Sly Stone: Vater des Funk, Poster-Boy der Integration
Sein psychedelischer Soul fing den Optimismus der Sechziger ein und den Kater danach. Eine Würdigung – statt eines Nachrufs
In der „Late Night Show “ von David Letterman erscheint Sly Stone im Februar 1983 als eigentlich ganz umgänglicher Zombie. Er spielt mit der Hausband auch zwei Nummern, die da schon zehn Jahre alt sind. Und wiederholt eine Geste, die 1968 in der Show von Ed Sullivan tatsächlich neu war, aber mittlerweile etwas riecht: Er verlässt den Platz auf der TV-Bühne und geht tanzend und klatschend auf das Publikum im Studio zu.
Sly Stone wirkt wie seine eigene Coverband. Schlimmer ist nur der Talk mit Letterman. Denn selbst der liberale New Yorker behandelt einer der größten Musiker der späten Sechziger wie einen halbwegs ruhig gespritzten Jugendlichen, dem man zwar gütig eine Chance gibt, aber ohne an ihn zu glauben. Begutachtet wird hier eine lebende Leiche, ein Zombie eben. Ein Schicksal, das noch einige andere Schwarze US-Musiker im Laufe ihrer Karriere ereilte: die Verkörperung des stets von neuem verdrängten Rassismusproblems.
Cool und verzweifelt
Wiederholt spricht ihn Letterman auf die vielen Konzerte der frühen Siebziger an, die Stone nicht antrat oder bei denen er viel zu spät eintraf. Ob das nun besser geworden sei? Er habe doch letzte Woche immerhin vor 27 Leuten gespielt. Stone korrigiert, zu seinen Clubgigs kämen im Schnitt so 120 Gäste.
Er bleibt freundlich und cool gegenüber dem selbstzufriedenen Star-Moderator – ein Verhalten, das Teil der Schwarzen Erfahrung ist. Vielleicht zeigt der Musiker aber bereits die verzweifelten Symptome des von viel zu vielen Drogen Gezeichneten, der sich Ironie nicht mehr leisten kann. Denn Stone fragt ernsthaft, ob er die Telefonnummer seines Agenten in der Sendung nennen dürfe. Damit man ihn für Konzerte buche. Nein, das ginge nicht, sagt Letterman. Stone gibt den Festnetzanschluss dennoch durch. Da ist seine Verbindung zur Gegenwart aber bereits abgebrochen.
Das letzte Album von Sly Stone
Ende 1982 erschien sein letztes Album, „Ain’t But The One Way“, das er mit George Clinton begann, dem Funkpriester, der zu dieser Zeit auch langsam seine Gefolgschaft verlor. Die Freundschaft zerbrach, Stone tauchte ab, und der Produzent Stewart Lewine modellierte aus den vorhandenen Aufnahmen eine porenfreie Platte. Nicht gleich peinlich, aber die Musik verlor jede mit seiner einzigartigen Band auszeichneten. Weil er so leichte Songs schreiben konnte zwischen Popharmonie und Funkpunch.
Stone war ein paar Jahre lang das Supertalent und der Monsterentertainer, der keine Grenze respektierte, 1969 sowohl im Weißen Woodstock wie im Schwarzen Harlem Cultural Festival die Crowd kirre machte und dabei neu definierte, was eine Band ist: eine Familie, in der alle eine Stimme haben. Doch 1982 war das alles vorbei. Sly and the Family Stone war nur mehr der schmale Schatten einer One-Man-Show.
Slys Einfluss: Von Prince bis Bruno Mars
Was war passiert, dass ein Musiker, der auf dem Gipfel seiner Zeit zu den Größten zählte, so tief gefallen war und immer noch ein bisschen tiefer fiel? Bis die meisten Nachkommen nur noch seine Nachfolger kannten?
Allen voran Prince profitierte von Stones Vorarbeit, wie man als Multiinstrumentalist und Überperformer eine Band und mehrere Zielgruppen im Blick behält. Aber auch der kostümierte, popaffine Hip Hop von Outkast griff darauf zurück. Sogar das Retro Duo Silk Sonic mit Anderson Paak und Bruno Mars steht heute in Slys Schuld. Und abseits des Mainstreams, in der Nacht avancierter Clubs, grüßt der finster verpeilte Detroit House von Moodymann auf der halben Welt die dunkleren Sounds im Werk der Schwarzen Kaliforniers.
