Kleine Mädchen kapieren das

Die anzüglichen Hits, die Serge Gainsbourg für France Gall, Brigitte Bardot oder Jane Birkin schrieb, waren in Wirklichkeit der Beginn der Pop-Girl-Power. Von Magnus Klaue

Zugegeben: Wenn man sich einmal für einen Moment aus dem Kreis der Schwärmer und Anbeter entfernt, dann fällt es erstaunlich schwer, etwas Gutes über Brigitte Bardot zu sagen. Sexsternchen, Vorbild für die Körperformen der französischen Nationalikone Marianne, Ehefrau von Gunter Sachs, Tierschützerin, Schwulenhasserin, Anhängerin des Front National und gerichtlich verurteilte Rassistin – was gibt es da noch zu retten?

Immerhin aber hat „B.B.“ vor ihrem geistigen und moralischen Niedergang eine Zeit der Selbstbesinnung erlebt. Mitte der 60er-Jahre war das, als sie die existenzialistisch verbrämten Erotikstreifen, in denen sie für ihren Mann Roger Vadim die ewige Blondine verkörperte, satt hatte und für Regisseure der Nouvelle Vague vor die Kamera trat. 1961 für Louis Malle in „Vie Privée“, zwei Jahre später für Jean- Luc Godard in „Le Mépris“. Zur gleichen Zeit trat der französische Yéyé-Pop, auch Girl-Pop genannt, seinen Siegeszug an: ein Crossover zwischen traditionellem Chanson, Pop und Beat mit Twist- und Swing-Elementen. Und hier eröffnete sich auch für das Mannequin, die Actrice und notorische Skandalnudel ein Karrierezweig, den sie intensiver hätte verfolgen sollen: der Gesang.

Brigitte Bardot hatte nämlich wirklich eine schöne Stimme, hell und warm, sinnlich und klar artikuliert, mit einem Timbre voller Geist und Ironie – was sie selbst wohl nicht mal gemerkt hat. Von den Songs, die sie in den 60ern interpretiert hat, klingen viele wegen ihrer respektlosen Komik und charmanten Doppelbödigkeit nämlich noch heute so unverbraucht wie am ersten Tag. Das großartige „Ciel De Lit“ etwa, in dem sie die komplizierte Arbeitsteilung erläutert, der sich Ehemänner und deren Geliebte im Alltag unterwerfen müssen, oder „Je Danse Donc Je Suis“, quasi ein feministisches Manifest der populären Beatkultur.

All diese Lieder greifen die widersprüchlichsten Klischees auf: die Frau als Sinneswesen, männerfressender Vamp, kindliche Unschuld. Und wie genüsslich und provokant die Chansons diese Rollen verhandeln, das merkt man erst im Vergleich zu den postmodernen Diskursen von heute. In den Bardot-Songs wird nämlich nichts „dekonstruiert“ oder subversiv parodiert – die stereotypen Parts, die Frauen in der männlichen Fantasie spielen, erscheinen hier eher wie überraschende Verkleidungen, in denen die Geschlechter sich gegenseitig an der Nase herumführen. Wenn man Brigitte Bardots Hits hört, erscheinen Mode, Maskerade, Spiel und Koketterie nicht mehr als Hindernisse auf dem Weg der Frau, ihre Selbstbestimmung zu finden, vielmehr scheinen sie gera-de die Voraussetzung dafür zu sein.

Wenn Serge Gainsbourg, der als Mitbegründer des Yéyé-Pop gelten kann und für fast alle Repräsentantinnen dieser Stilrichtung wichtige Lieder geschrieben hat, bis heute der Ruf eines frauenfeindlichen Don Juan anhaftet, beruht dies großteils auf einem Missverständnis. Von seinen privaten Beziehungen zu Frauen mag man halten was man will – die Texte, die er für Bardot, France Gall, Françoise Hardy und seine damalige Partnerin Jane Birkin geschrieben hat, zeugen von einer erstaunlichen Sensibilität für weibliche Rollenklischees und chauvinistische Fantasmen – aber auch für einer Liebe zum vermeintlich Abgeschmackten, Konventionellen. Mit untrüglichem Gespür ist es Gainsbourg gelungen, fast jedem seiner prominenten Yéyé-Girls eine musikalische Doppelidentität zu schaffen – welche, das werden wir gleich sehen.

