Geburt an untrennbar zusammen. So untrennbar, wie er mit seinem Zwillingsbruder Aaron verbunden ist, mit dem er seit 1999 bei The National die Gitarren spielt. Dass er zudem vor ein paar Jahren damit begonnen hat, klassische Musik zu schreiben, dürfte allerdings den wenigsten bekannt sein.

Sein erstes größeres Orchesterwerk, das dreiteilige „St. Carolyn By The Sea“, erscheint jetzt auf einem Album – zusammen mit Jonny Greenwoods Soundtrack für den Paul-Thomas-Anderson-Film „There Will Be Blood“. Auf die Frage, weshalb man seine Musik mit der des Radiohead-Gitarristen kombiniert habe, obwohl beide noch nie zusammengearbeitet haben, entgegnet Dessner locker: „Die offensichtliche Verbindung ist doch die, dass wir beide in Rockbands spielen, aber mit Klassik angefangen haben.“ Die Gründe liegen jedoch tiefer: Beide sind Multiinstrumentalisten und spielen mit ihren Brüdern in einer Band. Beide sind Ausnahmekünstler auf ihrem Gebiet und Musikbesessene, die in allen Epochen und Genres heimisch zu sein scheinen. Und beide wurden, wahrscheinlich aufgrund all dieser Parallelen, vom Berliner Dirigenten André de Ridder für die Reihe „60 Minutes“ mit den Kopenhagener Philharmonikern ausgewählt. So entstand die Idee, die Werke von Dessner und Greenwood nicht nur in einigen international renommierten Konzerthäusern live zu präsentieren, sondern sie auch auf Tonträger miteinander korrespondieren zu lassen.

Seinen Ursprung hat „St. Carolyn By The Sea“ beim New Yorker American Composer Orchestra, von dem Dessner erstmals den Auftrag erhielt, ein Orchesterstück zu schreiben. „Bis dahin hatte ich hauptsächlich Kammermusik komponiert“, erzählt er. „Und die Leitung wollte gleich, dass ich auch noch selbst mitspielte. Also integrierte ich eine Gitarrenstimme. It was like a sonic color.“ In solchen Momenten, an der Schnittstelle zwischen Theorie und seinem endlos verzweigten Geflecht der Inspirationen, scheint Dessner in seinem Element. Die Initialzündung für „St. Carolyn“ kam ihm schließlich in Kalifornien bei der Lektüre von Jack Kerouacs „Big Sur“. Beim Fahren auf dem Highway 1, direkt an der Küste entlang, während er Beethoven und Strawinsky hörte. Wo ihm schließlich eine Ahnung eines eigenen Orchesterstils zuflog, die ihn plötzlich umhüllte wie die pazifischen Nebelschwaden die Steilklippen oder kühl umspülte wie das Meer die atemberaubenden Felsformationen.

Man merkt dem Album an, dass ihm nicht, wie man leicht annehmen könnte, an einer Weiterentwicklung von Art- oder Prog-Rock gelegen ist. Auch sind seine Kompositionen weniger filmisch angelegt als die Greenwoods. Es geht Dessner eher darum, eine moderne klassische Musik zu komponieren, die, anstatt mit Zitaten um sich zu werfen, verschiedenste Stilmittel zu neuen, subtilen Formen verschmilzt. Die technischen Aufnahmemöglichkeiten der Gegenwart sind dabei natürlich äußerst hilfreich: „Im 17. Jahrhundert gab es nun mal noch keine Midi-Programme, mit denen man mehrere Spuren übereinanderlegen konnte“, erklärt Dessner.

Aufgewachsen in Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio, verlor er schon als Schüler jegliche Berührungsängste zwischen E- und U-Musik, saugte vom Postpunk der Pixies bis zu den Klanggemälden von Benjamin Britten, von Blind Willie Johnson (über dessen Stück „Dark Was The Night“ er sagt, es sei der großartigste Song, der je aufgenommen wurde) bis zum Drone-Avantgardisten Glenn Branca („Vergiss Sonic Youth!“) alles auf, was er zu hören bekam, lernte Flöte und Gitarre und machte 1999 seinen Master of Music in Yale und dann Rock-Karriere. „Das ist Teil meiner DNA“, sagt er, seine Klassik-Sozialisierung resümierend, „während Rockmusik heute Teil von jedermanns DNA ist.“

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