Der Terror der frühen Jahre

Die "terroristischen Zellen", vor 20 Jahren mit der vollen Hysterie des Gesetzes verfolgt, sind nur noch Stoff für die Geschichtsbücher. Alfred Hackensberger begab sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und besuchte Inge Viett, die in Kürze in die Gesellschaft zurückkehrt, die sie damals unerbittlich bekämpfte

Zweibrücken ist ein verschlafenes Nest. Selbst an diesem Freitagnachmittag, wo in anderen Kleinstädte der Sommerschlußverkauf tobt, scheint sich das Leben hinter geschlossenen Gardinen abzuspielen. Allenfalls am Busbahnhof gibt es bescheidene Hinweise darauf, daß es Leben gibt in dieser Stadt Sonst rührt sich hier nichts, was in diesem Fall von Vorteil ist, wenn man am Busbahnhof mit jemand verabredet ist, den man nur von Fotos kennt (wobei die Fotos zum Teil auch noch Fahndungsfotos aus alten Zeitungen sind).

„Hallo, bist Du aus Hamburg?“ rufen zwei Frauen von der anderen Straßenseite und kommen freundlich lachend auf mich zu. „Du mußt aus Hamburg sein“, sagt die eine mit den dunklen Haaren. „Du siehst jedenfalls so aus.“

Ich sage ja, worauf sich die andere mit den blond gefärbten Haaren als Inge Viett vorstellt „Das ist meine Freundin Regina Nicolai, die mich gerade besucht. Sie saß viereinhalb Jahre in Berlin ein, auch wegen Mitgliedschaft ,2. Juni‘.“ Beide lachen. „Könntest ihren Namen schon mal gehört haben“, sagt Viett, wieder ernsthafter. „Ich hoffe, Dir macht es nichts, daß ich sie mitgebracht habe.“ Beide lachen wieder. Nein, nein, sage ich und denke mir, bei dieser guten Laune, die sie zusammen versprühen, kann das nur gut sein.

So ausgelassen-locker hatte ich mir die Begegnung mit Deutschlands Top-Terroristin nicht vorgestellt. Daß Inge Viett 52 Jahre alt ist, sieht man ihr wahrlich nicht an. Genauso wenig wie die fünf Jahre Haft, die sie auf dem Buckel hat. Und die waren zumindest am Anfang, als die Behörden einen dritten Ausbruchsversuch befürchteten, sicher kein Pappenstil: Isolationshaft mit permanenter Überwachung, tägliche Zellendurchsuchung, getrennter Hofgang.

Viett als auch Nicolai, die vor kurzem geheiratet hat, strahlen Wärme und Offenheit aus. Man sieht ihnen an, daß sie mit sich und ihrer Geschichte im Reinen sind. Vom harten Leben im Untergrund und Gefängnis sind in ihren Gesichtern keine Spuren zu erkennen. Muß ja auch nicht. Vielleicht habe ich nur zuviel Fernsehen geguckt Namen, Daten, Fakten. Wo immer in den letzten Jahren Blut floß – sie war dabei, dichtete am 3. November 1978 „Bild“ und kürte die damals 34jährige zur Terroristin Nr. 1. Schließlich sollte sie neben Bombenattentaten und Banküberfällen am Drenckmann-Mord, Buback-Mord, Ponto-Mord, Schleyer-Mord sowie bei der Lorenz-Entführung und der Entführung des Wiener Wäsche-Königs Palmers mitgewirkt haben.

Von diesen Vorwürfen, die lange auch von den Sicherheitsbehörden geteilt wurden, bleibt 1992 beim Prozeß vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Koblenz wenig übrig. Nach ihrer Festnahme in Magdeburg am 12. Juni 1990 – sie war eine der acht RAFler; die sich in der DDR ein legales Leben aufgebaut hatten – beschuldigte sie die Bundesanwaltschaft der Beteiligung am Attentat auf Alexander Haig, dem Oberkommandierenden der NATO für Europa, sowie dem Mordversuch an einem französischen Polizisten.