Poster Boy der Integration
Ist Sly Stone von der Epoche, die er musikalisch und politisch zu fassen kriegte wie kaum einer sonst, von der Wucht des Wandels erdrückt worden? Ausgerechnet er, der Poster Boy für Integration, Dialog und Spaß bis zum Album „Stand“ 1969, als die Trompeterin Cynthia Robinson und Slys Schwester Rose im Hit „Everyday People“ von „different strokes for different folks“ sangen und damit die Toleranz feierten?
Und „Don’t call me N*****, Whitey (don’t call me Whitey, N****)“. Oder hat er, wie auf seiner erst später meist gelobten Platte, „There’s a Riot Goin’ On“, 1971 gemerkt, dass sein versöhnliches Programm verkehrt war für eine rassistische Welt? Oder waren es bloß die selbst für einen Popstar absurden Mengen an Kokain und PCP, die kein Mensch und auch kein Gott heil übersteht.
Pionier und Solitär
Diese Fragen hat die Fachliteratur zu Sly Stone in den letzten bald 50 Jahren unterschiedlich beantwortet. Aber fast jede legt Fährten zu Diskussionen, die heute die Popmusik erneut heimsuchen: Diversität, schlechte Laune über stockenden sozialen Fortschritt, Drogen, Rassismus, Geschlechterungleichheit, Mental Health, auf Deutsch Geistige Gesundheit.
Und eine Performance, die auf der Bühne forsch den Kuschelkontakt zum Publikum sucht wie so viele Konzerte seit der Pandemie. Das machte den nun im Alter von 82 Jahren verstorbenen Künstler so faszinierend. Dass er so viele Dinge als Pionier eingeführt hat, die uns bis heute beschäftigen. Und dass Sly Stone dennoch ein Solitär bleibt.
Der Songwriter
Wie immer bei den leuchtendsten Figuren offenbart sich das außergewöhnliche Talent nicht langsam, sondern sofort. Sylvester Stewart, wie er bürgerlich heißt, wuchs in Vallejo auf, an der nördlichen Bucht von San Francisco. In der religiösen Familie lernten alle singen, und Sylvester auch so ziemlich alles spielen.
In der High School war seine Doo Wop Gruppe bereits „integriert“, wie es damals hieß, oder divers, wie wir heute sagen, wenn weiße, asiatische und schwarze Hintergründe gleichzeitig vorkommen. Wie verrückt das war, sieht man noch ein paar Jahre später, als er 1964 seinen ersten Millionen-Hit schrieb, „C’mon and Swim“ für den Schwarzen Rocker Bobby Freeman.
Der Song sollte einen neuen Rock’n’Roll Tanz einführen, nach dem Twist nun eben den Swim. Alle Tänzerinnen in der populären Fernsehshow „Shindig!“ hinter Freeman waren selbstverständlich weiß. Mit dem verdienten Geld holte Sylvester Stewart seine Familie aus Vallejo raus, kaufte ein Haus in San Francisco und hieß fortan Sly Stone.
Sly & The Family Stone
Zu dem Zeitpunkt hatte er schon für viele weiße Gruppen geschrieben und sie teilweise produziert. Nun wurde Sly Stone etwas schwärzer, weil er zum beliebtesten DJ der Region aufstieg, einen purpurroten Jaguar fuhr und sich so flamboyant anzog, als käme er direkt von den bösen Straßen. Wie bei jedem schlauen Performer war das Kostüm zwischen Zuhälter und Revuebühne in Las Vegas auch ein Stück weit Drag, eine Verkleidung sowohl der eigenen Wünsche wie auch der Projektionen der anderen.
Doch in seinen Radioshows spielte er nicht einzig Soul, sondern auch die Beatles, die Rolling Stones und sogar erste Tapes der Vorläuferband von The Grateful Dead. Mit David Kapralik, einem New Yorker Mann der Plattenindustrie, verschmolz Sly Stone 1967 all diese Dinge von Doo Wop, britischem Beat, bis zu kalifornischer Psychedelik sowie Soul und Funk zum ersten Album von Sly & The Family Stone mit dem programmatischen Titel: „A Whole New Thing“.
Band als Kollektiv
Der erste Bläsersatz der ersten Nummer, „Underdog“, umspielt das französische Kinderlied „Frère Jacques“ aus dem 18. Jahrhundert, die berühmte Melodie zu „Sonnez les matines, ding ding dong:“ Bei Stone werden die Hörer rein musikalisch geweckt, doch der Text macht anschließend klar, dass er das gleiche meint, das wir heute unter „woke“ verstehen. Aufwachen, alle, jetzt sofort!