Und wenn Gainsbourg in seinen Songs also die sexuellen Stereotypen aus 60er-Jahre-Gesellschaft und Popkultur verwendete, dann nur zu einem Zweck: um zu entlarven, wie verklemmt sie waren. „Harley Davidson“, eines der bekanntesten Lieder, die er für Brigitte Bardot geschrieben hat, entwirft einerseits den typischen Wunschtraum von der blonden, geilen Motorradbraut, die sich lasziv auf des Mannes liebstem Spielzeug räkelt – andererseits aber auch die Gegenfantasie von der selbstbestimmten Frau, die sich aus eigener Freiheit heraus zur Herrin ihres Lebens erhebt. Und keinen Mann mehr für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse benötigt. „Je n’ai besoin de personne/ En Harley Davidson“ („Auf einer Harley Davidson brauche ich sonst niemanden mehr“), triumphiert im Refrain das weibliche Ich, das auf einer „Höllenmaschine“ die Erde zu verlassen und ins „Paradies“ zu fliegen vermeint.

Das traditionelle Bild von Gainsbourg als eindimensionalem Lüstling könnte also kaum falscher sein: Typisch für seine Perspektive ist eher, wie aus den chauvinistischen Pascha-Wunschträumen plötzlich aggressive, selbstermächtigte Amazonen hervortreten, die sich dem männlichen Zugriff entziehen. Um das zu merken, muss man allerdings gut zuhören. Und die Lieder beim Wort nehmen.

Seine Songs für Bardot variieren diese Logik immer wieder: In „Comic Strip“ stellt sich das männliche Ich die weibliche Figur als Mitspielerin in einem Action-Comic vor, in „Contact“ tritt Bardot als musikalische Barbarella auf, wie Jane Fonda sie in Roger Vadims Verfilmung des gleichnamigen Science-Fiction-Comics verkörpert hat – als außerirdisches Wesen, dessen Herz von einem Meteoriten gebrochen worden ist und das nun die Ärzte auf der Erde um Hilfe anfunkt.

Die „starken“ Frauenfiguren, die Bardot in all diesen Liedern darstellt, erschöpfen sich eben nie im Abziehbild der Gangsterbraut, der Koketten oder Femme Fatale, sondern sind Bilder des Selbstbewusstseins, der Ungebundenheit, mit denen sich die weiblichen Fans dieser Musik durchaus identifizieren konnten. Gerade weil sie nicht politisch korrekt und bierernst daherkommen, sondern mit Verve und lässigem Zynismus. Gerade weil sie nicht an die weibliche Opferrolle appellieren, um neue Freiheiten einzuklagen, sondern sich von der Patronage durch Väter, Ehemänner und andere Schützlinge endgültig losgesagt haben.

Während Sylvie Vartan, die innerhalb des Yéyé-Pop den Typus der ungebundenen, ihr männliches Umfeld ironisch beobachtenden Koketten verkörperte, kaum mit Gainsbourg zusammengearbeitet hat, ist der Karriereweg des dritten Yéyé-Girls, France Gall, ohne Gainsbourgs Einfluss undenkbar. Sie schien geradezu dafür prädestiniert, alle Obsessionen und Ticks des Meisters ästhetisch auf den Punkt zu bringen: seine lebenslange Vorliebe für Variationen des Lolita-Mythos, seine Begeisterung für scheinbar naiv und bewusstlos zur Schau gestellte Obszönitäten, aber auch seine geschmeidige Verbindung von musikalischem und sprachlichem Witz.

Anders als Bardot und Vartan, aber auch anders als Françoise Hardy, für die Gainsbourg „Comment Te Dire Adieu“ geschrieben hat und die ein für den Yéyé-Pop eher untypisches, „seriö-ses“ Mädchenbild darstellte, verfügte France Gall kaum über ein im klassischen Sinn entwickeltes Timbre. Ihre Stimme klingt, gerade in Evergreens wie „Bébé Requin“, „Sacré Charlemagne“ oder „Poupée De Cire, Poupée De Son“, im Gegenteil eher grell, kreischend und infantil. Die billigen Rhythmusmaschinen, übersteuerten Instrumente und oft windschiefen Melodieführungen tun ein Übriges, um ihre Songs zu Glanzstücken des Trash-Pop zu machen, gegen deren ungelenken Charme wohl nur unverbesserliche Puristen immun sind. So konnten die Nummern zu Beispielen eines neuen, bis heute einzigartigen Liedgenres avancieren: nicht jugendfreie Hits für die ganze Familie, die heutzutage, hätten sie noch den gleichen Verbreitungsgrad, unweigerlich den Zensor auf den Plan rufen würden.