In Sachen Haig wird Viett freigesprochen – was auch im Falle des Mordversuches an dem Polizisten durchaus möglich gewesen wäre. Aber ein zweifelhaftes Gutachten unterstellte ihr zielgerichtetes Handeln und keine unüberlegte Panik-Reaktion, als sie im Sommer ’81 in Paris auf den Polizisten schießt, der sie verfolgt, weil sie Motorrad ohne Sturzhelm fährt. 13 Jahre lautet das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz – und nicht lebenslänglich, wie es der Staatsanwalt gerne gesehen hätte. Viett macht keine belastenden Aussagen über andere RAF-Mitglieder, wie es Werner Lotze und andere DDR-Aussteiger taten. Dennoch betrachtet der Senat sie als Kronzeugin, weil sie über die RAF-Stasi-Verbindung aussagt. Nach Anrechnung von Untersuchungshaft und Zwei-Drittel-Strafregelung beide erst nach zähem Engagement ihrer Anwälte erwirkt – kommt Viett im Januar 1997 wieder frei.

Eine vergleichbar geringe Haftstrafe, denkt man an andere RAF-Mitglieder. So wurden Imgard Möller, Hanna Krabbe oder Karlheinz Dellwo, zu lebenslanger Haft verurteilt, nach gut 20 Jahren entlassen. Nicht zu vergessen Helmut Pohl, Brigitte Mohnhaupt, Eva Haule und Adelheit Schulz, gegen die – wie Oliver Tolmein in der „taz“ schrieb – „neue, durch Kronzeugen initiierte Ermittlungen laufen und befürchten lassen, daß sie weit über die Jahrtausendwende in Haft bleiben. Gleiches gilt für Birgit Hogefeld, wenn sie – wie sich in ihrem Prozeß in Frankfurt abzeichnet – verurteilt wird“.

Weniger das Gespräch selbst, vielmehr die Vorbereitung auf die Begegnung mit Inge Viett war eine Zeitreise in die Vergangenheit. Zu politischen Idealen, für die man als „Dazwischen-Geborener“ zu jung war. Es bestätigte sich, was man instinktiv gefühlt hatte: Die „Bewegung 2. Juni“ war die vergleichsweise sympathischere Sache. Hervorgegangen aus den Hasch-Rebellen, war der „2. Juni“ eine libertäre Organisation, die mehr den Eindruck einer Familie machte denn den eines kolletiven Kaders. RAF und „2. Juni“ waren sich nie ganz grün, wobei die Skepsis primär von Seiten der RAF kam, die Umgangsformen und Strategien des „2. Juni“ für fragwürdig hielt Entstanden aus einer in den Spät-Sechzigern sich politisierenden Subkultur, versuchte die Gruppe unnötige Opfer auf allen Seiten zu vermeiden. Oft waren Witz und Ironie Bestandteil ihrer Aktionen. Bei Banküberfällen verteilte man Süßigkeiten an die Kunden, um zu demonstrieren, daß es nicht gegen sie gehe. Außerdem wußte man/ frau, daß die Revolution nicht das V&rk einiger Elite-Terroristen sein könne, sondern nur das einer Volksbewegung. Ohne die Aufbruchstimmung der 60er Jahre, ohne Studentenrevolte und Rock ’n’Roll wäre der „2. Juni“ nicht denkbar gewesen. Natürlich könnte Inge Viett mit 52 Jahren fast meine Mutter sein – Tina Turner allerdings auch. Mit dem kleinen Unterschied, daß ein Revival einer Inge Viett nicht bejubelt würde. Und zwar von allen Seiten. Bewaffneter Widerstand hat abgewirtschaftet, Gewalt hat heute selbst bei „linken emanzipatorischen“ Gruppen einen moralisch verwerflichen Beigeschmack. Nach dem Motto: Hat man ja gesehen, wohin es fuhrt.

