Comic des Jahres: „Little Bird“ – Dystopie auf LSD
Der Comic der Stunde, „Little Bird“, steht in der Tradition der Sci-Fi-Comics von Mœbius.
Die Welt, in die „Litte Bird“ hineingeboren wird, brennt lichterloh. Die Kultur der kanadischen Ureinwohner, der sie entstammt, liegt am Boden, zerschmettert von der eisernen Faust des klerikalen Regimes der Vereinten Nationen von Amerika.
Von ihrer Mutter, die im Neuen Vatikan als Geisel gefangen gehalten wird, hat die junge Heldin den Auftrag, die legendäre Axt zu finden und mit ihr den indigenen Widerstand wiederzubeleben. Es tobt ein Krieg zwischen Ureinwohnern und Kolonisatoren, echten Menschen und genetisch modifizierten Kampfmaschinen. Nordamerika liegt in Trümmern.
Menschen werden nach neureligiösen Kriterien unterschieden
Aus dieser Asche hat der preisgekrönte Filmemacher und Autor Darcy Van Poelgeest eine Welt gehoben, die einem Fiebertraum gleicht. Darin eingeflossen ist ein „Ideenbündel aus kulturellem Völkermord, fundamentalistischem Christentum und genetischen Veränderungen“, das ihn schon seit Jahren beschäftige, wie er im Gespräch erklärt.
In der Zukunftswelt, die Van Poelgeest gemeinsam mit dem New Yorker Zeichner Ian Bertram geschaffen hat, werden Menschen nach neureligiösen Kriterien unterschieden. „In diejenigen, die so aussehen, wie Gott es beabsichtigt hat, und diejenigen, die nicht so aussehen. So stelle ich mir auch unsere Zukunft vor“, sagt der an der kanadischen Westküste lebende Autor über sein Szenario.
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Es gehe aber auch um die Hinterlassenschaften der Generationen. „Ich denke viel über die dauerhafte Wirkung unserer Entscheidungen und das potenzielle Trauma nach, das wir weitergeben. Es ist erschreckend, sich vorzustellen, dass etwas, das ich heute mache, Auswirkungen auf ein Enkelkind haben könnte, das ich vielleicht nie treffen werde.“
Die Revolution, die seine junge Heldin anführt, richtet sich gegen das christlich-fundamentalistische Regime des alten weißen Mannes, der hier von einem reaktionären, eiskalt dreinblickenden Bischof verkörpert wird. Der hat nicht nur die Ausrottung der indigenen Völker angeordnet, sondern lässt auch die Kinder der letzten (religions-)freien Menschen von Elder’s Hope entführen. In Umerziehungslagern werden sie religiös indoktriniert – ein Vorgehen, das in radikaler Form an den kulturellen Genozid an den First Nations durch Kanadas Regierung bis in die 90er-Jahre erinnert.
„Little Bird“ trifft den Nerv unserer Zeit
Dies ist nicht der einzige Bezug zur Gegenwart, ohne die Dystopien ihre Wirkung nicht entwickeln könnten. Der Aufstieg konservativ-reaktionärer Kräfte, toxische Männlichkeit und der Widerstand – insbesondere der jungen Generation –, der sich gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen richtet, spiegeln unsere Wirklichkeit wider. Vor allem die Nordamerikas.
Damit trifft der Comic einen Nerv. Erschienen als Miniserie, ging „Little Bird“ beim Publikum durch die Decke und wurde bei den diesjährigen Eisner-Awards mit dem Oscar der Comicszene ausgezeichnet. Längst sitzen Van Poelgeest und Bertram an einer neuen Geschichte, die im selben Kosmos spielen soll. In dieser stehen Umwelt- und Naturschutzfragen im Mittelpunkt.
Die erste „Little Bird“- Geschichte habe das nicht zugelassen, auch wenn er es anders geplant hatte, betont der Kanadier. „Die Geschichte hatte eine eigene Dringlichkeit, die diese Themen irgendwie ausschloss. Das spiegelt symbolisch unsere Unfähigkeit wider, uns der Herausforderung des Klimawandels zu stellen. Wenn es um das unmittelbare Überleben von Menschen und ihren Lieben geht, tritt der Umweltschutz immer in den Hintergrund.“
Trotz der vielen politischen Fragen will Van Poelgeest niemanden belehren. „Das Buch ist absolut zur Unterhaltung gedacht“, betont er. „Aber die Figuren haben etwas über die Welt zu sagen. Und ich denke, sie sind es wert, gehört zu werden.“
„Little Bird“ ist eine gewaltige Geschichte – im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Das liegt auch an der sensationellen Grafik des jungen Zeichners Ian Bertram, die Matt Hollingsworth mit leuchtenden Farben ausgestattet hat. Gemeinsam haben sie eine psychedelisch aufgeladene Cyberpunk-Welt geschaffen, die im großen Format perfekt zur Geltung kommt.
Aus der Tiefe der Bilder greifen Schlingen und Tentakel nach den Figuren und verraten etwas von den dunklen Abgründen hinter ihren Masken. Der Sci-Fi-Papst der Neunten Kunst, Comicgenie Jean Giraud alias Mœbius, hätte das nicht besser machen können.
LITTLE BIRD 1
DER KAMPF UM ELDERS HOPE
Darcy van Poelgeest
Ian Bertram
Matt Hollingsworth
Cross Cult, 35 Euro
Alle Bilder: Cross Cult