Rolling Stone goes Fußball: Jürgen Klinsmann im Interview
Ein Gespräch mit RTL-WM-Experte und Sommermärchen-Trainer Jürgen Klinsmann
Dem ein oder anderen dürfte es schon am Kiosk aufgefallen sein: Unser Musik- und Kulturmagazin hat sich in der aktuellen Ausgabe aus dem bekannten Anlass auch der Ballkultur angenommen. Hans Hoff sprach für uns mit Jürgen Klinsmann über seine Rolle als WM-Experte bei RTL, über Fantum, seinen kritischen Blick auf Sportreporter und über die Parallelen zwischen Musik- und Fußballspiel.
RTL kündigte für die Fußball-WM Günther Jauch, Jürgen Klopp, Florian König und Jürgen Klinsmann als Berichterstatter an. Jauch, Klopp, König und Klinsmann, das könnten auch die Namen einer Jazz-Boygroup sein.
Klinsmann: Ich weiß nicht, wie musikverrückt die anderen sind. Aber ich würde in der Band gerne Schlagzeug spielen. Ich wollte das immer gerne machen, habe mir aber dummerweise nie die Zeit genommen, ein Instrument richtig gut zu lernen. Ich habe es nie angefangen.
Sie wären gerne der, der im Hintergrund den Rhythmus angibt?
Klinsmann: Ja, und ich setze den Rhythmus dann immer schneller.
Wenn Sie diese Viererkette auf ein Fußballfeld stellen müssten, wer spielte da wo?
Klinsmann: Auch wenn das Schlagzeug eine Background-Rolle wäre, würde ich nach wie vor im Sturm bleiben. Ich würde den Günther Jauch als Mittelfeldmotor einsetzen, den Kloppo als Abwehrchef, und der Florian König müsste dann das Tor übernehmen.
Sie waren 2002 schon mal als WM-Experte beim ZDF aktiv. Was hat sich seitdem geändert?
Klinsmann: Das Spiel ist noch schneller geworden, und in der Berichterstattung sind die Tools, die man zur Hilfe nimmt, andere geworden sind. Ich betrachte allein durch die Trainer-Erfahrung, die ich inzwischen sammeln durfte, die Spiele aus einem ganz anderen Blickwinkel. Ich lese ein Spiel inzwischen ganz anders als vor acht Jahren. Durch die neuen Medien hat zudem die Dynamik eines Events wie der Fußball-Weltmeisterschaft eine ganz andere Dimension erreicht.
Wie vermeidet man als Experte, dass man zum Besserwisser wird?
Klinsmann: Im Fußball hat ohnehin jeder seine eigenen Eindrücke, und diese Eindrücke zu beschreiben, hat eigentlich nichts mit Besserwisserei zu tun. Wenn ich meine Gedanken zu einem Spiel rüberbringe, dann ist das so, wie ich es gerade gesehen habe, wohlwissend, dass 70 000 im Stadion das auch anders gesehen haben können. Das ist ja so faszinierend. Man kann so schön debattieren und auch kontrovers diskutieren, weil jeder seine eigenen Bilder vor sich flimmern sieht. Besserwisserei gibt es da nicht. Es gibt nicht nur die eine Wahrheit im Fußball. Das bringt ja gar niemand weiter. Alles, was an einem Spieltag nicht funktioniert, hat ja Gründe, und es ist viel faszinierender, diese Gründe zu suchen.
Im Zweifel hat der Fan im Stadion genau so recht wie Sie?
Klinsmann: Ja, absolut. Das ist Fußball. Wer ein Spiel im Stadion oder Bildschirm gesehen hat, der hat seine eigenen Eindrücke. Der braucht nicht mehr am nächsten Tag die Zeitung zu lesen und sich von einem Journalisten erzählen lassen, wie das Spiel war. Er weiß es ja selbst. Diejenigen, die zu einem Spiel gehen, wundern sich oft, welche Berichte am nächsten Tag in der Zeitung stehen. Trotzdem muss der Journalist seine Meinung rübergeben. Aber es ist nur eine von 70 000 Meinungen.
