Stumme Zeugnisse musikalischer Rührung

Sie erwarb sich Weltruhm als Fotografin des Rolling Stone und als Porträtistin der Mächtigen. Nun bannte Annie Leibovitz Musik-Legenden.

Das Buchcover zeigt einen Plattenspieler. Einen Dual 1225, das Verstärkerkabel unplugged, der Tonarm arretiert, auf dem Plattenteller das Azetat einer Gospel-LP. Elvis Presleys Plattenspieler. So in seinem Schlafzimmer vorgefunden, am Tag, als er starb. Ein Stilleben des Rock’n’Roll, von spartanischer Schlichtheit und voller Symbolik. Welches christliche Erbauungslied hatte der King gehört in seiner dunkelsten Stunde, „When It’s My Time“ womöglich? Annie Leibovitz liebt das Emblematische, das Bedeutungsschwere.

„American Music“ heißt der Prachtband, mit dem die „Grand Old Lady der Rock-Fotografie“ (,,Newsweek“) legendären Musikern schöne Denkmäler setzt und einigen zeitgenössischen Musikern den Gefallen tut, sie in große Traditionslinien zu stellen. Das mutet seltsam an. John Lee Hooker und Johnny Cash neben Norah Jones und Ryan Adams, Duane Eddy und Hubert Sumlin neben Green Day und System Of A Down. Doch Leibovitz will nicht Kulturgeschichte schreiben, sondern Gesichter und Figuren so ablichten, dass sie ihre eigene Geschichte erzählen. Sei sie alt und wechselvoll wie jene des Bluegrass-Pioniers Ralph Stanley oder jung und flott wie die der Dixie Chicks. Das Objektiv bildet nur ab, lügt nie.

Annie Leibovitz freilich hilft dieser Wahrheit etwas nach. Sie komponiert ihre Bilder, perfektionistisch bis ins kleinste Detail. Schnappschüsse, sagt sie, könnten verzerren, seien Dokumentationen sehr begrenzter, weil bloß augenblicklicher Wahrheit. Ihr Interesse habe selten nur dem Moment gegolten, sondern meistens dem Bemühen, das Wesen von Persönlichkeiten zu visualisieren. Ein Understatement. Als Porträtistin treibt Leibovitz einen Aufwand ohnegleichen. Bis zu 20 Beleuchter, Maskenbildner, Friseure, Stilisten und andere Assistenz setzt sie bei Sessions ein, stets im Dienste der Imagepflege ihrer Auftraggeber. Das sind für gewöhnlich Celebrities, die es sich leisten können, die teuerste und berühmteste Fotografin der Welt anzuheuern, um sich von ihr ins rechte Licht rücken zu lassen. Zu Leibovitz‘ zufriedenen Kunden gehört Film-Prominenz ebenso wie Wirtschafts-Tycoons und die politischen Eliten, Demi Moore, Donald Trump und Donald Rumsfeld.

Zufrieden deshalb, weil Annies Kamera nie denunziert. Und weil sie nichts von dem preisgibt, was die abgelichteten Persönlichkeiten lieber unter Verschluss halten. Leibovitz-Porträts kratzen bei aller ästhetischen Opulenz nie an der Oberfläche, zeigen nur attraktive Fassade. Annie Leibovitz, die Wahrerin des schönen Scheins. Und dabei so erfolgreich, dass ihre betuchte Kundschaft klaglos die Strapazen vielstündiger Foto-Shoots auf sich nimmt, posierend und parierend. Auch wenn Annies Regie-Anweisungen größerer Anstrengungen bedürfen. So tauchte Kate Winslet stundenlang in einem Wassertank und Clint Eastwood ließ sich verschnüren wie ein Weihnachtspaket. Ein Leibovitz-Porträt schmeichelt dem Porträtierten, bauchpinselt sein Ego. Wie die Hollywood-Porträts der 40er und 50er Jahre, nicht unähnlich der Hofrnalerei des Mittelalters. Nur mit anderen ästhetischen Kniffen.

