Das Kraut aus Grönland

Bei einem Promotion-Shooting des Fotografen David Simms in London hört Grönemeyer zum ersten Mal die Musik von NEU! und plötzlich bleibt alles anders. Der über ein Vierteljahrhundert alte und dennoch rostfreie Elektro-Sound ist für den Mann, der am Ende des Jahrtausends nach neuen Kicks jenseits von Bühne und Studio sucht, eine akustische Offenbarung. Seine zweite und folgenreichste Begegnung mit dem Phänomen NEU! macht Grönemeyer dann beim Kompilieren der viel beachteten Box „Pop 2000“ im Sommer ’99. Ein dreiviertel Jahr später unterzeichnen die Musiker Klaus Dinger (55) und Michael Rodler (50) einen Vertrag bei Grönemeyers (45) jungem Label Grönland Records. Ende Mai sollen die drei Original-Alben „NEU!“, „NEU! 2″ und JVEt// 75“ in den Formaten CD und LP wieder erhältlich sein – nach über zwei Dekaden, in denen sich NEU! zum heimlichen Mythos mauserten.

Im Booklet einer zusätzlich für den Herbst geplanten NEU!-Box zollen Koryphäen wie Bowie, Sonic buth und Stereolab dem Duo ihren Tribut. Grönemeyer reiht sich in den Kreis der Verehrer ein. „Ich bin kein ausgesprochener Krautrock-Fan und bezeichne NEU! auch gar nicht als Krautrock“, gibt er lakonisch zu Protokoll. „Mir waren Bands wie Amon Düül, Kraftwerk, Grobschnitt und Can bekannt, aber dann hörte es auch schon auf. Das Beeindruckende ist, dass die Musik von NEU! so klingt, als wäre sie erst vor ein paar Wochen aufgenommen worden. Und man sieht auch an den Reaktionen von Bands wie Radiohead, Blur oder Kreidler, welche Bedeutung diese Musik noch immer hat.“

Düsseldorf im Winter 2000. Menschen im Einkaufswahn. Dazwischen ein Mann, der seit jeher auf einem ganz anderen Trip ist und dabei stets seinen eigenen Film durchgezogen hat. Klaus Dinger sitzt im Cafe „Op De Eck“ gegenüber der Kunsthalle und rollt sich eine Zigarette nach der anderen. Er trägt eine weiße Latzhose, eine Lederjacke und Indientücher um den Hals. Die bloßen Füße stecken in blauen Filzlatschen (Marke „Bierholer“ von LIDL für 18,95 DM). Mit seinem wuseligen Kinnbart und der wirren Matte erinnert er an eine Kreuzung aus Catweazle und Kunstprofessor. „1971 habe ich mit Kraftwerk an einem Tag zweimal nacheinander in der ausverkauften Kunsthalle gleich gegenüber gespielt“, erzählt der Erfinder des hypnotisch-federnden Schlagzeug-Beats mit sonorer Stimme und nippt an seinem Cognac „Das hat wirklich gekracht, während die wesentlich berühmteren Small Faces am selben Tag in der Philipshalle vor nur 300 Leuten auftraten.“

Kraftwerk sind 1971 in anderen Umständen. Keyboarder Ralf Hütter ist vorübergehend ausgestiegen und wird durch den Gitarristen Michael Rother ersetzt. Florian Schneider spielt eine verfremdete Flöte und elektrische Geige, Klaus Dinger klopft beharrlich seinen 4/4-Takt, macht einfach Lärm oder ab und zu Ping. „Bei den Gigs hatte Florian ’ne Menge ,Schrottriäufchen‘ vor sich aufgebaut – Effektgeräte, mit denen er alles platt spielte“, erinnert sich Dinger an seine Zeit mit den Elektronikpionieren. „Der Hit war damals ,Ruckzuck‘: Michael machte mit der verzerrten Gitarre einen Mörder-Sound, beim dem wir ganz schön durch die Halle flogen.“

Mit Hütters Rückkehr stellt sich aber heraus, dass Dinger und Rother ihre Vorstellungen von einer in alle Richtungen offenen Musik in dieser Konstellation nicht realisieren können. Und so gründen sie im Herbst ’71 ihre eigene Band. „Nach uns kamen dann die Roboter“, schmunzelt der dünne Mann. „Der neue Kraftwerk-Drummer war eigentlich nur noch ein Fotomodell. Ich dagegen hatte überhaupt keine Lust, mit Stricknadeln kling-klong zu machen. Ich wollte draufhauen, bis das Blut kommt.“ Dazu soll er schon bald reichlich Gelegenheit bekommen. In nur vier Nächten im Dezember 1971 spielen Dinger und Rother ihr bahnbrechendes Debüt mit einem ziemlich simplen Instrumentarium ein: Gitarren, Bass, Schlagzeug, Japan-Banjo, Bandechos, Kontaktmikrofon, Equalizer, Verzerrer, Wah-Wah-Pedal und Stimme. Am Anfang dieser kosmischen Klangreise, die fast ohne Worte auskommt, stehen revolutionäre Vorstellungen von Popmusik: Schluss mit Bombast und virtuosem Hokuspokus, zurück zu den Wurzeln – sprich: minimalistische Trance-Grooves mit wunderschönen Melodien und zerstörerischen Feedbacks. Weniger ist mehr.

