Der zeichnende Reporter

Der Comicautor Joe Sacco berichtet aus den Krisenherden der Welt. Nun zeigt er uns den Ersten Weltkrieg

Es war eine groteske Situation, mit der die Besucher des alljährlichen Comicsalons, dem hierzulande bedeutendsten Comicfestival, im Erlanger Schloss Mitte Juni konfrontiert waren. Wenn sie das barocke Bauwerk betreten wollten, mussten sie zuvor an einem überdimensionalen Weltkriegspanorama vorbeigehen, das vor der Westfassade des Schlosses aufgestellt war. Auf zwei Meter Höhe und siebzig Meter Breite waren darauf detailreich die Kriegsereignisse zum Auftakt der Schlacht an der Somme am 1. Juli 1916 abgebildet. Es war mit über einer Million getöteten, vermissten und verwundeten Soldaten die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs. Von den 120.000 britischen Soldaten, die in den Kampf geschickt wurden, fielen in den ersten 24 Stunden 60.000 im deutschen Sperrfeuer. Entsprechend ist der sich bietende Anblick einer des Grauens.

Verantwortlich für das erzählende Kriegsgemälde ist der in Malta geborene und in Australien sowie den USA aufgewachsene „Comicjournalist“ Joe Sacco. Vor dem Erlanger Schloss war eine Vergrößerung seines sieben Meter langen Leporellos „Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht an der Somme“ installiert, das im Frühjahr erschienen ist. Das Langbild ist nach dem Vorbild des Teppichs von Bayeux gestaltet, der ebenfalls auf knapp sieben Metern Länge die Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer zeigt.

Ein Freund hatte vor Jahren die Idee, dass man doch die Westfront in einem breiten Panoramabild zeichnen könne. Sacco fand das damals zu statisch. 15 Jahre später sprach ihn jener Freund, inzwischen ein erfolgreicher Verleger, erneut darauf an. „Da dachte ich, dass mich kein historisches Ereignis schon so lange beschäftigt wie der Erste Weltkrieg“, erinnert sich Sacco. „Über nichts habe ich mehr gelesen, meine ganze Bibliothek ist voll mit Literatur darüber. Schon als Kind fand ich die irrsinnig hohen Opferzahlen im Ersten Weltkrieg absurd. Warum es also nicht versuchen, dachte ich mir. Die monatelangen Kämpfe um wenige Meter Raumgewinn an der Somme erschienen mir ideal, um auch eine Geschichte zu erzählen, zumal sie in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung den Ersten Weltkrieg im Kern zusammenfassen.“

Dass sich Sacco, der für seine journalistischen Reportagen aus dem Nahen Osten oder dem zerbombten Ex-Jugoslawien bekannt ist, dem historischen Thema Erster Weltkrieg zuwendet, verwundert nur auf den ersten Blick. Denn es ist, wie sein nahezu ausschließlich in Schwarz-Weiß gehaltenes Gesamtwerk („Ich weiß nicht, wie man Farben benutzt.“), von seinem journalistischen Interesse geprägt.

Als Sacco nach seinem Journalistikstudium in den USA keinen passenden Job fand, kehrte er 1983 nach Malta zurück und begann, Liebesgeschichten zu zeichnen. Wenige Jahre später ging er zum renommierten Comicverlag Fantagraphics Books nach Los Angeles und arbeitete am „Comics Journal“ mit. Anfang der 1990er-Jahre bereiste er mehrere Monate den Nahen Osten. Die Geschichten, die ihm dort begegneten, sind in seinem viel gelobten Comicalbum „Palästina“ versammelt. Mit seinem Debüt als zeichnender Journalist gewann er den American Book Award. Seither fliegt er als Comicreporter durch die Welt. In der bosnischen Enklave Goražde dokumentierte er das bittere Leben der Menschen in der zerbombten Stadt. Für seinen daraus resultierenden Comic „Bosnien“ erhielt er den renommierten Eisner Award. In Inguschetien hielt er die Lebensverhältnisse der tschetschenischen Flüchtlinge fest, aus Indien schickte er eine erschütternde Geschichte über die Situation der „Unberührbaren“, in seinem Geburtsland Malta beschrieb er den Umgang mit den afrikanischen Flüchtlingen. 2005 und 2006 flog er als „embedded journalist“ sogar in den Irak, um über den Militäreinsatz der alliierten Truppen zu berichten.

