Sind wir durchgeknallt?

Der heilige Karl-Theodor und die Deutschen. Für den Rolling Stone analysieren die Bestsellerautoren Eckart Lohse und Markus Wehner die Lehren aus der Guttenberg-Saga.

Es ist nur ein Häuflein Aufrechter. Während sich die Spaßguerilla in einer Spottdemo über den zurückgetretenen Verteidigungsminister ergötzt und Plakate wie „KT – Du hast die Haare schön“ oder „Karl, mach mir einen Doktor“ in die Höhe hält, stehen drei echte Guttenberg-Jünger verloren am Rand des Pariser Platzes vor dem Brandenburger Tor. Sie fühlen sich als die schweigende Mehrheit der Deutschen. „Hier hat das Bürgertum keine Chance“, sagt einer, der ein KT-T-Shirt trägt. Dass ausgerechnet Guttenberg gerade nicht für das Bürgertum steht, sondern für den Versuch des machtlos gewordenen Adels, verloren gegangene Privilegien noch einmal einzufordern, etwa indem man eine Doktorarbeit nicht nach bildungsbürgerlicher Methode mit Fleiß und Wissen erarbeitet, sondern schlicht kopiert, das wird übersehen. Auch dass seine Wundertaten sich als Wundertüten entpuppt haben, wollen die Fans nicht wahrhaben. Damals, bei der Sache mit Opel, habe er sich mutig gegen alle anderen gestellt: „Er hat uns Steuerzahlern damit Milliarden gespart“, sagt einer der drei. Dass Guttenberg sich mit seinem Vorschlag einer Opel-Insolvenz gar nicht durchgesetzt hatte und deswegen auch nichts gespart hat, das haben sie längst vergessen, wenn sie es je gewusst haben.

Fanatisch wirken die drei Männer am Brandenburger Tor nicht, es sind normale Mittvierziger, keine Intellektuellen, aber auch keine Dumpfbacken. Sie könnten wirklich die Mehrheit sein, jedenfalls ein Teil von ihr. Und sie geben zu, dass das mit dem Fälschen der Doktorarbeit nicht richtig war. Dass Guttenberg betrogen und dann gelogen hat, das sehen drei Viertel – wieso eigentlich nur drei Viertel? – der Deutschen so. Aber genauso viele sind, darf man Umfragen glauben, wie unsere drei Jünger immer noch der Meinung, er sei der beste Politiker Deutschlands.

Die Frage, die nach all dem Hype um Guttenberg noch immer nicht beantwortet ist, lautet: Was ist eigentlich mit uns Deutschen in den letzten zwei Jahren geschehen? Wieso verehren viele einen Politiker, der gerade mal zwei Jahre Minister war, wie einen Heiligen und das fast vom ersten Tag an? Wie konnte es so weit kommen, dass ein sächsischer Gastwirt sogar einen K.-Th.-zu-Guttenberg-Wanderweg eröffnet? Sind wir eigentlich durchgeknallt?

Das Gift der Beliebtheit

Die Beliebtheit im Volk – das war Guttenbergs große Kraft. In der politischen Klasse hatte es von Anfang an Unmut über ihn gegeben, weil er sich rücksichtslos benahm gegenüber dem Rest des Kabinetts einschließlich der Kanzlerin, gegenüber seiner Partei nebst deren Vorsitzendem, gegenüber Beschlüssen und Grundsätzen der Unionsfamilie, etwa als er die Wehrpflicht ohne jede Absprache in den Mülleimer der Geschichte schmiss. Guttenberg nervte mit seinen Eskapaden, seinen Medien-Inszenierungen. Das war nicht nur Neid auf einen Beliebten. Das war auch Ärger über einen, der sich stets auf Kosten der anderen profilierte, sich als Anti-Politiker darstellte, als einer, der ganz anders sei als die anderen, eben geradlinig, ehrlich und klar. Das war Guttenberg zwar nicht, aber ganz anders war er schon. Er machte, was er wollte, und weil er so beliebt war, schwieg der Rest der Regierung und schuf ein Sonderrecht nach dem anderen für Guttenberg.

Selbst als er sich versenkte, wirkte diese Popularität noch. Die Kanzlerin tat alles dafür, dass der unabwendbare Rücktritt nicht mit ihr in Verbindung gebracht wurde, zog eine absurde Trennlinie zwischen dem Doktoranden Guttenberg und dem Minister, als ob ein Kabinettsmitglied außerhalb seiner Ressorttätigkeit sich jedes Fehlverhalten leisten könnte. Den Dolchstoß wollte sie auf keinen Fall führen, auch wenn sie damit den Verlust ihrer eigenen Glaubwürdigkeit gerade bei den wertkonservativen Anhängern riskierte. Und Horst Seehofer, den Guttenberg mit einem Fingerschnippen vom Stuhl des CSU-Vorsitzenden hätte stoßen können, vergoss Krokodilstränen, forderte das Comeback des Gefallenen, der ihn so oft gedemütigt hatte, nur weil er den Zorn der eigenen Basis und Wählerschaft fürchtete. Beliebtheit ist eine Form der Macht, die viele zum Lügen bringt.