„Sie lassen dich nicht vergessen, dass du der Underdog bist und du musst doppelt so gut sein wie sie“, singt Sly gleich selbst. Er ist aber vier Mal so gut wie fast alle andern. Doch seine Band verwirrt diese Fronten bereits. Weil er sie Band als Kollektiv begreift und nicht nur als Solo mit Begleitung und weil sein Kulturkampf auf Inklusion setzt: mit Cynthia Robinson und Slys Schwester Rose an der Orgel sind zwei Frauen in der Band, die richtige Instrumente spielen, und dann sind da noch zwei weiße Jungs an Saxofon (Jerry Martini) und Schlagzeug (Gregg Errico).
Sein Bruder, Freddie Stone, spielt die Funkgitarre, die auch psychedelisch gniedeln kann. Und Larry Graham singt nicht nur im Bass, er spielt ihn auch, und zwar so mächtig, dass die gelegentlichen Temposchwankungen des Drummers niedergewalzt werden. Mit Sly und Larry sind gleich zwei ausgebildete Musiknerds dabei, die kleine Defizite der Kollegen ausgleichen.
Schon 1967 klingt alles tight und locker zugleich, das ist nicht die Militärkaserne von James Brown. Auch das macht diese Band zur super hippen Entsprechung des Marsches nach Washington, als hätten Martin Luther King und Bobby Kennedy coole Klamotten getragen. Hüftbetonter und gleichzeitig komplexer klang die Bürgerrechtsbewegung jedenfalls nie.
Ein Hit war „A Whole New Thing“ aber noch nicht. Das änderte sich 1968 sehr schnell, wie eigentlich alles im Leben von Sly Stone: irres Tempo immer.
Ruhm und Abstieg
Der große US-Kritiker Greil Marcus schreibt in seinem ersten Pop-Sachbuch, „Mystery Train“ (1975), warum Sly & The Family Stone auf einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Die Soulgrößen Wilson Pickett, Aretha Franklin und Otis Redding, die der weißen Mehrheitsgesellschaft und den jungen Hippies keine Angst machten, folgten bald allzu klaren musikalischen Formeln. Und dann starb Otis Redding, der beim Monterey Pop Festival Mitte Juni noch die damals woke Jugend für sich gewann, Ende 1967 bei einem Flugzeugabsturz.
In die Fußstapfen von Redding tritt nun Sly Stone, macht noch größere, künstlerisch weniger vorformatierte Schritte und veröffentlicht innerhalb von vier Jahren vier Alben hintereinander. „Dance to the Music“ 1968, „Life 1968“, „Stand“ 1969, „There’s a Riot Goin’ On“ 1971.
In dieser kurzen Zeit läuft das ganze Programm ab: Top Alben, viel Fame, Arenen, mehr Fame in Woodstock und Headliner beim Harlem Cultural Festival, Sex, Drogen, Hubschrauber statt Limousinen zu den Konzerten, wenn sie denn überhaupt angetreten werden, schwere Unruhen in Chicago, weil die Menge beim Warten sauer wird, wirre Fernsehshows, noch mehr Drogen, noch eine geniale Platte, jetzt mit schlechter Laune, und dann der große Abstieg, der das Genie der Popintegration endgültig zerstört und der irgendwann in einem Wohnwagen in einem unguten Viertel von Los Angeles endet, wo drittklassige Reporter weiterhin unverschämte Fragen stellen.
Für eine Würdigung muss man sich seiner alten Musik zuwenden, die eines der großen gesellschaftlichen Versprechen und sein Scheitern wie kein Zweiter künstlerisch zündend darstellen konnte.
Dringlicher Optimismus
Rückblickend meint der weiße Saxofonist Jerry Martini, er und der weiße Drummer Gregg Errico seien politische Entscheidungen von Sly gewesen. Es habe genug schwarze Bläser und Schlagzeuger in Stones Umfeld gegeben, die ihnen musikalisch den Arsch versohlt hätten.
So steht es in der Oral History zur Band, die der Autor Joel Selvin 1998 aufschrieb. Selvin sprach mit allen, außer mit Sly Stone selbst, der damals nicht auffindbar war. Ob Martini recht hat oder nicht mit seiner These des identitätspolitischen Kalküls, ist nicht entscheidend, so lange Leute miteinander spielen, die das sonst selten tun, auch nicht in der Gegenkultur. Und die Arbeit daran, die entstandene Solidarität hört man dem dringlichen Optimismus und der fortgeschrittenen Spielerei der ersten Family-Stone-Alben bis heute an.
Die Musik ist zu funkensprühend und komplex, um nur an die Charts zu denken. Und doch drängen diese Alben unverschämt zur Party. Mit der offensiven Kunsthaftigkeit des seit „Revolver“ von den Beatles einsetzenden Prog Rocks haben wie wenig zu tun, selbst wenn sie ähnliche Technologien einsetzen. Clevere Pop Harmonien und das scharfe Funkbeil wechseln sich innerhalb eines Songs ab wie in der Gegenkultur-Hymne „Stand“.
