Kritik: „Abba: Voyage“ in London: Was die Abbatare können, was sie nicht können
Das ILM-Konzert der Abba-Avatare zeigt Möglichkeiten für die Zukunft auf – und Grenzen, die vielleicht für lange Zeit nicht überschritten werden können.
Die Augen wirken nicht lebendig, das trübt den Eindruck. Es liegt meist an den Augen, nein, immer an den Augen, wenn digitale Menschen lebensecht erscheinen sollen, aber irgendetwas nicht stimmt mit dem Gesicht. Man spricht dann vom „Uncanny Valley“-Effekt, dem „umheimlichen Tal“. Erscheinen menschenähnliche Geschöpfe nicht ganz fotorealistisch, empfinden wir oft Befremden. Vielleicht, weil uns Abweichungen der Kunstfiguren von uns selbst besonders dann deutlich auffallen, wenn sie minimal sind. Frida singt „Fernando“, sie sieht aus wie Frida, aber sie ist nicht Frida. Ihren Augen fehlt der Glanz. Das „Uncanny Valley“-Problem haben Abba nicht exklusiv, damit schlägt sich ganz Hollywood herum, seit bald 20 Jahren, seit Robert Zemeckis‘ „Polarexpress“ von 2004. Die von Abba beauftragte George-Lucas-Firma Industrial Light & Magic (ILM) hat zumindest, das lässt sich nach der Premiere der „Voyage“-Show in London (26. Mai) sagen, einen Schritt nach vorne gemacht. Dieses Event zeigt die Möglichkeiten von solchen Darstellungen auf – und ihre Grenzen.
Die digitalen Avatare alias „Abbatare“ sind aus der Ferne, abgesehen von der auf Leinwänden zu beurteilenden Mimik, nicht als 3D-Charaktere zu erkennen. Sie wirken echt. Das ist natürlich gut. Sie sind Projektionen, aber erscheinen dreidimensional und bewegen sich mit einer tänzerischen Geschmeidigkeit, die Agnetha, Frida, Benny und Björn sogar in ihren besten Tagen abging. Für ihre Pirouetten war die echte Frida ja nicht unbedingt berühmt.
Unter den Augen von König Carl XVI Gustaf und Königin Silvia, die Abba während derer aktiven Konzert-Ära bis 1980 vielleicht ja nicht erlebt hatten, feiern die Schweden nun also ihr Live-Comeback. Königlicher Besuch, weil Abba als wichtigstes Exportgut des Landes gelten. Im Publikum befinden sich außerdem Hipster wie Jarvis Cocker, Abba-Fangirl Kylie Minogue, Schauspielerin Keira Knightley (Ehefrau des Musical Directors der Abba-Band, Klaxons-Sänger James Righton) sowie Film-Regisseur Paul Greengrass („Die Bourne Verschwörung“), ein Auteur der Handkamera und Jumpcuts, der sich womöglich den einen oder anderen visuellen Trick beim Abba-Team abgucken möchte.
Auch Benny Andersson hat sich ins Publikum geschmuggelt, in einen der oberen Blöcke mit Panoramablick. Er formt mit dem Mund das Wort „Wow“, als er Frida bei „Fernando“ hört, streckt beim Publikumsjubel zu „S.O.S.“ den Daumen hoch, und als bei „Voulez Vous“ alle von ihren Sitzen aufspringen, springt auch er auf und feuert seinen eigenen Avatar an. Das liest sich seltsamer, als es ist. Ihm scheint die Show auch nach unzähligen Rehearsals noch zu packen. Ich habe auf seine Hände geschaut, weil ich hinter ihm saß: Beim wunderschönen Piano-Outro von „Chiquitita“ bewegte Andersson die Finger mit.
Der erste Welt-Hit von Abba hieß „Waterloo“, und die Zeile „I feel like I win when I lose“ ist zwar ganz sicher kein Credo für die vier Musiker, denn sie sind keine Verlierer, sie sind die zweitwichtigste Pop-Band aller Zeiten, nach den Beatles. Aber diese mindestens bis Mai 2023 für London gebuchte Show offenbart einige Schwächen, die sich auch vom euphorisierten Premierenpublikum nicht wegapplaudieren lassen.
