Große Schwestern

In den USA sind die Scissor Sisters außerhalb New Yorks immer noch eine skurrile Randerscheinung, in Europa verkaufte sich das Debütalbum der queeren Band, die sich nach einer lesbischen Sexstellung benannte, millionenfach. Beim nun erscheinenden Nachfolger hat sogar Elton John mitgeholfen.

Während sich Barcelona dampfend von einem Wolkenbruch erholt, lümmeln auf der Wiese im Herzen des „Sonar“-Festivalgeländes ein paar hundert Unverdrossene herum, blättern gelangweilt im Tagesprogramm, lesen darin, dass die Mitglieder der Band White Diet, die für 16 Uhr angekündigt ist, aus der Slowakei, aus Israel und Nepal stammen und leidenschaftlich gerne Klezmer mit HipHop und IDM vermantschen. Die Neugier hält sich in Grenzen.

Doch als man gerade dabei ist wegzudösen, tönt es auf einmal von der Bühne: „White Diet haben abgesagt, wir sind für sie eingesprungen.“ Und schon scheuchen die ersten Akkorde von „Take Your Mama“ und die sich an den stolpernden Beat schmiegende Stimme von Jake Shears die Herumlungernden auf, die verzückt erkennen, dass sie in einen Überraschungs-Gig der Scissor Sisters hineingeraten sind. „Barcelona ist definitiv eine meiner Lieblingsstädte“, verrät Shears einen Tag zuvor beim Interview. Mit Schlagzeuger Paddy Boom hat er es sich in der Suite eines postmodernen Hotelungetüms bequem gemacht, von dem es nur wenige Schritte bis zu Gaudis Kirchenmonster Sagrada Familia sind. Solche Gegensätze liebt Shears an Barcelona. Seit sieben Jahren kommt er jeden Sommer hierher, um sich bei „Sonar“, dem weltweit größten Festival für progressive Musik, ein bisschen auszutoben. Erst schleppte er nur einen Rucksack mit, dann Kumpel Babydaddy, mit dem er sogleich die Scissor Sisters gründete. Inzwischen reist er mit Band. „Mein erster Sommer bei ,Sonar‘ war eine Art musikalisches Erwachen für mich“, sagt der einen stets mit eisblauen Augen unternehmungslustig musternde

Shears, „es war das erste Mal, dass ich Fisherspooner sah und Miss Kittin mit Golden Boy. Und ich weiß noch, dass ich dachte: Wenn die das können, kann ich das auch.“

Weder zum Toben noch zum Vergleichen bekommt er in diesem Jahr viel Gelegenheit. Shears verbringt in Barcelona die meiste Zeit im Hotel, um über die zweite Scissor Sisters-Platte „Ta-Dah!“ zu sprechen. „Der Titel fasst das Album gut zusammen“, glaubt er, „weil er für das Magische und die Macht der Illusion im Showbusiness steht, und weil er mit den Erwartungen spielt, die mit einem Nachfolgealbum verknüpft sind.“ Die sind nämlich riesig. Vor allem in Großbritannien. Kein Album hat sich dort vor zwei Jahren besser verkauft als das Debüt der New Yorker. 2,4 Millionen Exemplare sind Jake Shears, Babydaddy, Ana Matronic, Del Marquis und Paddy Boom auf den britischen Inseln losgeworden. Sie waren die Stars beim Glastonbury- und beim V-Festival, heimsten 2005 drei Brit-Awards ein, und das schwule englische Lifestyle-Magazin „Attitude“ wählte „Scissor Sisters“ sogar vor ABBAs „Arrival“ zum „greatest Gay-Album of all time“. Wahrscheinlich werden sie demnächst von den Engländern adoptiert. Paddy Boom mimt derweil immer noch den Ungläubigen: „Nur sehr wenige Menschen kommen ihrem Traum einmal wirklich nah“, sagt der Schlagzeuger, „viele sterben, ohne jemals in Reichweites ihres Traum gekommen zu sein, manche Leute sterben sogar, ohne jemals einen Schritt in die richtige Richtung gemacht zu haben. Wir dagegen leben das Leben unserer Träume.“

Mit ihrem Genres und Geschlechterrollen durcheinander wirbelnden Pop-Eklektizismus, ihrem Hang zu Pathos und Travestie bedienen die Scissor Sisters ein urbritischen Verlangen nach Rockopulenz, das früher Freddie Mercury mit Queen stillte und das zuletzt von The Darkness nur noch unzureichend befriedigt wurde. Und dass sich auf die 2001 in der New Yorker Club-Szene entstandene Band Dance- und Rockfans gleichermaßen einigen können, treibt Labelmanagern ob des Marktpotenzials Tränen in die Augen.