Aus der Ablehnung von Gewalt als Mittel in einer konkreten historischen Situation wurde eine Ablehnung von Gewalt an sich, gepaart mit einer ans Bigotte grenzenden moralischen Entrüstung – Verteufelungsstrategien, die in ihrer Vehemenz vergleichbar nur das böse Heroin freizusetzen vermag. Wir vergessen allzu leicht, wie Oliver Tolmein in der „taz“ schrieb, „daß die Grünen Minister einen Teil ihrer Legitimation auch aus dem Scheitern des bewaffneten Kampfes spätestens im Deutschen Herbst bezogen haben“.

Inge Viett hat diese Geschichte des bewaffneten Kampfes mitgeschrieben. Während der Studentenrevolte zieht sie ’68 von Hamburg nach Berlin, engagiert sich bei der „Schwarzen Hilfe“ und soll 70 von Bommi Baumann persönlich für die „Bewegung 2. Juni“ angeworben worden sein. Es folgt ein Leben in der Illegalität, Verhaftung 72 und 75. Beide Male kommt es nicht zum Verfahren, weil sie aus dem Gefängnis ausbricht 77 wird der Wiener Industrielle Michael Palmers entführt und ein Lösegeld von 43 Millionen Mark erpreßt – Geld, mit dem laut BKA die Kasse von „2. Juni“ und RAF aufgefüllt wird. Anfang der 80er Jahre existiert der „2. Juni“ nicht mehr. Viett wird Mitglied der RAF, bei der sie sich nicht sonderlich wohlfühlt.

Im Sommer ’81 schießt eine Deutsche auf einen französischen Polizisten. Die Behörden sind sicher, daß es Viett war, weil am Tatort ihr Adreßbuch gefunden wird. Im April ’83, zwei Jahre nach den Ereignissen in Paris, erhält Viert die DDR-Staatsbürgerschaft und den Namen Eva Maria Sommer. Von ’85 bis ’87 arbeitet sie in einer Druckerei in Dresden. Als sie auf einem westdeutschen Fahndungsplakat erkannt wird, siedelt sie – mit neuer Existenz ausgestattet, sie heißt jetzt Eva Schnell – nach Magdeburg um. Am 12. Juni um 23.15 Uhr wird sie verhaftet und wenig später an die BRD ausgeliefert. So wurde das Amtshilfeersuchen des BKA an Ostberlin, datiert auf Frühjahr ’89, doch noch erfüllt.

Vor kurzem ist bei Edition Nautilus Dein Buch „Einsprüche“ erschienen, das Deine Korrespondenz nach der Verhaftung dokumentiert. Ich dachte, es handele sich um eine Autobiographie, an der Du schreibst?

Daß aus den Briefen ein Buch wird, war ursprünglich nicht meine Intention; die Briefe waren als letzter Teil der Autobiographie gedacht, da ich keine Lust hatte, ein Kapitel über den Knast zu schreiben. Es gibt viele Bücher über den Knast, auch sehr gute wie etwa das von Klaus Jünschke, „Spätlese“. Über meine Korrespondenz wollte ich zeigen, wie ich mich als politisches Individuum im Knast auseinandergesetzt habe. Der Verlag fand das so interessant, daß er sagte: Da machen wir ein eigenes Buch daraus.

Was war denn überhaupt der Auslöser dafür, im Knast mit einer Autobiographie anzufangen?

Ein Jahr nach meiner Verhaftung schrieb mich Edition Nautilus an und fragte, ob ich nicht Lust hätte. Damals war ich noch so aufgewühlt vom Prozeß, daß ich dazu nicht fähig war. Eine Autobiographie kann man nur schreiben, wenn man an einem Punkt angelangt ist, wo man in aller Ruhe reflektieren kann. Später, zum Ende des Prozesses, war ich in Koblenz, wo die Haftbedingungen noch härter als in Zweibrücken waren. Da habe ich angefangen zu schreiben, um mich von der Knastwelt, von der ganzen Anspannung zu lösen. Ich habe mich ganz auf mich konzentriert Nach einiger Zeit stellte ich fest, daß es mir Spaß macht, und habe weitergemacht. Damals noch ohne Bestimmung, was daraus genau werden sollte.