Hat sich Ihre Einstellung gegenüber Reportern und Kommentatoren bei der Vorbereitung für die WM verändert?
Klinsmann: Nein, weil ich ja weiß, dass ein Kommentator auch nur seine persönlichen Eindrücke schildert. Das Wichtigste ist doch, dass man jede Meinung akzeptieren muss. Jeder soll sein Spiel so lesen, wie er das lesen will.
Welche Kollegen schätzen Sie denn besonders?
Klinsmann: Ich freue mich sehr auf die Arbeit mit Florian König, weil ich aus vielen Gesprächen weiß, dass er absolut Ahnung hat vom Fußball. Er weiß, worüber er redet, er hat ja in der Jugend auch bei den Stuttgarter Kickers gespielt – wie ich. Auch Günther Jauch hat so eine Blickrichtung. Es gibt auch sonst noch genügend hervorragende Kommentatoren, die wirklich wissen, wie solche Turniere ablaufen und welche Dynamik solche Dinge bekommen. Aber da jetzt welche herauszustellen, ist schwierig.
Wie sinnvoll ist es, Spieler direkt nach einem Spiel zu befragen?
Klinsmann: Ich glaube, dass es da viele brenzlige Momente gibt, die die Respektsgrenze in Frage stellen. Wer im Hochleistungssport gelebt hat, weiß, dass jeder Sportler direkt nach dem Wettkampf erst einmal Zeit braucht, um sich zu sammeln. Ob das ein Skiläufer nach seiner Abfahrt, ein Fußballer nach dem Spiel oder ein Musiker nach seiner Performance ist. Der muss sich erst mal hinsetzen, etwas trinken, sich erst einmal runter bringen. Wenn man ihm in dem Moment ein Mikrofon unter die Nase hält, kommt es zu Situationen, wo es richtig Konflikte gibt. Das finde ich sehr schade, weil es nicht analytisch ist. Da ist das Provozieren auf den reinen Verkauf ausgerichtet.
Wie viel Show steckt denn im Fußball?
Klinsmann: In dem Moment, in dem du Fußball spielst, ist es keine Show. Das ist wie ein Musiker, der sich treiben lässt und instinktiv Dinge macht, die ihn so großartig machen. Wenn ein Spiel läuft, läuft es. Das hat dann nichts mehr mit einer Show zu tun. Da hast du die Motivation und die sagt: Ich will das Spiel gewinnen und ich will in meinem Spiel aufgehen und Spaß haben. Wenn das Spiel vorbei ist, oder vor einem Spiel, da sind in den letzten Jahren viele Elemente hinzugekommen, die aus dem Fußball ein Spektakel machen, eine Show, ein Event.
Sind sich die Spieler dessen auch auf dem Platz bewusst?
Klinsmann: Ich kann nur von mir sprechen. Wenn das Spiel losging, hat mich das alles nicht mehr interessiert. Da war keine Show mehr da.
Man hat ihnen aber mal theatralische Fähigkeiten attestiert.
Klinsmann: Das war in England. Die waren noch sauer wegen einer Szene im WM-Halbfinale 1990…
Das sehen Sie nicht so.
Klinsmann: Nein. Ich habe das ohnehin erst viel später realisiert. Und ich konnte ja in der Zwischenzeit auch die Engländer davon überzeugen, dass ich kein überaus theatralischer Spieler war. Aber jeder, der auf dem Platz steht, ist so sehr damit beschäftigt, seinen Job zu machen, dass er nicht mehr überlegt, ob da draußen jetzt zwei Milliarden zuschauen oder 70.000 im Stadion. Das ist wie in der Musik. Jeder will seinen Part spielen.
Kann ein gutes Fußballspiel wie Musik sein?
Klinsmann: Ich kann es mir vorstellen. Wenn ein Musiker auf der Bühne steht, hat er vielleicht einen klaren Plan, aber er kann nicht wirklich vorausschauen. Es läuft in einem Rhythmus, den er jetzt in diesem Moment erlebt. Er erlebt das nicht in Gedanken in einer oder in zwei Stunden, er erlebt das jetzt, wenn er das erste Stück beginnt. Es geht darum, etwas rüberzubringen. Das finde ich das Faszinierende an tollen Musikern. Ich war auf vielen, vielen Konzerten und habe immer gemocht, wenn die Musiker mir das Gefühl geben, dass sie den Moment leben. Ich war mal bei Marius Müller-Westernhagen in München. Das war ein Konzert, da hat es geregnet ohne Ende. Da waren im Olympiastadion die Zuschauer vollkommen durchnässt. In der Pause stand dann wirklich die Frage im Raum: Abbruch oder nicht. Das war Wahnsinn. Da bin ich in seine Kabine, und er hat mich gefragt: „Jürgen, was machen wir denn jetzt? Es gibt Riesenprobleme mit der Elektronik.“ Da habe ich gesagt: „Wenn es irgendwie machbar wäre, würde ich schon weiterspielen. Wir sind so nass, wir können nicht nasser werden.“ Und dann sind die raus und haben weitergespielt, und das war so was von emotional, auch für die Fans. Und da habe ich Marius angesehen, dass er den Moment jetzt lebt, er ist eins mit den Leuten.
Kann man Rockstars und Fußballer vergleichen?
Klinsmann: Bei Spielern, die in der Nationalmannschaft spielen, gibt es sicherlich ähnliche Problemfelder, dass du von der Öffentlichkeit nur mit dem Außenbild wahrgenommen wirst und nicht als Person. Das Produkt ist halt ganz anders. Aber es ist immer spannend, wenn Musiker beschreiben, wie sie zu ihrer Top-Performance gekommen sind.
Die meisten wissen es doch eher nicht.
Klinsmann: Weil es intuitiv geschieht, weil es von innen heraus kommt.
Sie begeben sich im Fernsehen in ein Spannungsfeld. Für die Spieler reicht vielleicht ein langweiliges 1:0. Fürs Fernsehen muss große Emotion her. Was ist wichtiger?
Klinsmann: Die Wahrheit zu sagen. Wenn ein Spiel langweilig ist, muss man es halt sagen. Aber bei so einer WM gibt es für die Länder, die mitspielen, keine Langeweile. In den beteiligten Ländern ist es trotzdem elektrisierend.
Aber es ist schon schön für Fernsehen, wenn ab und zu mal einer in die Tonne tritt.
Klinsmann: Ich weiß nicht, ob das gut ist für die Quote. Sport und Musik haben eben mit Emotion zu tun. Da finden wir Menschen uns wieder. Jeder mit seinen Werten, die er selbst definiert.
Können Sie sich noch an Ihren ersten Fernsehfußball erinnern?
Klinsmann: Ich war als Kind fast nur draußen und habe gebolzt. Das hat erst eine Rolle gespielt, als ich anfing, Profi zu werden.
War Radio wichtiger?
Klinsmann: Nein, für mich waren Schallplatten wichtiger. Yes, Genesis. Eine meiner ersten Platten war von den Beach Boys. Da konnte ich alles auswendig.
2006 war ein Sommermärchen. In Südafrika ist es unserem Sommer kalt. Was muss passieren, damit es ein Wintermärchen wird?
Klinsmann: Es kann sowohl in Deutschland als auch in Südafrika ein Sommermärchen geben. Jeder in Deutschland möchte natürlich, dass die deutsche Mannschaft weit kommt. Es wird aber auch eine riesige Momentaufnahme für Afrika. Das wird eine Demonstration des afrikanischen Kontinents. Ich bin sehr gespannt, wie dieser Kontinent die WM aufnimmt, wie die afrikanischen Mannschaften spielen. Die haben es noch nie geschafft, und ich stelle mir die Frage: Ist der Moment gekommen für eine afrikanische Mannschaft, es mindestens ins Halbfinale zu schaffen. Das sind die Träume, aus denen dieses Sommermärchen gemacht ist.