In den Liedern von France Gall geht es, mit dem Augen des Jugendschützers betrachtet, unter anderem um Oralsex („Les Sucettes“), weibliche Masturbationsfantasien („Polichinelle“), den Drogenkonsum Minderjähriger („Teenie Weenie Boppie“) und die Anzüglichkeiten guter Onkels („Bonsoir John John“) – und das mit einer Lässigkeit, Selbstverständlichkeit und Harmlosigkeit, die den angestrengten Sexismus des Gangsta-Rap alt aussehen lassen und jedem freiwilligen Selbstkontrolleur die Schuhe auszögen, würde er sie nur kennen.

Obwohl längst nicht alle explicit lyrics in den Liedern France Galls von Gainsbourg beigesteuert worden sind, gibt der Text, den er für „Les Sucettes“ („Die Lutscher“) geschrieben hat, in gewisser Weise den Prototyp der Gall-Songs aus den 60er-Jahren ab. Komponiert ist der Song wie die (buchstäbliche!) Zuckerguss-Variante eines traditionellen Wiegenliedes, und auch im Refrain werden die Träume eines unschuldigen Mädchens mit blauen Augen evoziert, das sich „im Paradies“ wähnt, wenn es an den titelgebenden Zuckerstangen schleckt.

Der gesamte Text mit seiner Metaphorik des Zuckers, des Leckens, des ekstatischen Geschmackserlebnisses, ist bis in die lautliche Ambivalenz einzelner Worte hinein („pennys“ – „Penis“) sexuell doppeldeutig. Man kann ihn ebenso ganz und gar naiv wie auch ganz und gar obszön verstehen. Die damals 18-jährige Gall, die den anzüglichen Unterton des Liedes einer oft kolportierten Geschichte zufolge überhaupt nicht begriffen hat, bevor sie auf die Belustigung der Zuhörer im Tonstudio aufmerksam wurde, singt Strophe für Strophe wie einen Gassenhauer auf dem Weg zur Schule.

„Les Sucettes“ lässt sich, sofern man Gainsbourgs Coup nicht von vornherein moralisch verurteilt, auf verschiedene Weise deuten: etwa als Geschichte über den fließenden Übergang zwischen kindlicher Unbefangenheit und Sexualität, der ja durchaus den Erfahrungen der Vorpubertät entspricht, in der es keine Grenze zwischen sexuellen und „unschuldigen“ Vorstellungen und Wünschen gibt. Oder als Karikatur des zeitgenössischen Mädchen-Kults, an dem der Girl-Pop selbst mitgewirkt hat. Oder sogar als musikalische Sprachkritik, die den Beweis antritt, dass es keine „reine“ Sprache ohne schmutzige Doppeldeutigkeiten geben kann.

Vom Lolita-Mythos, der in Gainsbourgs Liedern für Jane Birkin, aber auch im „Melody Nelson“-Album eine prominente Rolle spielt, unterscheidet sich der von Gall verkörperte Frauentypus allerdings entscheidend. Wenn sie von den Freuden des Zuckerschleckens singt, in „Polichinelle“ davon träumt, wie eine Weihnachtsmannpuppe zum Prinzen wird und in ihr Bett springt, oder in „Teenie Weenie Boppie“ einen LSD-Trip nach Art einer launigen Achterbahnfahrt beschreibt, geht ihr das Spielerische, herausfordernd Provokante einer klassischen Lolita gerade ab.

Eine für Gainsbourg charakteristische Wendung erhält der Lolita-Mythos in den Liedern für Jane Birkin, die mit ihrer heiser-gehauchten, oft kaum hörbaren Stimme im Universum des Yéyé-Pop eigentlich den Typus der Femme Fragile, der ätherischen und vergeistigten, fast körperlosen Schönheit vorstellt. In den Songs für Birkin geht es immer wieder um die Abgründigkeit und Heimtücke solcher Schönheit, in deren Glücksversprechen sich die männlichen Figuren verirren, aber auch um den Hass der Gesellschaft auf die Anziehungskraft des Weiblichen, das den Verklemmten überdeutlich vorführt, wonach sie sich heimlich sehnen.

Dies ist das Thema von „Lolita Go Home“, einem Schlüsselsong des Yéyé-Pop. Die weibliche Ich-Erzählerin berichtet hier von den Ressentiments, der Verachtung und Gleichgültigkeit, die ihr wegen ihrer vorgeblichen Frühreife entgegenschlagen. Konsequenz: Sie reißt aus. Die gleiche bürgerliche Gesellschaft, die sich an Bildern der Kindfrau und Lolita als einer unverbrauchten, ewig jungen und sexuell verfügbaren Schönheit erfreut, kann es offenbar nicht dulden, wenn jemand tatsächlich frühreif ist und den Lolli selbstbewusst in die Ecke wirft.

