RS-History

„New Adventures in Hi-Fi“ von R.E.M.: Road-Songs über Angst und Tod

Kühle Gitarren-Stürme und Texte über Selbstzweifel und Abschied: Das vor allem auf Tour entstandene „New Adventures in Hi-Fi“ gehört immer noch zu den meistunterschätzten Alben im Werk der großen amerikanischen Band.

„20th century, go to sleep/Really deep/We won’t blink/Your eyes are burnin‘ holes through me/I’m not scared/I’m outta here/I’m not scared/I’m outta here“, singt Michael Stipe in „Electrolite“, dem zärtlich-schönen Abschluss-Song auf „New Adventures in Hi-Fi“, und macht Platz für eine ganz und gar eigentümliche Stille, die ein wenig an die ersten Sonnenstrahlen nach einer finsteren, mondlosen Nacht erinnert.

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Nachdem R.E.M. mit „Out Of Time“ und „Automatic For The People“ verzichtet hatten, ihre neuen, intimeren Lieder vor Publikum auszutesten, kehrte die Band im Gleichzug mit der wesentlich ruppigeren Platte „Monster“ (1994) im Jahr 1995 zurück auf die Bühnen. Es sollte eine ihrer größten und erfolgreichsten Tourneen werden, die von vielen Seiten gefeiert wurde.

Zugleich brachten die Live-Shows aber auch ernsthafte Probleme mit sich, gleich mehrere Mitglieder erkrankten. Am 01. März 1995 brach Drummer Bill Berry während eines Konzerts in Lausanne mit Schmerzen zusammen – später stellte sich heraus, dass  in seinem Gehirn ein Aneurysma ein Blutgefäß zum Platzen gebracht hatte. Berry musste sofort operiert werden. Ein Moment, der die Band – wie sich später herausstellen sollte – für immer veränderte.

Bittersüße Melancholie

In dieser turbulenten Zeit, die R.E.M. nur Monate später vor die Zerreißprobe stellten, einen neuen Produzenten und einen neuen Manager und zudem noch einen für damalige Verhältnisse geradezu obszönen Vertrag mit ihrem Plattenlabel Warner einbrachten (80 Millionen Dollar für fünf weitere Alben, damals der höchstdotierte Vertrag der Musikgeschichte), verzichteten die Musiker auf die gewohnten Zweifel, im Studio monatelang nach Inspiration zu suchen, und veröffentlichten mit „New Adventures in Hi-Fi“ knapp zwei Jahre nach „Monster“ aus dem Bauch heraus eine weitere Platte. Sie war geprägt von düsteren, nachdenklichen Lyrics, von einer bittersüßen Melancholie des nimmermüden Aufbrechens und vorangepeitschten Rock-Songs, die ihren Live-Charakter geradezu offensiv herausstellten.

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„New Adventures in Hi-Fi“, dessen Titel  die Technik-Fixierung vieler 50er-Jahre-Aufnahmen veralbert, setzte allerdings auch den Umschwung in Gang für eine langsame, aber stetige Entfremdung zwischen der Band und dem großen Publikum, das R.E.M. seit den frühen 80ern hinter sich scharen konnte. Auch wenn kommende Platten sehr gut bis großartig gerieten, verkauften sie von Mal zu Mal kontinuierlich weniger Einheiten. Möglicherweise symbolisiert kein anderes Album der Gruppe ähnlich wie „New Adventures in Hi-Fi“, warum dies mit einigen kräftigen Missverständnissen zu tun hat.

Niedergeschlagene Selbstbeobachtung

Brütend, traurig, geradezu verschlossen beginnt Stipe zu einer Spaghetti-Western-Melodie in „How The West Was Won And Where It Got Us“ zu murmeln: „The story is a sad one told many times“. Nein, die subtile Verneigung vor Thelonius Monk ist kein Kommentar zu Amerika (das die Band mit dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton wohl in ruhigeren politischen Fahrgewässern wähnte), sondern eine niedergeschlagene Selbstbeobachtung. Eigentlich handelt es sich gar nicht um einen Opener, sondern eher um eine schüchterne Einzugsfanfare.

Wütend übernimmt „The Wake-Up Bomb“. Das Lied macht sofort deutlich, dass es „on the road“ aufgezeichnet worden ist, von Koproduzent Scott Litt allerdings so formidabel bearbeitet, dass es trotzdem wie eine Studioaufnahme klingt. Wie schon auf „Monster“ denkt Stipe über den zweifelhaften Wert des künstlerischen Ruhms nach („I had to write the great American novel“) und fantasiert belustigt von Glamrock-Göttern („Get drunk and sing along to Queen/Practice my T-Rex moves and make the scene“). Wohl kaum einer anderen Band als R.E.M. wäre eingefallen, das irrsinnige, exzentrische Teil bei einer Preisverleihung live zu spielen, ohne dass es je ein Mensch außerhalb eines Konzertsaals gehört hat, doch genau das tat die Gruppe aus Athens bei den MTV Video Music Awards 1995.

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Traurige Posse, bezwingende Bilder

„New Adventures in Hi-Fi“ war die logische Weiterführung von „Monster“, genauso krachend-laut, bei aller Nachdenklichkeit musikalisch selbstbewusst und mit einer stilistischen Offenheit, die sich R.E.M. in den Jahren darauf selbst versagten. Aus vielen Gründen waren die Tracks auf dem Album noch weitaus bedrückender als jene Moritate auf „Automatic For The People“, vielleicht auch weil das Nachdenken über Tod und Angst diesmal ganz ohne elysische Dimension daherkam.

Mit „New Test Leper“ ist der trotz der überdimensionalen Singles „E-Bow The Letter“ und „Electrolite“ herausragende Track des nach wie vor völlig unterschätzten Albums gleich an dritter Stelle platziert. Zu hören ist von den Qualen eines Studiogastes in einer Talkshow, der von Zweifeln an seinen Glauben an Jesus Christus berichtet und dafür von allen Seiten Spott erntet. Sagen darf das desillusionierte lyrische Ich nicht viel, denn: „When I tried to tell my story/They cut me off to take a break“. Es kommen Werbeclips und der Rest der Show wird zur traurigen Posse über – nichts. Selten gelang es dem Poeten Stipe in seinen Songs, mit derart einfachen Worten und einem solch bezwingenden Bild seine Zweifel und seine Verbitterung in Worte zu fassen.

REM Live In NetherlandsWer genau hinhörte, erkannte schon bei vielen früheren Songs, wie sich Michael Stipe mit religiösen Metaphern herumschlug (die müßige Debatte um „Losing My Religion“, das ja schon mit dem Unverständnis des Titels begann, einmal ausgenommen). Auf „New Adventures in Hi-Fi“ erreichte diese Kontemplation wohl ihren Höhepunkt – gerade in „Undertow“, das unverhohlen Glaubensgrundsätze in Frage stellt. Der mit Ethno-Drums unterlegte Track schließt an die düstere Suizid-Meditation von „Try Not To Breath“ an und ruft noch einmal in Erinnerung, dass R.E.M. mehr als einen Wasser-Song in ihrem Katalog haben. Die mäandernden Gitarrenströme, die geradezu einen hypnotischen Sog entwickeln, unterstützen depressive Textzeilen wie „You know I am tired/Cold and bony tired“. Für Stipe ist der Himmel kein sterbenslangweiliger Ort wie für David Byrne, sondern eine karge Winterlandschaft.

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Mit dem ambitionierten „E-Bow The Letter“, das laut Stipe der Wahrheit wie kein anderer Song auf dem Album am nächsten kommen soll, und dem irritierenden, sieben Minuten langen „Leave“ schließen R.E.M. wohl die stärkste A-Seite ihrer Karriere ab, da können selbst „Document“ und das überlebensgroße „Automatic For The People“ nicht mithalten. Vor allem „Leave“ mit seinem von Public Enemy gestohlenen Polizei-Sirenen-Beat gehört zu dem Mutigsten, das die Musiker bis dahin geschrieben hatten. Stipe singt in dem Stück mit einer außergewöhnlichen Klarheit, auch wenn er später bekannte, mit seiner Stimme gerade auf diesem Track nicht zufrieden gewesen zu sein. Auf der Bonus-Scheibe zur Retrospektive „In Time: The Best of R.E.M. 1988–2003“ wurde wohl auch deshalb eine berückende Akustik-Fassung des Songs nachgereicht.

Aluminium tastes like fear

„Dass Patti Smith auf einem Song sang, an dem ich mitgeschrieben hatte, konnte ich fast nicht glauben“, sagte der bekennende Verehrer Stipe, als es zur Kooperation mit der Sängerin für „E-Bow The Letter“ kam. Das genauso wie „Country Feedback“ textlich improvisierte Auskotz-Lied ist die schwermütige Essenz aller R.E.M.-Stücke, vielmals gebrochen, von einer elektrischen Sitar angetrieben und von Mills an einem Mellotron unterstützt. Ein Klagegesang, dessen beunruhigende Textzeile „Aluminium tastes like fear“ mit schwarzer Farbe an Häuserwände gemalt werden müsste. Natürlich war es eine Fehlentscheidung, dass „E-Bow The Letter“ als erste Single ausgekoppelt wurde, gerade weil es sich hier gar nicht um eine traditionelle Single handelt, doch diese Band dachte eben immer ans große Ganzen und nicht einen Moment kleinteilig.