Beide haben sich unabhängig voneinander auf die Produktion vorbereitet. Der Funke zwischen dem ungleichen Paar springt aber erst ad hoc im Studio über, und nicht selten wundert sich der geniale Produzent Conny Plank – der übrigens an allen NEU!-Platten vertraglich beteiligt ist – über die erstaunlichen Ergebnisse. Bei dem epischen NEU!-Erkennungsstück „Hallogallo“ spielt Rother mehrere Gitarren übereinander. Als Plank das Band umdreht und ein oder zwei der Gitarrenspuren rückwärts laufen lässt, wird Rother zu einem wunderschönen Feedback angeregt, mit dem er endlos lange Töne erzeugen und modulieren kann. „Alles an NEU! war Ausdruck unseres Wunsches, individuell und neu zu sein. Die Cover, die Klaus entwickelt hat, und Conny Planks Sound – alles hatte eine eigene Asdietik.“

Der ganz in Schwarz gekleidete Rother verbreitet mit seinem modernen Kurzhaarschnitt und dem Handy neben der Teetasse heute noch jugendlichen Elan. Er arbeitet gerade an einem neuen Soloalbum, das Ende des Jahres erscheinen soll, während Dinger kürzlich seine Band La Düsseldorf mit vorwiegend japanischer Crew reaktiviert hat. Zum Jahresende sollen ein Remix der LP „Viva“ von ’78 und die Neuproduktion Japandorf erscheinen.

Auch mit ihrem nächsten Album überholen NEU! 1973 den Zeitgeist Als die Produktion von JiEV! 2″ in Verzug gerät, kommt Dinger spontan auf die Idee, die Titel der Single „Super/Neuschnee“ für die zweite LP-Seite zu manipulieren. In einer langen Nacht-Session bearbeitet Dinger die Single radikal und nimmt so ganz nebenbei die Remix-Technik vorweg: Die Vinyl-Single wird in unterschiedlichen Geschwindigkeiten abgespielt, mit springender Plattennadel aufgelegt und teilweise am Mischpult durch den Wolf gedreht Eine eiernde Kassetten-Aufnahme von „Für immer“ mutiert zu dem schleppenden Monstersound von „Cassetto“ – Industrial-Punk, wie er erst in den 80er Jahren in Mode kommen sollte.

Conny Plank sorgt aber nicht nur mit jedem neuen Track und jedem Mix für Überraschungen – mit psychologischem Geschick federt er zudem die gegensätzlichen Temperamente von Dinger und Rother ab und versteht es, ihre Konfrontationen in konstruktive Prozesse umzuleiten. „Er war ein kreativer und experimentierfreudiger Mann mit eigenen Vorstellungen vom Sound und er hatte den Mut, andere Wege als den Mainstream einzuschlagen.“

Rodler spricht mit Hochachtung von dem 1987 verstorbenen Plank. Der wohl stilprägendste deutsche Produzent hat es stets verstanden, Bands wie Kraftwerk, Cluster, Harmonia, Guru Guru, Ash Ra Tempel, DAF, La Düsseldorf und eben NEU! zu Höchsdeistungen zu inspirieren. „Er hat uns Musiker immer respektiert und nie versucht, uns seine Vorstellungen überzustülpen, sondern geholfen, das zu formulieren, was uns individuell ausmachte. Vielleicht wären die drei Alben ohne Conny nie entstanden.“

Warum hat diese offensichtlich noch immer so aktuelle Musik eigentlich einen derart langen Dornröschenschlaf gehalten? Zwei Menschen haben über die Jahre immer wieder versucht, sich des Themas anzunehmen. Ohne Erfolg. Schon 1990 wollte Daniel Miller das seit 1980 vergriffene Gesamtwerk auf Mute Records neu auflegen. Tim Renners Vorstoß für Motor Music landete 1997 ebenfalls im Aus. Das Paradoxe ist, dass Dinger, Rother und die Witwe von Conny Plank zwar durchaus an der Neuauflage der Platten interessiert sind, damit aber sehr unterschiedliche Erwartungen verbinden. 1996 kommt es fast zum endgültigen Zerwürfnis, als Dinger in Japan eigenmächtig das Album „NEU! 4“ mit unveröffentlichten Dinger/Rother-Bändern aus den 80ern veröffentlicht Der ebenso nicht autorisierte Mitschnitt J4EU! 72 Live In Düsseldorf und Klaus Dingers irritierend auf „La! Neu?“ getauftes Projekt tragen nicht gerade zur Entkrampfung der Verhältnisse bei Erst mit dem Auftauchen eines Pop-Prinzen aus Bochum wird im Märchen über das sagenumwobene Duo ein neues Kapitel aufgeschlagen.

„Ich glaube, dass ich mich als Künstler besser in die Situation anderer Musiker versetzen und ihnen somit eine andere Heimat bieten kann als die meisten großen Plattenfirmen“, erläutert Grönemeyer. „Mein Team und ich setzen uns viel präziser tagtäglich mit den Sorgen dieser Musiker auseinander. Und warum soll ich mein Wissen nicht auch anderen Künstlern anbieten?“

Nicht zuletzt Dank Grönemeyers Glaubwürdigkeit als Musiker und seiner Fähigkeit, mit den Empfindlichkeiten des Duos umzugehen, haben Dinger und Rother plötzlich wieder eine gemeinsame Perspektive – und so Gott will, endet sie nicht mit den drei Wiederveröffentlichungen. „Für ein neues Album würde Herbert so einiges geben“, weiß Klaus Dinger.

Da stellt sich die Frage: Sollte etwa auch der Musiker Grönemeyer inzwischen von NEU! beeinflusst sein?

„Nein, aber werde ich bestimmt noch…“

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