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„Disintegration“ von The Cure: Wie unter einem Leichentuch

Die Kritiker waren damals überfordert mit einem Album, das irgendwie Gruftmusik sein musste. Persönliche Betrachtung einer Platte, die wie eine endlose Schleife des unglücklichen Bewusstseins wirkt.

Er konnte auch herrliche Popsongs schreiben, vorher und nachher, und „Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me!“ war eine der wenigen glamourösen, ernsthaften Platten der Achtziger. „If Only Tonight We Could Sleep“, „How Beautiful You Are“ waren damals so etwas wie ein Philosophiekurs für Gymnasiasten und praktische Lebenshilfe.

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The Cure handelten stets davon, warum es die Liebe gibt und warum wir sterben müssen, und beides können junge Menschen nicht verstehen, alte aber auch nicht. Diese Angst war einfach da, und man konnte „Zillo“ lesen oder Schopenhauer, man konnte sich in Schwarz kleiden und in der Theatergruppe mitmachen oder im Philosophiekurs über Sartre reden: Es gab kein Entkommen, und vor uns lag eine dunkle, freudlose, lange, lange Zeit, die wir Studium nannten, nachdem die dunkle, freudlose, lange, lange Zeit vorüber war.

Die Melancholie von The Cure

Bei „Kiss Me!“ war ich verliebt, bei „Disintegration“ war ich unglücklich verliebt. Robert Smith konnte nichts dafür, aber beide Platten wussten von mir. Bei Smith gab es schon kein Glück mehr, aber etwas anderes, das Pubertierenden meistens hilft und das manche ins Grab bringt: die Melancholie. Roberts Namensvettern, die segensreichen Smiths, hatten gerade ihre Karriere beschlossen, da kam „Disintegration“.

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So laut man die HiFi-Anlage aufdrehte, die Platte klang immer wie unter einem Leichentuch, dabei stand auf der Hülle: „This music has been mixed to be played loud – so turn it up.“ Aber sogar Papas holzverschaltes Gerät gab nicht genügend her, um den Schmerz zu betäuben. Die Rezensenten waren damals überfordert mit einer Platte, die nach geltender Dialektik Gruftmusik sein musste.

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Für uns war „Disintegration“ eine Symphonie. „,I think I’m old and I’m feeling pain‘ you said ,and it’s all running out like it’s the end of the world‘ you said ,and it’s so cold like the cold when you’re dead‘ you said and then you smiled for a second.“ Das stand da so hintereinander geschrieben und wurde ja auch so gesungen. „It’s just the way I smile“, heißt es am Schluss, und wenn ich das heute höre, weiß ich, weshalb ich Songtexte als die reinste Poesie empfinde.

Kitsch und Redundanz

Natürlich war da auch der Kitsch. „Whenever I’m alone with you, you make me feel like I am home again“, sang Smith in dem Lied, das einfach „Lovesong“ heißt. Eine richtige Litanei. Sie war alles für ihn, wie man so sagt. Komisch, das von einem älteren Mann zu hören. Smith war ja schon über 30.

Musikalisch ist „Disintegration“ eine einzige Redundanz, eine endlose Schleife, ein Kreisel des unglücklichen Bewusstseins. Es gibt diese unglaublich langsamen, schwebenden Elegien wie „Pictures Of You“ und diese vorwärtstreibenden, refrainlosen Tiraden wie „Disintegration“: „How the end always is…“

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Am Ende ertönt eine Orgel wie ein Akkordeon, das Schlagzeug klopft gleichmütig, die Gitarre spielt süß darüber, dann diese Stimme: „And now the time has gone/ The monster climb deeper inside of me.“ Das Stück heißt „Untitled“. Und die Schule war irgendwann auch für immer zu Ende.

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So lange man diese Musik hört, so lange muss man keine Angst haben. Die Fragen des Lebens verschwinden, schreibt Ludwig Wittgenstein, und eben dies ist die Antwort.

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