Auch im Rest der Welt läuft es gut. Nur in den USA tun sich die Scissor Sisters etwas schwer, werden häufig sogar für Briten gehalten. „Die USA sind seltsam“, meint Shears, „der Mainstream-Markt ist total abgeschottet, und man wird im Radio nur gespielt, wenn man die Sender dafür bezahlt.“ Sein Schlagzeuger hat einen anderen Grund für den eher mäßigen Erfolg in den USA ausgemacht: „Schuld ist George Bush, der Schwule hasst“, behauptet Paddy Boom grinsend, glaubt aber auch, dass man sich vom verzerrten Maßstab nicht beirren lassen sollte: „Eigentlich sind wir zu Hause sogar richtig erfolgreich. Für eine Band wie uns ist die Zahl der Platten und Konzerttickets, die wir in den USA verkaufen, recht ordentlich und ganz normal. Nur die Verkaufszahlen überall sonst sind völlig unnormal.“

Richtig genießen konnte die Band diesen Erfolg aber noch nicht. Nach der Veröffentlichung ihres Debüts waren die Scissor Sisters erst mal ständig unterwegs. Als sie schließlich nach New York zurückkehrten, soll Shears letztes Jahr laut der britischen Boulevardzeitung „Sun“ in ein so tiefes Loch gefallen sein, dass er sogar Selbstmordgedanken hatte. Jetzt, nachdem das neue Album fertig ist, hört sich das etwas anders an: Sein größtes Problem sei derzeit, dass er vor kurzem das Rauchen aufgegeben habe.

„Natürlich war es ein bisschen schwierig, sich zu Hause zurecht zu finden, als wir von der Tour zurückkamen“, sagt Shears, „und es ist ein komisches Gefühl, wieder mit den alten Freunden um die Häuser zu ziehen. Aber ich glaube, wir sind durch das, was in den letzten Jahren erlebt haben, ein bisschen erwachsener und ernsthafter geworden.“

Das weiß die Band in Barcelona bei ihrem Überraschungs-Gig gut zu verbergen. Im „Sonar Village“ hat sich schnell herumgesprochen, wer das auf der Bühne ist. Aus allen Ecken strömen Nachzügler herbei. Sie kriegen Hits wie „Laura“ zu hören, aber die Scissor Sisters probieren auch einige der „Ta-Dah“-Nummern aus. Etwa die niedliche Burleske „I Can’t Decide“, bei der sich Babydaddy ein elektrisches Banjo in Flying-V-Form umschnallt. „Viele Leute finden ja, dass

Banjos albern sind“, sagt Shears‘ Co-Sängerin Ana Matronic bei dem Auftritt, „darum haben wir gedacht, wenn wir ein Banjo benutzen, dann muss es das albernste Banjo der Welt sein.“ Und überraschend schnell lernt die Dance-Fraktion, selbstvergessen zu Bluegrass-Pop zu tanzen.

Die Band, die uns schon auf ihrem ersten Album beibrachte, zu Pink Floyd-Epen wie „Comfortably Numb“ wild herumzuzappeln und Elton John zu einer verdammt coolen Sau erklärte, fing mit den Aufnahmen für „Ta-Dah!“ erneut in Babydaddys Schlafzimmer an. Und wieder durften dort die Musikstile schamlos miteinander herumknutschen. Honky-Tonk-Pianos, Funk-riffs und Bay City Rollers- Harmonien erstrahlen nun im Licht der Discokugel glamourös und sexy. Mal macht die Band einen auf Electroclash, mal legt sie im bereits seit einiger Zeit im Scissor Sisters-Live-Repertoire vertretenen „Everybody Wants The Same Thing“ etwas Southern Rock nach. „Wir sind beim Aufnehmen ziemlich genauso vorgegangen wie bei der ersten Platte, haben dasselbe Equipment verwendet“, sagt Shears, „allerdings wussten wir dieses Mal etwas besser, was wir da eigentlich tun. Deshalb klingen die Songs nach mehr Substanz.“ Und weil den Schwestern in Babydaddys Wohnung irgendwann doch die Decke aut den Kopf fiel, richtete man sich ein paar Straßen weiter ein Studio und auf hohen Besuch ein.

Denn aus dem musikalischen Flirt mit Elton John, der auf dem Debüt noch eher einem Anhimmeln aus der Ferne glich, scheint sich was Ernst- und Dauerhaftes zu entwickeln, wie nicht nur Weitwinkel-Balladen wie „Land Of Thousand Words“ und Stampfer wie „She’s My Man“ verraten. „Als wir das erste Mal im Vorprogramm von Elton John auftraten, habe ich sogar meine Mutter zu der Show einfliegen lassen“, bekennt Shears, der inzwischen ein enger Freund des Mannes ist, den er als einen „der lustigsten, schlausten und großzügigsten Menschen, die ich je getroffen habe“ charakterisiert.

Elton John, dessen neues Album „The Captain & The Kid“ eine Woche vor dem Scissor Sisters-Album in den Läden steht, spielt auf einigen der „Ta-Dah“-Songs Klavier und hat mit Shears das lustig-unlustige Lied „I Don’t Feel Like Dancin'“ geschrieben. „Was mir an diesem Song am besten gefällt“, sagt Shears, „ist, dass er nicht wie ein Elton-John-Stück klingt, sondern unsere Handschrift trägt.“ Tatsächlich wirkt das zwischen Las Vegas und New York entstandene Stück eher wie eine verloren gegangene Nummer der Bee Gees. „Finde ich gar nicht“, widerspricht Shears, „die hat eher was von Dolly Parton.“ Und Paddy Boom meint trotzig: „Ich höre da eigentlich nur die Doobie Brothers durch.“

Sir Elton und die Scissor Sisters haben von dieser Sorte noch mehr in der Schublade: „Uns ging es überhaupt nicht darum, irgendwas für das neue Album zu schreiben“, behauptet Shears, „wir wollten nur wissen, was wir zusammen zustande bringen können, und haben jede Menge Partysongs und Balladen geschrieben. Vielleicht verwenden wir einige davon später mal selbst, vielleicht geben wir welche an andere weiter.“

Auch seinem anderen Idol ist Shears endlich nähergekommen. Früher lauerte er dem New Yorker Schriftsteller Michael Cunningham vergeblich auf Partys auf und versuchte es mit Telefonterror, um an den Pulitzerpreisträger („The Hours“) heranzukommen. Inzwischen haben sich Shears und Cunningham bei einem Abendessen die Liebe für die Arbeit des jeweils anderen gebeichtet. Und in dem Rührstück „On The Other Side“ gelingt es Shears verblüffend gut, die Ambivalenz von Todessehnsucht und Liebesverlangen, die Cunninghams neuen Roman „Specimen Days“ (auf deutsch „Helle Tage“) prägt, nachzuempfinden: „Als ich Michael Cunningham vorein paar Wochen das Lied vorgespielt habe, fing er fast an zu heulen“, sagt Shears stolz.

Für dermaßen sentimentale Momente reicht beim Sonar-Auftritt die Zeit allerdings nicht. Die Songs mit Elektrobeat-Rückgrat kommen dort am besten an. Und so flirtet Ana Matronic bei „Filthy/Gorgeous“ heftig mit den ersten Reihen, und Shears, der früher, um die Miete zu bezahlen, als Stripper in Schwulenbars aufgetreten ist, legt fachmännisch seinen Oberkörper frei. Es gebe aber einen Riesenunterschied zwischen dem Strippen und dem Musizieren, verrät er: „Als Stripper konnte ich nur ein Hundertstel von all den Dingen machen, die ich als Musiker auf der Bühne machen kann.“

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