Rike van Kleef, warum ist die Musikbranche männerdominiert?

Autorin Rike van Kleef im Interview: Wie Festivals diverser, gerechter und sicherer für alle gestaltet werden können.

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Mit ihrer Analyse zur Geschlechterrepräsentation auf deutschen Musikfestivals legt Rike van Kleef den Finger in die Wunde: Weitaus über die Hälfte der untersuchten Acts und Headliner werden demnach rein männlich besetzt. Eine Ungleichheit, die die Kulturarbeiterin, Musikjournalistin und Autorin seit Jahren beschäftigt.

Bereits 2022 veröffentlichte van Kleef die Studie „Wer gibt hier den Ton an“, eine der ersten Analysen zur Geschlechterrepräsentation auf deutschen Musikfestivals. Ende Mai dieses Jahres erschien ihr Debüt-Sachbuch „Billige Plätze. Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche“. Darin beleuchtet sie, wie Machtstrukturen in der Musikindustrie entstehen, und welche psychischen, wirtschaftlichen und kreativen Folgen diese für FLINTA*-Personen (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) haben, sowohl auf als auch hinter der Bühne.

Ein weiteres Beispiel aus ihrer Analyse: Beim Rock am Ring waren zuletzt 92 Prozent der Acts rein männlich besetzt,wie das Netzwerk „MusicSWomen“ berichetet. „Zahlen sind wichtig, aber sie erklären nicht, was es mit FLINTA*-Personen macht, wenn man sich ständig durchkämpfen muss – oder gar nicht erst gesehen wird“, erzählt van Kleef im Interview.

„Wir müssen heute mehr denn je dafür kämpfen, dass das Erreichte erhalten bleibt.“

Deine Arbeit befasst sich mit Ungleichheit in der Musikbranche. Warum hat sich trotz der deutlichen Zahlen und vieler Forderungen bisher so wenig verändert?

Weil die Musikindustrie nicht außerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse existiert. Sie ist Teil eines patriarchalen Systems, das sich über Jahrzehnte verfestigt hat. Auch wenn es 2025 anders aussieht als in den 50ern, wurden viele große Festivals und Unternehmen in einer Zeit gegründet, in der Männer den Ton angaben. Genau diese Kontinuitäten wirken bis heute: Entscheidungspositionen sind nach wie vor überwiegend männlich besetzt.

Hinzu kommt: Männliche Acts wurden historisch stärker gefördert, häufiger gesigned und sind daher sichtbarer. Viele Booker kennen schlicht kaum FLINTA*-Künstler:innen oder haben kaum Berührungspunkte. Dann heißt es schnell: „Die gibt’s nicht, die können wir nicht buchen“. Dabei wäre es genau die Aufgabe von Booker:innen, aktiv nach Vielfalt zu suchen, ihren eigenen Musikkanon zu hinterfragen und Nachwuchs gezielt zu fördern. Das kostet dann vielleicht mehr Aufwand, aber das ist auch die Aufgabe dieser Booker:innen.

Dazu muss man sagen, dass sich im Vergleich zu vor zehn Jahren viel getan hat. Die öffentliche Diskussion um Queerness und Gender ist präsenter, auch dank #MeToo. Es gibt mehr Sichtbarkeit. Gleichzeitig verhärten sich Fronten, und manche Themen werden zu Kampffeldern. Es gibt auch einen Backlash, zum Beispiel sinkt der FLINTA*-Anteil auf Bühnen wieder. Manche Männer scheinen stolz darauf, gegen Diversität zu sein. Das spiegelt den Zeitgeist wider. Wir haben Fortschritte, müssen aber heute mehr denn je dafür kämpfen, dass das Erreichte erhalten bleibt.

Die Entscheidungsträger bei Festivals sind also oft Männer. Warum heißt das, dass die Line-ups auch männerdominiert sind?

In der Soziologie spricht man vom „unconscious male bias“ – dass Männer unbewusst Männer fördern, die ihnen selber ähnlich sind. Das führt dazu, dass FLINTA*-Personen schon bei den Startbedingungen benachteiligt sind. Im Berufsalltag stoßen sie dann auf weitere Hürden: Infrastruktur, Elternaufgaben, die oft ihnen zugeschrieben werden, und vieles mehr. Das äußert sich auf vielen Ebenen, aber diese Strukturen sind der Grundstein für die Ungleichheiten.