Die Medien waren Teil des Spiels

Noch einmal zurück zur Spott-Demo auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. Dort stehen zwei falsche Guttenberg-Fans mit einem Plakat, auf dem steht „Presse halt die Fresse“. Eine echte Guttenberg-Jüngerin, eine dezent geschminkte Dame im feinen Mantel um die 50, stürzt auf sie zu und ruft: „Das finde ich gut! Die Presse hat ihn fertiggemacht. Wir sollten eine Demonstration gegen die Medien machen!“ Auch das gehört zur Legende um den heiligen Karl-Theodor: Dass er gemeuchelt wurde von einer Horde Pharisäer, die unter dem Decknamen „freie Presse“ stets den Dolch im Gewande führt. Dass Journalismus aus dem Sammeln von Fakten und deren Bewertung besteht, dass mit neuen Fakten auch neue Bewertungen entstehen können, das scheinen in diesen Tagen viele Menschen auszuschließen. Die Guttenberg-Fans sind vielfach der Meinung, dass die kritischen Medien zum Teil einer „linken Kampagne“ geworden sind und ihren Liebling gejagt, schließlich erlegt haben.

Alles abstrus? Ja und Nein. Ja, weil Guttenberg sich schließlich selbst versenkt hat. Nicht nur durch das Plagiat. Er ist in der Affäre so aufreizend unklug und arrogant vorgegangen, hat die Presse und Öffentlichkeit so unverschämt behandelt, dass die „unglaubliche Häme“, die sein Nachfolger Thomas de Maizière im Umgang mit ihm während seiner Plagiatsaffäre feststellte, zuallererst auf ihn selbst zurückzuführen ist. Wer sich so verhält, darf sich nicht wundern, wenn klare Worte fallen. Und dass gerade die bürgerlich-konservative Presse, einschließlich vieler großer Regionalzeitungen, sich in der Sache klar positionierte, als die Regierung und manch linksliberales Blatt wie etwa „Die Zeit“ Guttenberg noch zu retten suchte, kann man schon erwähnen.

Das war’s dann aber auch. Denn der Eindruck, hier seien Pharisäer am Werk, kommt nicht von ungefähr. Viele Guttenberg-Fans, die in den Medien tätig sind, haben zuletzt einfach geschwiegen, andere gerade noch die Kurve gekriegt. Nun wird auf die „Bild“-Zeitung mit dem Finger gezeigt. Die hat es toll getrieben – bis zuletzt, als man noch „Gutt! Guttenberg bleibt!“ titelte und anschließend mit einer Telefon-Hotline-Aktion – vorhersehbares Ergebnis: 87 Prozent Ja! – über den Verbleib des Superstars im Ministeramt entscheiden wollte. „Bild“ hat wie niemand anders Guttenberg gemacht. Aber viele, ja die meisten Medien haben diese Show mitgemacht, waren ebenso berauscht von der vermeintlichen Erfolgsstory des Überfliegers, warteten auf seinen nächsten Coup, auf das nächste spektakuläre Foto in der unglaublichen Bildergeschichte, die uns Guttenberg und seine Frau Stephanie erzählten. Viele, die nun Guttenberg verteufeln, die sagen, dass von ihm nichts, aber auch gar nichts bleiben werde, haben ihn zuvor so hoch geschrieben, als sei seine Kanzlerschaft nur noch eine Frage des Zeitpunkts. Und niemand in der deutschen Medienlandschaft empörte sich, wenn „Bild“ den Minister ganzseitig als Bomberpilot auf Seite 1 in ihrer 3D-Ausgabe brachte. Niemand widersprach, wenn es scheinbar nur noch einen tauglichen Politiker in Deutschland gab, hinter dem alle anderen verblassten. Das Engagement der Ehefrau des Ministers, von „Bild“ zur heimlichen First Lady ausgerufen, bei der voyeuristischen RTL-II-Show verteidigten zahlreiche Blätter, denn schließlich ging es doch um eine gute Sache, den Kampf gegen Kindesmissbrauch. Die kritischen Stimmen gegen die Verbindung von „Bild“ und Guttenberg kamen erst auf, als auch der Superstar schon angeschlagen war, nachdem er es mit seinem Afghanistan-Trip mit Ehefrau und Johannes B. Kerner zu weit getrieben hatte.

