Rote Schlabberbibel. Ein unentbehrlicher Wegweiser in finsteren Zeiten – WM-Blog, Folge 3
"Kicker"-Sonderheft: Man bedenke, dass es sowohl von den analphabeten Halbdebilen aus irgendeiner Nordkurve, als auch von besserwisserischen ROLLING-STONE-Autoren gekauft wird. Eine große Spannbreite, die da abgedeckt werden muss.
Der Filmjournalist, Kritiker und ROLLING-STONE-Autor Rüdiger Suchsland schreibt hier über die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien.
Rote Schlabberbibel: Ein unentbehrlicher Wegweiser in finsteren Zeiten – WM-Blog, Folge 3
Früher war alles besser, und heute ist alles anders. Jedenfalls im Fußball. Und ganz genau gesagt, nur fast alles. Denn eine einzige, wirkliche letzte und funkelndste Perle aus den guten alten bundesdeutschen Fußballzeiten der Nation, als die Kicker noch Terrier, Bomber und Kaiser hießen und Titel holten statt Komplimente nach dem Halbfinalaus, hat Bestand, und erstrahlt auch 2014 schöner und dicker den je: Das rituelle, immerzu mit wachsender Ungeduld erwartete „Kicker Sonderheft“ zur Fußball-WM. Diese rote Schlabberbibel des wahren Fußballfans gehört seit Jahr und Tag – auch als jährliches Sonderheft zum Bundesliga-Saison-Auftakt im August – zur unvermeidlichen Ausstattung aller wahren Fans. Üblicherweise liegt sie am Fernsehtisch immer direkt unter der TV-Zeitung, mitunter schmückt die Arbeitsplatte im Hobbykeller ein Zweitexemplar. Jeder weiß: nur wo „Kicker“ draufsteht, ist auch „Kicker“ drin.
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Die Ausstattung ist auch diesmal in jeder Hinsicht von klassisch-zeitlosem Format. Keine beigefügte DVD zollt aktuellen Moden Tribut, nicht bunte Bilder dominieren, sondern seitenlange tiefgründige Analysen, die kaum eine Frage offenlassen. Im Umschlag findet sich der ausklappbare Spielplan, täglich kann man hier Tabellenstände aktualisieren, und die Lage der Nationen analysieren.
Fakten, Fakten, Fakten sind in jeder Hinsicht Trumpf. Die Seiten zu einzelnen Teams lassen kein wichtiges Detail aus. So erfahren wir zum Beispiel, dass der bisher nicht weiter aufgefallene (21 Spiele, 0 Tore) kolumbianische Abwehrspieler Gabriel Achiller am 24.3.85 geboren wurde, 1.80m lang ist, und bei EMELEC Guayaquil kickt. Wer weiß, wozu dies Wissen noch gut sein mag?
Diese Kombination macht aus dem Sonderheft eine Art Fahrplan für Fußballinteressierte. „Und immer an die Leser denken“ – diese Weisheit guten Journalismus‘ zu befolgen ist für die Redaktion gar nicht so einfach. Man bedenke, dass das Heft sowohl von den analphabeten Halbdebilen aus irgendeiner Nordkurve, als auch von volldebilen SAT-1 Journalisten und natürlich von besserwisserischen ROLLING-STONE-Autoren gekauft wird. Eine große Spannbreite, die da abgedeckt werden muss. Doch auch das neueste Heft meistert seine schwierige Aufgabe souverän. Statistik pur, die allein schon den Kaufpreis von 5 Euro wert ist:
Wer es bis dahin noch nicht wusste, weiß spätestens jetzt, dass Lukas Podolski der zweiterfahrenste aktive deutsche Feldspieler ist, Miroslav Klose nach menschlichem Ermessen in diesem Jahr die meisten Tore geschossen haben wird, und dass der belgische Ersatztorhüter noch kein Länderspiel gemacht hat.
Die Grundhaltung der Macher ist die aller wahren Fans: unkritisch-positivistisch präsentiert man Statistiken, ohne über Ursachen zu räsonieren. Die scheinen auch dort nur zwischen den Zeilen auf, wenn Möchtegern-Capitano Philip Lahm über deutschen Fußball plaudert. Hoch anzurechnen ist dem „Kicker“ der Mut zur Prognose. Erfahrungsgemäß spiegelt sich hier zwar eher die abgelaufene Saison, als die WM. Doch: Spanien wird Welt-Meister, oder Brasilien lautet das Urteil, gefolgt von Italien, Argentinien, Belgien und Deutschland.
Interessanter sind die genauen Analysen: detailliert begründet erfahren wir zum Beispiel, warum Portugal nicht mehr lange Nummer vier in der FIFA-Weltrangliste bleibt.
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Erst ganz am Ende erst rückt man von solch kontrollierter Sachlichkeit ab: „Wo ist Lasogga“, kasperlt Atze Schröder wie sonst nur Olli Kahn als ZDF-Experte. Das ist offenbar als humoriger Ausklang gedacht, und erinnert uns doch nur unsanft an die Lesergruppe, mit der man es hier in großer Mehrheit zu tun hat: Hunderttausende Stammtisch-Trainer bekommen hier noch etwas zum Schmunzeln. Am hohen Wert und einzigartigen Preis-Leistungsverhältnis des „Kicker“-Sonderhefts ändert das natürlich nichts: Ein einzigartiger, unentbehrlicher Wegweiser in finsterer Zeit.