Außerdem fand ich es dann auch wichtig, nicht stumm aus unserer Geschichte herauszutreten, nicht der Außenwelt unsere Aufarbeitung – ach, was für ein furchtbares Wort – so einfach zu überlassen. Es ist wichtig, daß wir unsere Geschichte selber niederschreiben. Nicht so sehr aus der reflektierenden Position von Heute, sondern mehr aus der damaligen Atmosphäre heraus.

Von einem Tag auf den anderen hat Dich mit der Verhaftung Deine Geschichte eingeholt. Das muß doch ein unglaublicher Schock gewesen sein?

Es war schrecklich, besonders als sie mich nach Westdeutschland zurückbrachten. Furchtbar.

Da warst Du plötzlich wieder mit dem terroristischen Schreckgespenst konfrontiert, mit all den Klischees, die für Dich schon lange Jahre zurücklagen?

Wie sie hier in Zweibrücken mit mir umgegangen sind, war schon extrem, vermutlich auch, weil ich zweimal aus dem Knast ausgebrochen war. Die Jahre in der DDR haben die nicht realisiert; die betrachteten mich nach wie vor nur als Symbolfigur des Terrorismus. Danach richteten sich die Haftbedingungen. Die hatten richtig Schiß vor mir. Das war irrational, total irrational.

Wie sahen die Haftbedingungen aus?

Ich hatte einen eigenen Trakt.

NICOLAI: Klingt das nicht gut? Ein ganzer Trakt gleich! (Lachen allerseits) VIETT: Mir wurde auch ständig vorgehalten: Sie haben doch lauter Privilegien, was wollen Sie denn? Erst nach dem Urteil bekam ich normale Haftbedingungen.

Du hast heute Freigang. Wie oft kannst Du raus, wie läuft das ab? Wirst Du noch observiert?

Einmal im Monat darf ich fünf Stunden raus. Ich war jetzt dreimal im „Urlaub“, da habe ich nichts von Observation gemerkt. Wenn ich raus komme, werden sie’s machen.

Und wie ist es, heute wieder rein zu müssen?

VIETT: Als ich das erste Mal draußen war, war es wie ein Blitz. War fünf Stunden draußen und hab es nicht richtig mitgekriegt, das Draußen. Als ich wieder drin war, war es so, als wäre ich gar nicht draußen gewesen. Wie ein Feuerzeug, das gerade mal kurz angegangen ist.

NICOLAI: In einem Brief schriebst du mal, die Seele mache so schnelle Bewegungen nicht mit.

VlETT: Ja, genau. Ich war nicht wirklich draußen, nur der Körper war draußen.

Zurück in die Vergangenheit. Du warst Mitglied beim „2. Juni“. Was bedeutete die Bewegung damals für Dich? Welche Unterschiede gab es zur RAF?

Der „2. Juni“ hat sich aus der militanten Berliner Subkultur zu einer bewaffneten Organisation entwickelt. Unser Programm zielte auf Entwicklung und Organisierung der Massenkämpfe. Die RAF hat das ausdrücklich als Populismus abgelehnt und ihre Strategie an der imperialistischen Rolle der BRD orientiert. Ich habe mich aber nun mal in den Zusammenhängen vom „2. Juni“ politisiert und aktiviert. Da war für mich alles überschaubar, einschätzbar und direkt. Ich hatte damals keine Ahnung von Gesellschaftstheorien, auch kaum von Geschichte. Meine Entscheidung, gegen den Kapitalismus zu kämpfen, kam aus der subjektiven Erfahrung, war spontan und romantisch. Bei den meisten vom „2. Juni“ war’s auch so.