Ganz ähnliche Frauenfiguren stehen – aus unterschiedlicher Perspektive – im Mittelpunkt von Liedern wie „Baby Alone In Babylon“ oder „Jane B.“, die Gainsbourg für Birkin komponiert hat, um ihr die fiktive Rolle einer unter der eigenen flüchtigen Schönheit leidenden Tragödin auf den Leib zu schreiben – als jene „Jane B.“, die ein weibliches Komplement zu Gainsbourgs eigenem Alter Ego Gainsbarre ist, dem brutalen Verführer und exzessiven Trinker.

Doch wie Gainsbourg neben dem imaginären Gainsbarre bis zum Schluss nie ganz verstummt ist, so gab es im Yéyé-Pop neben „Jane B.“ immer auch eine dämonischere, aggressivere Variante der Birkin-Figur. Sie kam in Songs wie „Si Ça Peut Te Consoler“, „Le Canari Sur Le Balcon“ oder „Les Dessous Chics“ zur Sprache, die auf verschiedene Weise den Typus der untreuen, grausamen oder auch kalten Frau rehabilitieren.

Das weibliche Ich in „Si Ça Peut Te Consoler“ erinnert den angesprochenen, sich in seinem Verlassensein suhlenden Mann in kühler Nonchalance daran, dass er nicht der Erste und wohl kaum der Letzte ist, dem so etwas passiert. Und in „Le Canari Sur Le Balcon“ – in seiner Kürze und Beiläufigkeit eines der kompromisslosesten Lieder von Gainsbourg – erzählt Birkin scheinbar unberührt und in frostiger Süßlichkeit von dem Selbstmordversuch einer Namenlosen. In all diesen Liedern wird das Bild des eiskalten Engels variiert, der die als „typisch weiblich“ imaginierte Wärme und Emotionalität eben nicht besitzt. Die gefühlskalte Frau, die Jane Birkin hier spielt, müsste dem damaligen Geschlechterideal nach eigentlich ein Mann sein.

Den Gedanken, Weiblichkeit sei eine Rolle, in der keine Frau je ganz aufgehen kann, die vielmehr bewusst gespielt werden müsse, wenn sie denn mehr als ein abgeschmacktes Klischee sein soll – diese Ide haben Gainsbourg und der französische Girl-Pop zu einer Zeit formuliert, als er noch nicht durch Gender Studies und eine ganze Performance-Industrie zum pseudoemanzipatorischen Ticket herabgesunken war. Die besagten Songs bleiben Zeugnisse einer Epoche, in der das Bewusstsein, dass Weiblichkeit und sexuelle Eigenständigkeit vereinbar sind, für einen Moment tatsächlich die Massen ergreifen konnte. Zu einer Zeit, in der Mode, Stilisierung und Selbstverkunstung noch nicht zur faden politischen Strategie verkommen waren.

Nach heutigen Kriterien erscheint Girl-Pop daher geradezu zwangsläufig als rückschrittliches und künstlerisch indiskutables Trash-Phänomen. Als solches hat er auch eine beachtenswerte Renaissance erfahren – zum Beispiel dank der Band Stereo Total, die, unter expliziter Huldigung Gainsbourgs, jahrzehntelang fast nichts anderes betrieben haben als ein Elektropop-Recycling des Girl-Pop. Das beständige Changieren zwischen deutscher und französischer Sprache klingt wie ein ironisches Echo auf die zweite Karriere France Galls in Deutschland, wo sie als Abziehbild-Französin mit putzigem Akzent Schlager wie „A Banda“ zum Besten gab.

Doch die naive Emphase, die niedliche Ernsthaftigkeit, die selbst diese Anfänge „interkultureller Vermittlungsarbeit“ auf dem Feld populärer Musik prägten, haben die immer etwas zu routiniert wirkenden Parodien von Stereo Total nicht mehr. Erst recht nicht die durchgestylte Lounge-Musik, die in Frankreich inzwischen als Renaissance des traditionellen Chansons ausgegeben wird. Die überzeugendste Fortsetzung der von ihm begründeten Tradition ist Gainsbourg selbst gelungen, als er Anfang der 80er mit seiner Tochter Charlotte in dem beunruhigenden Video zu „Lemon Incest“ die Inzest-Variante des Lolita-Mythos in Szene setzte und mit der inzwischen fast schon wieder vergessenen Vanessa Paradis eine späte Nachfolgerin von Birkin zu entdecken glaubte.

Seither ist es still um den Girl-Pop geworden, der im Jahr 2010 ebenso fern scheint wie die fröhliche Aufbruchszeit, in der er entstand.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates