Die Rebellion der Unsichtbaren

"Wholetrain" wirft einen Blick auf die ursprüngliche HipHop-Subkultur der Sprayer.

Fast hätte Florian Gaag für sein Spielfilm-Debüt „Wholetrain keinen Lichtspielsaal gefunden: Kaum ein Kinobesitzer wollte mit dem 2006 gedrehten Graffiti-Film zu tun haben – aus Sorge, die Sprüher würden die Filmtheater verschmutzen. „Anstiftung zur Gesetzesübertretung“ titelte eine konservative deutsche Zeitung ihre Filmkritik. Und das war noch gar nichts gegen die Hürden, die der Film schon im Vorfeld zu nehmen hatte: Zunächst hatte die Deutsche Bahn jede Drehgenehmigung verweigert. Dann drohte sie – wegen der mit dem Film verbundenen Nachahmungsgefahr – auch die europäischen Nachbarn zum Boykott zu ermuntern. In Warschau bekam Gaag schließlich grünes Licht.

Sein Durchhaltevermögen hat sich ausgezahlt: Als er den Film in New York vorführte, versammelten sich Dutzende Legenden des HipHop vor der Leinwand: Darunter Rapper KRS-One oder die DJ-Pioniere Kool Herc und Grand Wizard Theodore. „Sie standen da“, erzählt Gaag, „wie vor einer alten Postkarte, verknüpften die Filmszenen mit Bildern aus einer Zeit, die romantische Erinnerungen weckte“. Tatsächlich öffnet das atemlos geschnittene Dokudrama zweier rivalisierender Gangs von Graffiti-Sprühern gerade an einem Ort wie New York eine Zeitkapsel: Der Plot – die einst verfeindeten Crews besprühen nach dem Tod eines Kollegen auf der Flucht vor der Polizei gemeinsam einen ganzen Zug oder „Wholetrain“ – knüpft an Charlie Ahearns Doku-Drama „Wild Style“ an, den Film, der HipHop 1982 erstmals in die Kino brachte und Jugendliche weltweit mit dem Sprayer-Virus infizierte. Unter ihnen Gaag selbst. Der Enthusiasmus, die Manie, aus der HipHop einst entstanden, kontrastiert er dabei mit der heute praktizierten Kriminalisierung der Graffiti-Szene: Da machen spezielle Polizeieinheiten mit Hubschaubern Jagd auf die Sprayer, sind U-Bahn-Depots mit Stacheldraht und Bewegungsmeldern gesichert, werden selbst phantastische Kunstwerke oder „Pieces“ vor dem nächsten Waggon-Einsatz weggeätzt. In „Wholetrain“ aber beschwört Gaag eine lebendige Graffiti-Szene, in der HipHop noch eher nach Adrenalin riecht denn nach Champagner und Herrenparfums. Eine Szene, die seit drei Jahrzehnten vom Mythos der New Yorker U-Bahnen zehrt. New York, Winter 1977: Große, grelle, geschlungene Buchstabenknäuel blenden Passanten, und die Fahrgäste in den Bahnhöfen staunen nicht schlecht, als zum ersten mal ein Zug einfährt, der von unten bis oben, von vorne bis hinten mehr einem Comic-Buch auf Rädern ähnelt als allem, was man bisher als U-Bahn gewohnt war. Zehn zusammenhängende Waggons hatten eine komplett neue, bunte Fassade erhalten, inklusive Weihnachtsmännern und Micky-Maus-Figuren „Einige dachten gar“, amüsiert sich der später durch das Doku-Drama „Wild Style“ zu Weltruhm kommende Lee Quinones, „die Verkehrsbetriebe selbst steckten hinter der Verschönerungsaktion.“

Die Aktion war einer ausgeklügelten Logistik gefolgt: Erst hatten Lee Quinones und seine Freunde die Zugbemalung auf Papier entworfen, dann wochenlang gezielt die nötigen Farben zusammengeklaut – insgesamt gut 120 Spraydosen. Bei Mondschein kletterten sie über den Zaun eines Zugdepots in Coney Island. Das erste Mal kamen sie nicht weit: Eine Polizeistreife ließ sie unverrichteter Dinge fliehen. Doch noch in der selben Nacht kehrten sie von manischem Ehrgeiz getrieben zurück, malten die Außenlinien zu Ende, füllten die Farbfelder aus, sprühten Lichtreflexe und Schatten in ihre Figuren. Um sechs Uhr morgens stand der „Wholetrain“. Anschließend machten sich Lee und seine Freunde auf den Weg zur Brooklyn Bridge – um das alles entscheidende Foto zu schießen. „Als der Wholetrain schließlich einfuhr, hätte ich vor Aufregung fast vergessen, zu fotografieren. Die Graffitis spiegelten sich in den Fensterscheiben der anderen Züge, und wir tranken an jeder Station die fassungslose Blicke der Menschen, ihre ‚Ah‘-Rufe und spitzen Schreie“.

„Wholetrain“ erinnert an diesen Ur-Geist des Graffiti: Sprühen als anarchische Mutprobe vor dem Gesetz, gegnerischen Crews und sich selbst. Ganz bewusst hat sich Florian Gaag etwa die Rapper für den phantastischen „Wholetrain“-Soundtrack gesucht: „Da rappen ausschließlich Typen wie KRS-One, die früher selbst einmal sprühten.“ Das ist wohl auch das größte Verdienst von GaagsF ilm: Eine Zeitkapsel gefertigt zu haben, die HipHop jenseits seiner industriellen Projektionen, in einem Rohzustand naiver, rücksichtsloser Begeisterung zeigt. Für die Fans: Zum Glück. Für das Establishment: Immer noch zum Fürchten.

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