War der Übertritt in die RAF ein schwerer Schritt?

Es war ein schwerer und für mich falscher. Das hatte aber primär mit der desperaten Situation zu tun, in der ich mich und eigentlich das gesamte Konzept vom bewaffneten Kampf befand.

NICOLAI: Beim „2. Juni“ hatten wir zwischen uns angstfreie Verhältnisse. Nicht, daß das auch seine Grenzen gehabt hätte…

VlETT: …wir haben viel richtig und viel falsch gemacht – und an dem, was wir richtig gemacht haben, haben wir uns aufgebaut, über das, was wir falschmachten, haben wir gequatscht. Keiner mußte Angst haben, nicht mehr akzeptiert zu werden. Was die RAF als familiär und nicht-revolutionär abgetan hat.

Gab es eigentlich dieses internationale Terrorgeflecht, das der Staat als Gespenst heraufbeschwor? Gab es z.B. Kontakte zu den Roten Brigaden?

Das Konzept der „europäischen Guerilla“ war ein potemkinsches Dorf. Natürlich hatten wir Kontakte, aber es gab keine Verbindlichkeiten. Man traf sich mit den Brigaden, hat miteinander diskutiert, aber keine gemeinsame Strategie oder kontinuierliche Diskussion. Ob sich das Mitte der 80er Jahre bei der RAF verändert hat, weiß ich nicht.

Und die Palästinenser?

Waren eine Ausnahme, zu denen hatten wir seit den 70er Jahren engeren Kontakt, die RAF als auch wir. Wir konnten dorthin, man hat gemeinsame Aktionen diskutiert…

Und die Ausbildungslager?

Die Freundschaft zu den Palästinensern bestand seit ’68, und das war schon ein revolutionäres Mekka, für alle Gruppen weltweit. Die Palästinenser haben uns zur Verfügung gestellt, was wir brauchten. Wenn wir eine Ausbildung wollten, haben wir sie bekommen.

Das Leben im Untergrund stellt man sich sehr streßbeladen vor. Angefangen von der Organisation einer illegalen Identität bis hin zur Angst, entdeckt zu werden. Muß man sich das so vorstellen?

Nein, diese Gefühle sind sekundär. Illegalität definierte sich für uns ja nicht dadurch, daß wir gesucht wurden. Im Gegenteil, es bestand darin, daß wir bestimmten, was wir machen wollten. Wenn wir durch die Straßen fuhren, dachten wir nicht daran, gleich angehalten zu werden. Dafür hatte man seine Vorkehrungen getroffen. Man hatte gute Pässe, gute Autos und hätte eine Kontrolle durchaus überstanden. Nein, diese Gedanken bestimmten nicht unseren Tag.

NICOLAI: Diese Propagandageschichten, besonders zur Zeit der großen Hysterie um 1977 rum, daß sie Leute über Erkennen verhaftet haben – das hat bis auf ein, zwei Mal nie gestimmt.

VlETT: Wenn, dann waren es Fahndungsergebnisse. Oder jemand drehte durch. Wie es bei mir in Paris war: Ich konnte mich der Kontrolle nicht stellen, weil ich keine anständigen Papiere hatte. Ansonsten kommt man durch jede Kontrolle.

NICOLAI: Es war zu keiner Zeit die Position, auf der Flucht zu sein. Es war eine Offensivposition, die Handlungsfähigkeit schafft, weil man nicht mehr an die Legalität gebunden ist. Es gab zwar Situationen, wo man auf der Flucht war, aber das hat nie unser Leben bestimmt. VlETT: …Zehn Jahre auf der Flucht (Lachen). Das ist eine Projektion der Verfolger, die dadurch deutlich machen wollen, daß das kein Leben sei. Für mich waren diese zehn Jahre richtiges Leben.