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„Departure“ und „Bittersweet Me“, beide während Soundchecks auf „Monster“-Tour entstanden, mögen gegenüber diesen Klangexperimenten doch etwas konventioneller daherkommen. Ersterer ist ein Road-Song reinsten Wassers, der vielleicht etwas humorlos und mit für Stipe typischem Ecriture-Automatique-Textfluss die Reisebewegung der auf Tour befindlichen Rocktruppe abhakt („Just arrived Singapore, San Sebastian, Spain, 26-hour trip/Salt Lake City, come in spring over the salt flats“). „Bittersweet Me“ setzt hingegen die Reihe von R.E.M.-Songs fort, die von enttäuschter Liebe handeln. Interessant ist wohl, dass es das erste Stück ist, das Buck schrieb, nachdem Berry nach seiner schweren Operation zurück bei der Band war.

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Komplexer mutet da schon „Be Mine“ an, das vom Titel her klingt, als hätte es auch eine Power-Ballade werden können. Ein unheimlicher Love-Song, entwickelt von Mike Mills und textlich laut Stipe angeregt von Valentinspostkarten. Klischees sucht man hier allerdings vergebens (wenn den Texter Stipe etwas wirklich antrieb, dann war es stets die Zersplitterung von Stereotypen), stattdessen wirkt hier alles etwas zersprungen und vielleicht auch unfreiwillig komisch („I want to be your Easter bunny/I want to be your Christmas tree“). Das Lachen vergeht einem aber mit der kompromisslosen Sado-Maso-Erzählung „Binky The Doormat“, in dem es um einen Typen geht, der so etwas wie eine lebendige Fußmatte ist. Für Stipe hat das Stück den wohl schlechtesten Titel aller Zeiten – entnommen ist er übrigens dem Film „Clowns – Ihr Lachen bringt den Tod“ von Bob Goldwaith. Der Streifen ist allerdings wesentlich lausiger als R.E.M.s fieser Rock-Hammer.

I’m outta here

„Zither“ gehört zu jenen Instrumental-Spielereien wie „New Orleans Instrumental No.1“, in denen man sich als Hörer verträumt verlieren  oder sie als redundante Spinnerei abtun kann. Aufgenommen wurde das Stück  bei einem Konzert auf einer Toilette, was man für einen guten oder schlechten Witz halten kann. Es fungiert ein wenig wie eine Atempause um Platz zu machen für die letzten drei kraftvollen Songs, mit denen R.E.M. diese vor nicht immer ganz zu Ende gedachten Ideen platzende Aufnahme zurück auf einen begehbaren Pfad holen wollten.

R.E.M. live in Milton Keynes 1995
R.E.M. live in Milton Keynes 1995

„So Fast, So Numb“, mit wunderschöner Tempoverschleppung und erstklassigem Schlagzeugeinsatz, spielt mit Rock-’n-Roll-Klischees und gemahnt nach „Let Me In“ einmal mehr an die fatale Drogensucht von gefallenen Helden wie Kurt Cobain und River Phoenix. Live entwickelte der Track stets eine ganz eigene Magie. Das etwas trockene, straffe „Low Desert“ hingegen erinnert daran, dass es R.E.M. eben immer auch darum ging, das Amerika in dem sie lebten, musikalisch so intensiv wie möglich zu vertonen, es sogar bis ins letzte Sumpfloch zu verorten.


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Nach all diesen traurigen, ernsten, von persönlichen Problemen geprägten Dramen, die wie bei allen großen Alben jede Verästelung des Lebens umkreisen, gelingt R.E.M. mit „Electrolite“ erneut ein trostvolles Wiegenlied, das wie ein Geist über dem Mulholland Drive schwebt, mit Banjo, Geige und Klavier am Rockzipfel von „Nightswimming“ und vor allem „Find The River“ hängt und mit den Worten „I’m outta here“ das Ende eines Albtraums beschwört. Es gibt viele kleine und große Millenium-Songs („End Of The Century“ von Blur, „Disco 2000“ von Pulp), aber natürlich hat diese Band den subtilsten und schönsten.

Michel Linssen Redferns
Brian Rasic Getty Images

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