Dass der Dylan-Fan Sly äußerst elegant textete, übersahen damals viele (nicht Greil Marcus). „There’s a midget standing tall / and a giant beside him about to fall„ singt Sly in seinem weichen Register weit weg von der Soul-Schmerzgrenze – wir, die bisher Verzwergten, stehen jetzt auf, und die bisher dominanten Riesen werden fallen. Die Musik klingt gar nicht wie eine blutige Revolution, sondern eher wie ein fast sanfter, historisch folgerichtiger Übergang. Bis dann der Funk für die letzten 40 Sekunden doch noch Militanz vermittelt.
Wandel als Party
Cynthia Robinson quiekt geradezu schrill am Anfang des Krachers „Dance to the Music“, bevor ein kurzer, extrem rhythmischer A-Cappella-Teil die Doo Wop Zeit von Sly Ende der Fünfziger verrät und dabei den Gesang von Bobby Mc Ferrin in den Achtzigern vorweg nimmt.
Tolle instrumentale Arrangements, überraschende Wendungen und smarte Akkordfolgen hin oder her, die Family Stone setzt in ihrer erfolgreichsten Zeit auf ihre Stimmen: Rose Stone schmettert den Gospel, Larry Graham steigt in den Schwerenöter-Bariton runter und Sly selbst ist derart on top seiner Sache, dass er die Silben lose über den Beat verteilen kann, denn er weiß: Die Musik ist so hip, dass sie nicht einzig mit Präzision punkten muss, sondern ausgiebig mit Lockerheit flirten kann. Stones Alben der Sechzigerjahre sagen immerzu: Wir haben ein Problem, aber we are cool, you are cool, also lasst uns gemeinsam feiern, weil Wandel macht Spaß.
Auch wenn Sly Stone da längst ein erfahrener Studiohase war und viel mit Overdubs arbeitete, klingt die Musik auf den Tonträgern stets frisch und live. Sie will ihre Technologie und ihre Avantgarde nicht betonen. Denn es ist Musik, die Party bereits als Ritual der Dauer und der fließenden Übergänge versteht. Und zwar selbst in Las Vegas, wo die Band 1967 nachts spielte, während sie tagsüber in Los Angeles aufnahm.
Selbst auf den Alben befinden sich Medleys, Themen und Slogans kehren zurück, die woanders schon einmal angespielt wurden. Higher, Thank You, Dance: Der Groove enthält ein Rest Gottesdienst. Auch in Vegas soll es kaum Pausen gegeben haben, der Beat ging immer weiter. „Dance to the Medley“ arbeitet zwar mit einigen Tape-Effekten am Anfang, aber zeigt in zwölf Minuten jeden Bühnentrick, den man von der Band kennt: verteilter Gesang, Ansprechen der einzelnen Instrumente („la-ah-ah-ahzy Larry on Bass now“), lange wiederholte Grooves, gefolgt von verbritzelter Psychedelik.
Revolution und Reaktion
Gegenkultur in Las Vegas? Europäisch geeichte Gehirne können amerikanischen Widersprüche traditionell nur schwer prozessieren. Weil sie die Liebe des Kapitalismus zur Emanzipation unterschätzen – jede Befreiung bedeutet auch Wandel, und der verspricht in der Regel neue Märkte. Kurz: Sly & The Family Stone waren schlicht der Shit Ende der Sechziger, egal ob in der Wüste Nevadas, in San Franciscos damaligem Fillmore Ghetto, im nationalen Fernsehen oder morgens um vier in Woodstock, wo die Band die Blumenkinder weckte und mit in den Tag riss.
Das heißt nicht, dass diese Erfolgsgeschichte konfliktfrei ablief. Als Sly in einem Casino, in dem er auftrat, eine weiße Freundin dabei hatte, wollte der Besitzer die Frau wegschicken – nichts Gemischtes erwünscht in diesem Laden. Auf der Bühne vielleicht okay, aber nicht im richtigen Leben. Stone erzählte das dem Publikum am selben Abend. Standing Ovations. Hinter der Bühne soll der Besitzer darauf einen Revolver an Slys Schläfe gehalten und gesagt haben, die Band habe zwei Stunden, Las Vegas zu verlassen. Die Autos der Band erhielten eine Eskorte der Polizei.