Was hatte die DDR überhaupt für ein Interesse, BRD-Terroristen aufzunehmen?

Sie hatten eigentlich kein Interesse. Wir wollten ihre Hilfe, um einige Leute in die befreiten Länder nach Afrika zu bringen. Da haben sie uns die Augen geöffnet, was das bedeutet, wenn da acht aus der Illegalität kommende Weiße nach Mozambique kommen, wo alle Geheimdienste der Welt hocken. „Wenn ihr wollt, bringt sie zu uns“, hieß es dann. Wir haben überlegt und zugestimmt. Sie stellten keine Bedingungen; sie haben es als solidarischen Akt verstanden. Sie fanden zwar nicht gut, was wir taten, und wollten uns davon abbringen. Sie haben uns aber immer ab Kommunisten begriffen, die auf ein- und derselben Seite standen.

Eine heikle Frage ist immer noch die nach den Toten in Stammheim. Mord oder Selbstmord?

Ich weiß nicht, was da passiert ist. Ich halte beides für möglich. Für mich ist es auch nicht nötig, eine andere Position zu finden. Warum auch?

NICOLAI: Damals war die Ermordung eine öffentliche Forderung. Golo Mann hat sich seitenweise in der „Welt“ drüber ausgelassen.

VlETT: Und wenn man sieht, mit welcher Unverschämtheit sie Wolfgang Grams Tod als Selbstmord darstellen! Obwohl es Menschen gibt, die es ja mit eigenen Augen gesehen haben. Da kommt man leicht zur Meinung, daß sie ermordet wurden. Ich weiß aber nicht, ob es jetzt auch nötig ist, das zu klären.

Wie beurteilst Du die sogenannte Nachfolge-Generation von Terroristen wie etwa Christian Klar? Ich kann und will sie nicht beurteilen. Ich habe keinen Einblick, was bei ihnen läuft. Und was an Informationen in die öffentliche Diskussion durchkommt, ist nicht viel. Die Verfolgungsbehörden kreierten besonders bei Christian Klar das Bild vom eiskalten Killer.

VlETT: Das ist so falsch wie alles, was sie zur RAF gesagt haben. Christian ist ein unglaublich sympathischer Junge. Aber er ist auch ein überzeugter, konsequenter Mensch. Und aus Konsequenz, die gegen sie gerichtet ist, machen sie „eiskalt“.

NICOLAI: Er sitzt seit über zehn Jahren in Einzelisolationshaft, und keiner soll glauben, daß da keine Regression stattfindet. Sie sitzen in einem geschlossenen System, wo man sich etwas bewahren muß, um überleben zu können. In einer Situation, wo du außer deiner Geschichte nur noch diese Eiseskälte um dich hast Du hältst nur durch, weil es deine Identität war, und du hältst daran fest, weil du dir die Geschichte nicht stehlen lassen willst Sie wollen natürlich, daß du sagst, es war falsch, was du gemacht hast Aber den Knast kann man nur überstehen durch Verteidigung seiner Geschichte, egal wie man später darüber reflektiert.

VlETT: Aus diesem Grund hätte ich auch keine Kronzeugin machen können. Ich hätte meine ganze Geschichte zerstört Ich weiß nicht, wie die anderen das gemacht haben. Ich denke, die hatten ihre Geschichte schon vorher abgegeben.

Ich hatte ein neues Leben, eine neue legale gesellschaftliche Ebene, in die ich meine Inhalte und Identität hineininterpretieren konnte. Ich hatte mit dem bewaffneten Kampf abgeschlossen und hatte ihn auch anders betrachtet, viel relativierter.

Die obligatorische Abschlußfrage: Wie sieht Deine Zukunft aus, nach dem Knast? Als freie Autorin?

Nein, ich bin ja keine Schriftstellerin. Ich weiß noch nicht, was ich mache. Ich bin 15 Jahre raus aus der Geschichte und muß sehen, wie ich da überhaupt wieder reinkomme.

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