Welche konkreten Maßnahmen können Festivals zu Safer Spaces machen?

Das hängt vom Problem ab. Für ein angenehmes und sicheres Gelände sind z.B. abschließbare Duschen, die im besten Fall vorher auf Kameras untersucht wurden, wichtig. Dann Wassertoiletten für Menstruierende, damit die ihre Hygieneprodukte anständig wechseln können. Gute Beleuchtung für alle Gelände-Wege, gerade auch die zum Campingplatz. Awareness-Teams sind hilfreich, aber nicht ausreichend. Festivals müssen in ihrer Kommunikation und Haltung klar machen, dass Respekt Pflicht ist. Wenn etwa Sexualstraftäter Headliner sind, sendet das auch dem Publikum ein falsches Signal.

Ein diverses Line-up ist ein guter Anfang, aber reicht nicht aus, um einen wirklich sicheren Raum zu schaffen. Hinter den Kulissen müssen Eltern unterstützt, Machtverhältnisse transparenter gemacht und Gagen transparent verhandelt und besprochen werden. Professionalisierung und Transparenz sind hier entscheidend.

Wie können Festival-Besucher:innen diversere Line-ups unterstützen?

Zunächst mal kann man das eigene Hörverhalten reflektieren: Welche Künstler:innen höre ich? Welche unterstütze ich durch Ticket- oder Merch-Käufe? Social Media ist heute extrem wichtig für Artists, um bekannt zu werden. Wenn du coole FLINTA*- oder diverse Artists kennst, kannst du sie Festivals vorschlagen.

Auch bei der Ticketwahl kann man bewusst Veranstaltungen unterstützen, die Diversität ernst nehmen. Oft sind solche Veranstaltungen auch einfach interessanter und bieten spannendere Line-ups. Das Primavera Sound in Barcelona hatte zum Beispiel ein spannendes Lineup. In Deutschland finde ich das MS Dockville zum Beispiel interessant, aber es gibt auch viele kleinere Festivals, die eine tolle Arbeit machen. Am Sonntag lese ich auf dem Lonesome Lake Festival in Zittau, einem kleinen, aber engagierten Festival, das Diversität und gesellschaftliche Themen auch im ländlichen Osten sichtbar macht. Gerade dort ist das besonders wichtig.

Wie war der Prozess für dich, das Buch zu schreiben?

Der Prozess war wirklich anstrengend, mental oft belastend und auch isolierend. Aber es war auch heilsam: Dinge aufzuschreiben, zu merken, dass viele Menschen ähnliche Erfahrungen machen, hat mir geholfen. Das berichten auch Leser:innen.

Mich hat vor allem überrascht, wie lange dieses Thema schon erforscht wird. Ich fand Studien aus den 90ern in den USA. Und wie vielfältig die strukturellen Probleme sind: von Beleuchtung auf Gehwegen über Hygieneinfrastruktur für menstruierende Personen bis zu Mental-Health- und Suchtproblemen.
Es ist überwältigend, aber gleichzeitig gibt es viele Lösungsansätze und Initiativen weltweit. Deutschland hinkt da etwas hinterher, aber man muss einfach aktiv werden. Das ist oft gar nicht so kompliziert, wie es scheint.

„Billige Plätze. Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche“ ist das Debüt-Sachbuch von Rike van Kleef.

„Ihr könnt euch das nicht leisten, nicht über Geld zu reden.“

Was würdest du jungen Artists und Kulturarbeiter:innen mitgeben?

Vernetzt euch! Gerade FLINTA*- und marginalisierte Personen sind keine Konkurrenz, sondern Unterstützung. Oft wird uns Frauen vermittelt, wir müssten uns gegenseitig ausstechen, das ist Quatsch. Mein Erfolg kommt auch durch Netzwerke und gegenseitigen Support. Es gibt viele Initiativen, Gruppen und Vereine, in denen man sich verbinden kann.

Redet auch offen über Geld, Tagessätze, Gagen, Gehälter. Ihr könnt euch das nicht leisten, nicht über Geld zu reden. Wenn ihr das nicht tut, profitieren andere, die euch ausbeuten. Vernetzt euch horizontal, unterstützt euch beim Verhandeln. Es gibt keine Garantie für Erfolg, aber ihr macht euch das Leben dadurch deutlich leichter.

Du hast ungleiche Bezahlung angesprochen – warum verdienen Frauen oder queere Personen oft weniger?