Sacco ist der weltweit einzige Comiczeichner, der für sich auch beansprucht, Journalist zu sein. Als Anhänger einer subjektiven und authentischen Berichterstattung setzt er sich selbst in Szene und bezieht Position. „Das ist Teil meiner journalistischen Verantwortung“, erklärt er mir in Erlangen. Dabei bezieht er sich auf den britischen Journalisten Robert Fisk, den er in seinem Manifest zum Comicjournalismus mit folgenden Worten zitiert: „Ich kann nur wiederholen, dass Reporter neutral und ohne Vorurteile auf der Seite der Leidenden stehen sollten.“ Dieses Credo verfolgte er etwa auch im 2011 erschienenen Buch „Days Of Destruction, Days Of Revolt“, in dem er gemeinsam mit Pulitzerpreisträger Chris Hedges über die Armut in den USA berichtet.

Für Recherchen zu seinem Band „Gaza“ kehrte Sacco in den vergangenen 15 Jahren immer wieder in den Nahen Osten zurück. In dem 2009 erschienenen Comic rekonstruiert er anhand der gesammelten Zeit-und Augenzeugenberichte zwei Massaker, die die israelische Armee an der palästinensischen Bevölkerung während der Suez-Krise verübt haben soll. In dem opulenten Band arbeitet er diese Geschichte auf und stellt sie der damaligen Situation im Gazastreifen gegenüber. Sacco bewies mit „Gaza“ endgültig, dass man die Legitimität von Comics als ernst zu nehmendes journalistisches Medium nicht abstreiten kann.

Mit seinem Schlachtengemälde zeigt er sich nun als historisch versierter Reporter. Die Ereignisse des ersten Tages der Schlacht an der Somme hat er in einer an einem fiktiven Raum ausgerichteten Chronologie abgebildet. In diesem Zeit-Raum-Kontinuum erstreckt sich die Erzählung nicht nur von den Linien hinter der Front über die Schützengräben und das Schlachtfeld in die Massengräber, sondern es vergeht auch ein kompletter Tag. Das erinnert an Alexander Sokurows Film „Russian Ark“, in dem ein anonymer Erzähler dreihundert Jahre russische Geschichte durchläuft, während er durch den Winterpalast in St. Petersburg flaniert. Zumal Sacco die Ereignisse an der Westfront nicht in Einzelszenen, sondern in einem durchgehenden Gesamtpanorama gezeichnet hat. Man könnte sagen, dass er seiner „sequenziellen Erzählung“ die Sequenz entzogen und sie in die Nähe eines cineastischen Bilderstroms gerückt hat. Es habe einfach keinen guten Platz zum Anhalten und Luft holen gegeben, begründet er dieses Vorgehen. „Wie die Soldaten muss man immer weitergehen und weiter und weiter.“

Sacco weitet den Blick auf das gesamte Geschehen, indem er es aus der Vogelperspektive zeichnet. Das räumliche Sehen erstreckt sich auf die Tiefe des Panoramabildes. Beeindruckte Saccos Werk in Erlangen bereits in zehnfacher Vergrößerung, überwältigt sie, noch einmal verdoppelt, bis Ende August die Passanten im Rolltreppentunnel der Pariser U-Bahn-Station Montparnasse-Bienvenue. Sacco ist begeistert: „Ich mag Kunst im öffentlichen Raum, das hinterlässt eine andere Wirkung. Je näher die Zeichnungen an die Lebensgröße heranreichen, desto eher hat man das Gefühl, unter diesen Soldaten zu stehen.“ Und tatsächlich fühlt man sich vor dem überbordenden Wimmelbild unweigerlich in die Rolle des mitlaufenden Beobachters gedrängt, der zusehen muss, wie Abertausende Soldaten in die Todesmaschine marschieren.