Davor haben die Medien vor allem den Glanz dieses Ausnahmetalents der öffentlichen Inszenierung beschrieben, mit ironischem Augenzwinkern hier, mit einer leichten Stilkritik im Nebensatz da. Was nahezu völlig fehlte, war die Recherche, wer dieser Guttenberg ist, wie er funktioniert, was er eigentlich leistet. In der Guttenberg-Beschreibung sind wir, die deutschen Journalisten, in geradezu bedrückender Weise an der Oberfläche geblieben. Es stimmt. Letztlich hat sich die veröffentlichte Meinung, Guttenberg müsse gehen, gegen die öffentliche Meinung, der beste Politiker dürfe bleiben, noch einmal durchgesetzt. Wir Journalisten müssen aber deshalb nicht so tun, als seien wir ganz anders als der Rest des Volkes. Es mag auch manche Anweisung gerade aus den Chefetagen der als links eingeschätzten Medien gegeben haben, diese oder jene kritische Geschichte über Guttenberg nicht zu bringen. Aber insgesamt hatte die Presse ihren Spaß mit diesem Mann, und viele wollten nicht so genau hinsehen. Zum Teil ist es bis jetzt so geblieben. Ein Radiomoderator fragte uns am Tag des großen Zapfenstreichs für ein Interview an. Er wollte nur wissen, warum Guttenberg den Deep-Purple-Klassiker „Smoke On The Water“ ausgewählt habe und was das über seinen Charakter aussage. Und was es zu bedeuten habe, dass Guttenberg, der doch bekanntermaßen AC/DC-Fan ist, sich keinen Song der australischen Rockband wünsche.

Brauchen wir einen Guttenberg?

Ist es nun gut, dass er weg ist? Dass er mit seinem ganzen Doktorzauber aufgeflogen und anschließend abgestürzt ist? Dass die Rücksichtslosigkeit seines Politikstils sich nicht durchgesetzt hat? Dass die Deutschen nach zwei Jahren großem Guttenberg-Kino gezwungen werden zu der Einsicht, in einer 80-Millionen-Demokratie könne nun mal nicht „durchregiert“ werden, wie Angela Merkel es einst versprochen, aber nie eingelöst hatte?

Auf der einen Seite ist es gut, weil es die Realität ist. Politik und Politiker können eben nur selten begeistern wie Popstars, die für ein Konzert, vielleicht nur einen Song bejubelt werden. Die Guttenberg-Story taugte nicht für die Dauer, weil sie nun mal nicht wahr sein konnte. Schön, reich, adelig, von unfehlbarem politischem Instinkt, von ebensolcher Machtvollkommenheit, aus der heraus immer schnell, immer das Richtige getan wurde – das gibt es eben nur im Märchen. Sechzehn Jahre hat Helmut Kohl Deutschland regiert, erst dessen westlichen Teil, später das wiedervereinigte ganze Land. Er war nicht schön, nicht reich, nicht adelig, fehlerfrei schon gar nicht. Einmal, ein einziges Mal kam jener Kairos über ihn, den Guttenberg als eine Art Dauerbegleiter für sein tagespolitisches Werk beanspruchte. Das war 1989, als Kohl „durchregierte“ und am Ende zum Wegbereiter der deutschen Einheit wurde. Einmal ist schon verdammt viel in einem Politikerleben.

Und doch ist es auch schade, vielleicht sogar von Schaden, dass Guttenberg so enden musste. Er hat Menschen für die etablierte Parteiendemokratie gewinnen oder vielleicht zurückgewinnen können, die ihr den Rücken gekehrt hatten. Zwar haben viele ihn gut gefunden (und tun es noch), weil er anders war als das politische Establishment. Doch haben sie in Kauf genommen, dass er als CSU-Mann Teil dieses Establishments war. Guttenberg hat eine Weile funktioniert als in die Parteiendemokratie integrierter Populist. Hätte dieses Modell auf Dauer funktionieren können: Ein charismatischer Einzelkämpfer bringt die Menschen zum Jubeln und wird zugleich von einer ganz konventionellen Regierung getragen und letztlich kontrolliert? Wohl kaum. Er hätte sein Temperament, seine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitspielern, seine Bereitschaft zum radikalen Regelverstoß mäßigen müssen. Genau das hätte seine Beliebtheit aber wohl sinken lassen.

Karl-Theodor zu Guttenberg konnte seine politischen Erfolge wie die Abschaffung der Wehrpflicht oder die überfällige Bezeichnung des Afghanistaneinsatzes als Krieg nur durchsetzen, weil er keine Rücksicht auf seine Mitstreiter nahm. Auf die Dauer hält das System so etwas nicht durch. Die Deutschen werden wieder ohne politischen Superstar auskommen müssen.

Die kritische „Guttenberg: Biographie“ von ECKART LOHSE und MARKUS WEHNER wurde sofort ein Bestseller. Beide arbeiten für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“. Lohse ist Leiter des Berliner Büros, Wehner politischer Korrespondent.

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