Die Musikbranche hat viele Freelancer:innen und Solo-Selbstständige, die ihre Gagen selbst verhandeln müssen. Dabei wird oft erwartet, dass Frauen bescheiden und zurückhaltend sind. Wird eine FLINTA*-Person selbstbewusst, wirkt das schnell unsympathisch, weil solche Eigenschaften männlich assoziiert werden. Das führt dazu, dass sie entweder schlechter verhandeln oder nicht die Gehälter bekommen, die ihnen zustehen.

Dazu kommt Intransparenz: Viele wissen gar nicht, was sie verlangen könnten. Die Branche ist insgesamt prekär und niedrig bezahlt. Oft werden FLINTA*-Künstler:innen auch eher von FLINTA*-Booker:innen vertreten, die es schwerer haben, angemessene Gagen durchzusetzen. Dazu kommt dasselbe Muster, das man aus vielen anderen Branchen kennt: Nach der Geburt eines Kindes fällt das Einkommen häufig, und bei Künstler:innen kommt noch der Gender-Show-Gap-Effekt hinzu. Wer weniger Auftritte hat, verdient weniger.

Spielt Diversität auf Festivals darüber hinaus noch einen Faktor?

Auf jeden Fall! Auch wirtschaftlich lohnt sich Diversität. Studien zeigen, dass diverse Teams weniger Fluktuation haben, besser zusammenarbeiten und kreative Lösungen finden. Das steigert die Leistung und Attraktivität eines Festivals. Die Initiative „KeyChange“ hat ermittelt, dass immer mehr Menschen Tickets nur kaufen, wenn das Programm divers genug ist und sie sich repräsentiert fühlen.

Diversität ist also auch ein Erfolgsmesser. Ich finde zwar nicht, dass es das ausschlaggebende Kriterium ist, da wir uns als Gesellschaft (auch juristisch betrachtet) darauf geeinigt haben, dass wir in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben wollen. Und das ist einfach noch nicht der Fall.

Wie gehst du in deiner Arbeit mit Leuten um, die sich beim Thema Gleichberechtigung nicht direkt abgeholt fühlen?

Ich versuche, Menschen da abzuholen, wo sie sind, mit dem Verständnis dafür, dass nicht alle denselben Wissensstand haben. Ich habe oft erlebt, dass viele Cis-Männer offen sind, sich aber überfordert fühlen oder nicht wissen, wie sie sich einbringen können. Deshalb möchte ich noch einmal betonen, dass meine Arbeit nicht angreifen, sondern motivieren und handlungsfähig machen soll, Teil des Prozesses zu sein. Es geht nicht gegen Männer. Ich glaube, dass auch sie von den Veränderungen profitieren.

Gleichzeitig erwarte ich von Männern Geduld und Empathie, denn FLINTA*-Personen erleben täglich Mikroaggressionen, die verletzen. Wir brauchen das Verständnis, dass Frauen manchmal auch einfach am Ende ihrer Zündschnur sind. Im Zweifelsfall war der Hass-Kommentar der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Denn davor lagen oft schon viele unsichtbare Situationen, die sich summieren, und die Cis-Männer häufig gar nicht wahrnehmen. Darum: Hört zu. Nehmt andere Perspektiven ernst. Und macht euch nicht über Themen lustig, nur weil ihr sie nicht unmittelbar nachempfinden könnt.

Rike van Kleef und ihre Erfahrungen in der Musikbranche

Ihre beruflichen Wurzeln hat Rike van Kleef in der Musikbranche, wo sie unter anderem als Tourmanagerin gearbeitet hat. Dabei machte sie früh Erfahrungen mit Sexismus und strukturellen Ungleichheiten, die insbesondere FLINTA*-Personen betreffen. Aus dem Bedürfnis nach Austausch und Veränderung heraus gründete sie 2019 gemeinsam mit anderen Frauen den Verein fæmm, eine Plattform für Weiterbildung, Empowerment und Vernetzung von Flinta-Personen in der Musik- und Veranstaltungsbranche. Ihr Ziel ist es, Empowerment und strukturelle Veränderung zu ermöglichen: „Wir wollen nicht ausschließen, sondern einladen, auch Männer, gemeinsam an mehr Geschlechtergerechtigkeit zu arbeiten“, so van Kleef.

Bastian Bochinski