Schon im Vorfeld kündigte Andersson an, dass eine Setlist von 20 Liedern nicht jeden glücklich machen kann. Der Verzicht auf „Super Trouper“ ist traurig, der Verzicht auf „Take a Chance on Me“, ihrem kompliziertesten und gleichzeitig zutraulichstem Song, unverzeihlich. Statt des Westcoast-Stücks „The Name of the Game“ spielen sie das schlechtere Westcoast-Stück „Eagle“, jedoch nicht mit Canyon-Film im Hintergrund, sondern verpflanzt in eine Fantasie-Welt (dazu gleich mehr). Abba bringen außerdem das schunkelnde „Hole in your Soul“, das nicht ohne Grund auf keiner Wunschliste steht. „When All Is Said And Done“ aus dem 1981er-Album „The Visitors“ ist wichtig für die Band-Biografie, ein Dokument der Scheidung, ein internes Highlight, sie wollen sich daran abarbeiten, aber genauso wie das an „Tomorrow Never Knows“ angelehnte „The Visitors“ erfüllt es eher eine Art Fan-Service: Ihre letzte Tournee absolvierten Abba 1979, und Stücke wie diese gab es nie live zu hören. Nun, man muss es sportlich sehen als Fan und an die Beatles denken: Würde es die Fab Four noch geben und sie ein Konzert mit 20 Songs spielen, etliches Wichtige würde fehlen. Mein Vorschlag wäre gewesen: „Abba Gold“, die Best-of aus 19 Songs, dazu zwei der neuen. Die diplomatische Lösung, keiner wäre enttäuscht.
Was macht einen guten Auftritt aus, einen, der von unermüdlichen Abba-Musikern absolviert wird, unermüdlich, weil sie aus dem Computer stammen? Zum einen, dass sie keine Fehler im Gesang oder mit den Instrumenten veranstalten, schließlich sind sie nie erschöpft. Zum anderen, dass sie 100 Minuten durchspielen. Hier leistet sich „Voyage“ doch erhebliche dramaturgische Ungereimtheiten. Bereits beim vierten Song, „Knowing Me, Knowing You“, verschwinden die Abbatare und sind stattdessen als Videoclip auf den Leinwänden zu sehen. Genau das sollte doch eigentlich nicht sein. Digitale Gestalten in Musikvideos kann man doch gern im Fernsehen sehen – digitale Gestalten, die von einer echten Spielfläche in ein digitales Musikvideo-Studio transportiert werden, ergeben jedoch keinen Sinn. Es wirkt wie eine Bühnenpause zwecks Kulissen- oder Kostümwechsel, nur dass CGI-Musiker und CGI-Bauten das eben nicht nötig haben.
Das Muster wiederholt sich. In der Hälfte des Sets gibt es eine Strecke von Songs, „Eagle“ und „Lay All Your Love On Me“, in der Abba erneut „verschwinden“, also nicht mehr auf die Bühne projiziert werden. Stattdessen wird ein Zeichentrick-Film eingespielt, den zumindest ich nicht verstanden habe. Ein Junge rennt darin durch eine „Avatar – The Last Airbender“-Dschungelwelt, auf der Suche nach einer Münze, die der „Playmobil“-Schatzinsel entnommen zu sein scheint. Am Ende landet er in einer Höhle, wo er vier Steinköpfe der vier Abba-Musiker sieht, in einem angsteinflößenden Setting wie im Tempel des Idols aus „Jäger des verlorenen Schatzes“. Ein Kurzfilm über einen Zeichentrick-Protagonisten, über den zuvor noch nie jemand aus dem Abba-Team ein Wort verloren hat, eingespielt zu „Eagle“, einem Song über ein nicht-mystizistisches Flugtier.