Statt den Täter einzukassieren, begleitet man die Opfer zur Tür hinaus. Wie fragil das Verhältnis von Revolution und Reaktion, von Wandel und Bewahren damals war, ist heute zum einen schwierig nachzuvollziehen.
There’s A Riot Going On
Auch zu „There’s a Riot Goin’ On“, 1971 für die Plattenfirma gut zwei lange Jahre nach dem Smashalbum „Stand“ erschienen, gibt es mindestens zwei Perspektiven. Dass der strassenreligiöse Optimismus und ausgefuchste Songs wie „I Want to Take you Higher“, „Sing a Simple Song“ und „Everyday People“ nicht mehr vorkamen, bemerkt man noch einmütig.
Schon die die Single „Family Affair, ein Riesenhit des von der zeitgenössischen Kritik verrissenen Albums, erzählte von Erschöpfung. Aber welche Erklärung dominiert für den Downer? Löst sich die Band langsam auf, weil die Black Panthers Sly dazu drängen, die Weißen zu kündigen? Oder liegt es am völlig aus dem Ruder gelaufenen Drogenkonsum?
Schon im ersten Song von „Riot“ ist die Lage umrissen: Der Titel wortspielt zwar noch „Luv N’Haight“, der die alternative Schreibweise vom englischen Hass / Hate mit dem Kernviertel der San Francisco Hippies koppelt, Haight Ashbury. Die Lyrics offenbaren die Selbstkerkenntis einer harten Landung der eben noch hohen Ideale: „Feel so good inside myself, don’t want to move As I go up I’m going down And when I’m lost, I know I will be found“.
Engelsstaub als Droge der Wahl
Hat jemand den Rückzug ins Innere, den Umzug einer sozialen Bewegung in den zugedröhnten Körper präziser beschrieben? Zudem beschreibt der Text unverhohlen Slys harte Drogen der Wahl: Kokain um hochzukommen, PCP für die Rückfahrt.
Unter dem Namen Angel Dust wird PCP später im Jahrzehnt eine verheerende Karriere in High Schools antreten. Die Wirkung ist ein Stück weit vergleichbar mit jener von Ketamin, das heute in Clubs auftaucht: Man fährt aus seinem Körper heraus und sieht ihm wie von außen zu, ein leicht psychotisches, bei Gelingen angenehmes Erlebnis, das allerdings bereits bei geringer Überdosierung zu Lähmungserscheinungen führen kann: Don’t want to move. Schlimmes Zeug.
Am Schluss des Albums nimmt „Thank You For Talkin’ To Me, Africa“ die kurz davor veröffentlichte Hitsingle „Thank you (Falettinme Be Mice Elf Agin)“ musikalisch auf und zitiert im Text praktisch jeden Hit der Family Stone, aber als Grabrede.
„Everyday People, Sing a Simple Song, Mama’s so happy, Mama start to cry, Papa still singing, We can make it if we try.“ Auch die letzte Zeile zitiert nur einen Song. In verlangsamtem Tempo und mit einer mal verschliffenen, mal schier erbrechenden Stimme, macht sich Sly über seinen eigenen, jüngst verflossenen Optmismus lustig, der nur noch die Generation der Eltern interessiert. Die Jüngeren bewaffnen sich jetzt, nehmen noch mehr Drogen oder verticken welche (oder alles zusammen).
Vom Kollektiv zur Diktatur
Die meisten Instrumente spielt Sly bereits selbst, obwohl auch die damals noch Beteiligten den Überblick verloren haben. Man war halt in der Villa, nahm Drogen, spielte was ein, mittendrin das Bett von Stone, der nun auch zusehends wie ein Chef auftrat. Wer so viel Chaos zulässt, landet auf der andern Seite wieder bei der Diktatur. Kurz davor hat Larry Graham den vermutlich ersten Slap Bass aufgenommen („Thank You Falettinme…“), Sly Stone arbeitete mit Drum Machines und er textete immer noch um Welten besser als in der anrollenden Discowelle üblich. Mit seinen Talenten ausgestattet, kann man noch ein knappes Jahrzehnt musikalisch überleben (ein Wunder).
Danach nimmt der Rückzug drastische Züge an. Bei der Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame 1993 lässt Sly die Band vorgehen, er rennt nur kurz und verwirrt auf die Bühne. Zum Auftritt lässt er sich von der Polizei bringen, in deren Wagen er wartet bis zum letzten Moment. Man muss sich einmalmal vorstellen, was los wäre, wenn eine ähnliche Größe dieser Zeit in diesem Zustand wäre. Zum Beispiel Bob Dylan. Aber es ist Sly Stone, der am 15. März 2023 hoffentlich irgendwo 80 Jahre alt wird.