Die Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im Comic ist von den Arbeiten des französischen Zeichners Jacques Tardi geprägt. Der Franzose hat mit „Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB“, „Grabenkrieg“ oder „Elender Krieg“ dem im Schützengraben versinkenden Individuum ein Denkmal gesetzt. Sacco will sich mit Tardi nicht messen, viel zu sehr bewundert er diesen für seine Arbeiten. „Tardi hat alles zum Ersten Weltkrieg gesagt, wirklich alles. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.“ Aus diesem Grund hat er auf Wörter auch vollkommen verzichtet. „Der Erste Weltkrieg“ ist ein lautloses Zeugnis des 1. Juli 1916, das in seiner nach vorne drängenden Komposition für sich spricht. Die Kriegsmaschinerie funktioniert wie ein Fließband. Einmal erfasst, ist man ihr ausgeliefert: „Die normale Reaktion des Tieres Mensch wäre, vor dem Maschinengewehr wegzulaufen. Aber die Masse zwingt dich unauf haltsam, in die Kugeln hineinzulaufen.“

Die Schlacht an der Somme ist der Inbegriff des industrialisierten Mordens im Ersten Weltkrieg. Sacco macht in seinem Weltkriegsleporello diese Materialschlacht sichtbar und zeigt, wie sich das Individuum in der Masse auflöst. „Das Grundmaterial des Krieges ist menschliches Fleisch en masse. Die Soldaten an der Somme sind im Kollektiv marschiert, als Masse gestorben und in Massengräbern verscharrt worden.“

Gewissermaßen ist „Der Erste Weltkrieg“ die Zuspitzung der Vorgängerwerke. Joe Sacco erzählt seine Geschichten normalerweise aus den Blickwinkeln seiner Gesprächspartner und setzt aus den gesammelten Stimmen die Wirklichkeit wie ein Mosaik zusammen. Im Panorama geht der Einzelne aber komplett in der Masse auf, trägt kaum zum Gesamtbild bei. Die Überwältigung des Individuums von den Umständen, in denen es lebt, findet hier kollektiv statt. Allerdings ist das Ganze in Teilen auch überkomplex, der Blick verliert sich mehr als einmal im Gewusel der Masse. Dankbar ist man als Laie daher für die Einordnung der Geschehnisse des US-amerikanischen Historikers Adam Hochschild im Begleitheft zum Bilderbogen, in dem auch einige Details des Panoramas erläutert werden.

Sacco bleibt sich in seinem Panorama in zwei wesentlichen Punkten treu. Zum einen ist er wie immer überaus detailversessen, das ist der akkurate Journalist in ihm. Im britischen Kriegsmuseum recherchierte er all die Kleinigkeiten, von den Uniformen bis zur Beschaffenheit und Funktionsweise der Waffen. „Ich versuche, Menschen und Objekte so genau wie möglich wiederzugeben, da ich der Ansicht bin, dass alles, was korrekt gezeichnet werden kann, auch korrekt gezeichnet werden sollte.“ Zum anderen weicht er auch für das Weltkriegspanorama nicht von seinem cartoonhaften Stil ab, in dem man seine Begeisterung für Robert Crumbs Ironie wiedererkennt. Seine Arbeiten brauchen diese Distanz zur Wirklichkeit, in einem noch realistischeren Stil wären sie noch schwerer zu ertragen.

Der Vorschau seines amerikanischen Verlags Fantagraphics kann man bereits entnehmen, dass die Anlehnung an Crumb in seinem nächsten Werk „BUMF Vol. 1: I buggered the Kaiser“ so deutlich wie nie zutage treten wird. Auch darin wird es um die amerikanische Kriegshistorie im 20. Jahrhundert gehen. Stilistisch aber erinnert „BUMF“ an Crumbs Underground-Comix, wie man sie aus Magazinen wie „ZAP“ oder „Weirdo“ kennt. „Ich wollte mal etwas anderes machen als Journalismus. So ist diese politische Satire entstanden, die in Teilen derart obszön gezeichnet ist, wie man es von mir noch nicht kennt.“

Bis zum Erscheinen dieses neuen Werkes bleiben Saccos Berichte von den Kriegsschauplätzen der Moderne sowie das Weltkriegspanorama. Gemeinsam zeigen sie, dass die Zahl der Kriegsopfer im vergangenen Jahrhundert zwar abgenommen hat, der Schmerz und der Kummer der Leidtragenden aber gleich geblieben sind. Und wir beginnen zu verstehen, was Sacco meint, wenn er sagt: „Für mich sind Vergangenheit und Gegenwart Teil der gleichen Sache.“

JOE SACCO

Joe Sacco wurde 1960 in Kirkop auf der Insel Malta geboren und lebt heute in Portland, Oregon. Er studierte Journalistik und begann 1988, seine Reisen in Comics festzuhalten. Sein Panoramabild „Der Erste Weltkrieg. Die Schlacht der Somme“ ist in der Edition Moderne erschienen und kostet 35 Euro

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