Danach kommt erneut ein Bildschirm-Video, diesmal mit den Abba-Tron-Figuren in Neonfarben, mit denen die Schweden seit dem „Voyage“-Album vom letzten September werben. Man stelle sich nun vor, wie es wäre, „Eagle“ und „Lay All Your Love On Me“ als Performance der Abbatare zu sehen, statt der auf den Screens gezeigten Little-Indiana-Jones-Show (unabhängig davon ist es sehr berührend, ein 42 Jahre altes Lied wie „Lay All Your Love On Me“, das Abba nie live gespielt hatten, zum ersten Mal nicht mit einem Fade-Out wie auf dem Album, sondern mit einem neu erdachten Abschluss zu hören – Björn und Benny waren für das „Voyage“-Projekt also durchaus auch für ihre alten Stücke als Komponisten tätig). Und genau das macht eben ein gutes Konzert aus: Unermüdliche Musiker, denen man nonstop bei ihrer Arbeit zusehen kann. Die Abenteuersequenz mit den kleinen Jungen erinnert an die „Inception“-Anleihe aus „Don’t Shut Me Down“, in der Agnetha singt: „I’m like a dream within a dream that’s been decoded“. Kaum hat man die digitalen Musiker als realistisch abgespeichert, gibt es also ein mäßig animiertes Adventure-Short mit einem Bub, den keiner zuordnen kann. Soll er ein Traum der Avatare sein? Muss man den Jungen und die Mythologie, in der er sich bewegt, kennen? Sollte man das dekodieren?
Die zehnköpfige Begleitband zumindest ist aus Fleisch und Blut. Björn Ulvaeus war nie ein guter Sänger, das weiß er, deshalb gibt er bei „Does Your Mother Know“ die Lead-Vocals an die drei Chor-Sängerinnen ab. Bemerkenswert, mit welchen Inhalten die vier Abba-Köpfe ihre vier individualisierten Bühnenreden bestücken. Jeder von ihnen hatte 40 Jahre Zeit, darüber nachzudenken. Björn macht den Playboy, plaudert darüber, wie er von Girls Angebote erhielt, die sich nicht gehören. Benny, musikalischer Kopf der Band und Antreiber im „Voyage“-Projekt, philosophiert über die Bedeutung der Lebensverlängerung ins digitale Ich: „Sein oder Nichtsein, das hat jetzt keine Bedeutung mehr.“ Agnetha offenbart sich nicht, bleibt in den Lebenswelten der Songs, nutzt ihre Ansage vor „Don’t Shut Me Down“ für eine unverbindliche Andeutung, dass auch sie schon oft von dem Menschen, der sie liebt, enttäuscht wurde. Frida sagt das Wichtigste – der Höhepunkt der Show hat weniger etwas mit Musik zu tun, als mit dem gesprochenen Wort: Sie wurde 1945 geboren und erzählt, wie hart es für sie und ihre Großmutter war, nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben aufzubauen; ihre Mutter starb, als sie Zwei war, ihren Vater, ein Wehrmachtssoldat (der beim Konzert unerwähnt bleibt), lernte sie erst Jahrzehnte später kennen. Das Prägendste im Leben dieser Abba-Musikerin war nicht der Ruhm, es waren ihre ersten paar Jahre. Es sind also digitale Abbilder, Abbatare, Statthalter, die die Bekenntnisse ihrer menschlichen Schöpfer artikulieren. Sie sprechen das aus, was Frida, Agnetha, Björn und Benny heute vielleicht nicht mehr in Interviews sagen würden. Die Interaktion der sprechenden Computerwesen mit dem Publikum kann womöglich noch verbessert werden. Ein erfahrener Bühnenredner setzt seine Pointe erst dann fort, wenn der Applaus abebbt. Benny und Björn reden manchmal bereits weiter, während das Publikum noch tobt.