Gelernt hatte Annie Leibovitz ihre Kunst als fest bestallte Fotografin des ROLLING STONE, damals noch radikales Sprachrohr der amerikanischen Gegenkultur. Annie tourte mit den Rolling Stones, deren Exzesse sie in historischen Bildern festhielt. Keith Richards, halb bewusstlos hingestreckt. Mick Jagger im Clinch mit Groupies. Annie begleitete Hunter S.Thompson, den Doyen des Gonzo-Journalismus, bei seinen drogengeschwängerten Recherche-Manövern. Annie stellte Brian Wilson im Bademantel an den Strand und drückte dem Surf-Verächter ein Surfbrett in die Hand. Annie drapierte einen zum Fötus zusammengekrümmten John Lennon an Yokos bekleidete Brust, nackt und bloß, am Tag bevor er ermordet wurde. 1983 verließ sie den ROLLING STONE und wechselte zu „Vanity Fair“, wo ihre Art der Celebrity-Bildkunst von jeher beheimatet ist. Nun also, nach 20 Jahren des Mehr-Schein-als-Seins, eine Rolle rückwärts. Es sei ihr plötzlich schmerzhaft bewusst geworden, so Leibovitz, dass sich die Topografie amerikanischer Musikkultur immer schneller verändere und dass die Träger des amerikanischen Musikerbes nach und nach verschwänden. Also sagte sie sich: Annie, get your flashgun. Und begab sich ins Mississippi-Delta, wo sie vor vier Jahren mit den Arbeiten zu diesem Buch begann. Was schon deshalb sinnig sei, meint die Lichtbildnerin, weil dort die Wurzeln des Folk und Blues liegen. Natürlich waren die Väter der schwarzen Popmusik längst tot, doch fand Leibovitz Vertreter der folgenden Generationen, Jessie Mae Hemphill, Irma Thomas, R.L. Burnside. In Texas lichtete sie mit Willie Nelson einen noblen Volkshelden ab, in Tennessee mit George Jones den größten Country-Sänger aller Zeiten. Wobei es der Einschränkung „Country“ nicht einmal bedürfte. Den genialischen Jazz-Schlagzeuger Max Roach, der noch mit Charlie Parker gespielt hatte, fand Leibovitz in New York City. Wo auch eines der wenigen älteren Fotos entstand, von Miles Davis, aufgenommen 1989. Die Folk-Legende Pete Seeger lässt Leibovitz auf das Meer hinausspähen, Iggy Pop posiert habituell mit nacktem Oberkörper, Joni Mitchell und Emmylou Harris mit geschlossenen Augen.

Fotos in Farbe, Duotone und Schwarzweiß. Melodische Bilder, rhythmische Bilder oft. Chuck Berry und Do Diddley backstage, eine Reunion der legendären House-Band von Stax Records in Memphis, mit Donald „Duck“ Dünn, Steve Cropper, Booker T. Jones, dazu Eddie Floyd, William Bell, Carla Thomas, Mavis Staples und Isaac Hayes. Ein paar Fotos scheinen eher redundant. Beck am Steuer, Steve Earles Gesicht formatfüllend, ohne besonderen Ausdruck, ohne Hintergrund. Andere sind schelmisch oder hintergründig. Der Rock’n’Roller Mike Ness mit Frau und Kindern, der Rockstar Jon Bon Jovi bei der Fron auf der Sonnenbank.

Beredte Fotos. Das sei leicht gewesen, gesteht Annie Leibovitz, denn „es spiegeln sich doch ganze Lebensgeschichten in diesen unverwechselbaren Gesichtern“. Und Emotionen, wie „in der Musik dieser Menschen“. Zu Tränen sei sie oft gerührt. Wer hätte das gedacht von der kühlen Ästhetin und Schmeichlerin der Eitelkeit?

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