Die Verteilung von Computerwesen (Abba) und echten Musikern auf der Bühne erscheint jedoch arg territorial. Abba stehen allein in der sehr breiten Mitte, die zehnköpfige Truppe wurde links an den Bühnenrand gequetscht. Vorbild für „Voyage“ sind die Abba-Konzerte von 1979, da waren die Begleitmusiker allerdings ganz dicht am Quartett dran, alle gingen ineinander auf. Im Jahr 2022 ist jene Art amorphes Gemenge technisch sicher (noch) nicht darstellbar, allein deshalb nicht, weil die Avatare Hologramme sind, die auf eine Leinwand projiziert werden. Da darf kein echter Mensch vor ihnen rumturnen.
Alles was geht, wird also präsentiert, alles was nicht geht, weggelassen. Gerade deshalb ist das Bühnenbild ungeschickt konstruiert. Zu den Abbataren führt eine dreistufige Bühne hinauf. Dreistufige Bühnen sind jedoch dazu da, auf ihnen auf- und abzusteigen. Stufe eins, zwei, drei. Das können die Projektionen nicht, sie verharren hinten, auf Ebene drei. Man ist aber von Musikern gewohnt, dass sie auch mal nach vorne kommen, bis hin zu ersten Publikumsreihe. Das können die nur horizontal agierenden Abbatare nicht. Kein Problem. Technik. Aber das macht „Voyage“ zu einem statischen Konzert, anders als von Benny und Björn angepriesen, die in Interviews die Dynamik lobten. Besonders deutlich wird die fehlende Publikumsnähe beim Auftritt der drei Background-Sängerinnen, die für „Does Your Mother Know“ ganz nach vorne kommen können. Interessant wäre es gewesen, beim Betrachten des Konzerts ausschließlich auf die Mimik eines der Avatare zu fokussieren, festzustellen, ob zum Beispiel Björn für einen Zeitraum von 100 Minuten ein variables Minenspiel zeigt, ob Anstrengung zu sehen ist; das können vielleicht nur die Zuschauer aus den ersten Reihen beurteilen.
Es wird Feuilleton-Debatten darüber geben, ob Konzerte dieser Art „die Zukunft“ sind, falls die Stars irgendwann mal keine Lust mehr haben – oder nicht mehr können, weil sie altern. Die Debatte sollte man ernst nehmen; viele, die mit der Rock- und Popmusik der 1960er- und 1970er-Jahre aufgewachsen sind, sind in Sorge – ihre Idole befinden sich im Herbst ihres Lebens. Tatsache ist leider auch, dass seit den Nuller-, spätestens den Zehnerjahren so gut wie keine Superstar-Bands mehr nachwachsen. Für etliche Menschen wird Zeit anbrechen, in der kein Musiker, den man wirklich liebt, mehr lebt.
Hologramm-Shows gab es bislang nur von toten Musikern, Tupac, Whitney und Ronnie (James Dio). Abba sind neben Genesis die einzige 1970er-Jahre-Megaband, die noch in Originalbesetzung auftreten könnte. Aber sie wollen es nicht, sie wollen sich im hohen Alter nicht mehr auf der Bühne sehen. Die „Voyage“-Show bietet das technisch Bestmögliche in digitaler Darstellung von musizierenden Menschen. Darin haben Abba uns nicht enttäuscht. Aber echte Menschen sehen halt noch, sehen halt immer noch besser aus.
Vielleicht haben Kiss ja doch alles richtig gemacht, ohne es zu Beginn ihrer Karriere wissen zu können. Paul Stanley sagte jüngst, sobald er und Gene Simmons tot sind, könnten andere Musiker als Kiss auftreten und die Marke lebendig halten – mit der richtigen Schminke auf den richtigen Gesichtszügen fiele keinem mehr ein Unterschied auf. Das Kiss-Make-Up-macht die Menschen darunter alterslos. Ihre Stimmen kämen als Playback, wie nun bei Abba.
Lieber gleich den Menschen austauschen, statt seine Biometrie in einen Computer einzuspeisen, auf dass der ein jüngeres, perfekteres, digitales Ich auswerfe? Eine gruselige Vorstellung.