„Nicht schlucken!“: Helmut Krausser über einen Mann, der sein Sperma sammelte

Helmut Krausser über einen Menschen, dessen Sammelleidenschaft zur Obsession wird – obwohl der nur sein Altern bekämpfen will

Die krasseste Form von Sammelleidenschaft habe ich mal in einem ganz frühen Roman („Könige über dem Ozean“) erwähnt, wo ich allerdings nicht den Platz hatte, die Geschichte ausführlicher zu erzählen, mit all den Details, die sie nötig und verdient hätte. Man würde vermutlich auf den ersten Blick von einer Form narzisstischer Störung sprechen, doch so einfach ist es nicht. Nennen wir ihn M. – oder Emm, das sieht nach etwas mehr aus. Da er vielleicht noch lebt, ist Diskretion geboten. Emm war oder ist jemand, der zurückgezogen in einem Münchner Vorort hauste oder immer noch haust, wenngleich ich glaube, dass er sich einen Münchner Vorort schon lange nicht mehr leisten könnte. Egal. Dieser Mensch Emm sammelte sich selbst. Anfangs aus reiner Neugier, erzählte er mir, denn er wollte wissen, sehenden Auges erfahren, wie viel er im Laufe eines Jahres so von sich selbst absonderte. Also schnitt er sich die Nägel in einem verschlossenen Raum, in dem es für keinen abgeknipsten Finger- oder Zehennagel ein Entkommen gab. Er sammelte sie in Plastikdosen und fand ein sonderbares Gefallen daran, das Häufchen menschlicher Keratinsplitter wachsen zu sehen, bis die Dose voll war und versiegelt wurde. Und eine neue Dose wurde gefüllt und neben die andere gestellt, in einer feierlichen Reihe, in einem Fach eines extra zu diesem Zweck gekauften Schränkchens. Das lässt sich noch einigermaßen nachvollziehen.

Tränen als Teil einer Göttlichkeit

Mit seinem Haar hielt er es bald ebenso, und das war nur konsequent. Ich weiß, der Leser ist viel gewohnt und von wenig geschockt, und so wird sich ihm die Frage aufdrängen, ob dieser Mensch Emm denn eventuell sogar seinen Kot und seinen Urin gesammelt habe. Das nicht. Abgesehen davon, dass solcherlei Gebaren eine Menge Probleme logistischer und olfaktorischer Natur mit sich gebracht hätte, war das, was er aß und trank und wieder ausschied, ja nicht er, das war nur zu Besuch, zu Gast bei ihm. So weit, so gut. Eine Marotte, würde man sagen, aber nicht sehr kostspielig, und weder gemeingefährlich noch komplett abartig. Eines Tages dann sah sich Emm im Fernsehen den bekannten Film „Quo vadis?“ an, mit dem göttlichen Peter Ustinov als Kaiser Nero. Emm sieht die Szene, als Nero um seinen verlorenen Freund Petronius eine (Krokodils-)Träne weint und sich eine Phiole in Form einer winzigen Amphore kommen lässt, um die Träne einzufangen und die Amphore zu verschließen und zu archivieren. Im Film wird nicht explizit erklärt, warum Nero das tut, denn es erklärt sich von selbst. Die Träne eines gottgleichen römischen Kaisers darf nicht schnöde zu Boden fallen, sie ist Teil seiner Göttlichkeit, ist also von Bedeutung, und wenn sie von Bedeutung ist, wohnt ihr eine Macht inne, zumindest eine Wirkungsmacht. Dies weiterzudenken führt in Labyrinthe und Hochgebirge, wo die Luft knapp und das Publikum spärlich wird. Unzweifelhaft in jedem Fall war die Wirkung, die diese Filmszene auf Emm ausübte.

Wenn der Spleen zur Sucht wird

Ob er klug oder schlicht, ein Vielreflektierer oder ein Bauchgesteuerter war, kann ich nicht sagen, ich kannte Emm nicht gut, und manches weiß ich nicht von ihm selbst, sondern von einer Frau, die ihn besser kannte, nennen wir sie Sandra, weil ich bis heute keine Frau näher kenne, die Sandra heißt. Sandra war mit Emm für kurze Zeit das, was man „zusammen“ nennt oder „gerade eben so zusammen sein“ nennen könnte. Der Leser wird sich fragen, wie ein Mensch wie Emm zu einer Sandra kommen kann, aber da wäre er prompt bei einer anmaßenden Vorverurteilung ertappt, denn anders, als der Leser ihn sich vielleicht vorstellt, war Emm ein noch junger Mann Mitte dreißig, von durchschnittlichem Aussehen und gepflegter Erscheinung. Ein wenig still vielleicht, aber gesellschaftlich kein Kauz oder Einsiedlerkrebs, damals war er es wenigstens noch nicht. Bis Peter Ustinov alias Kaiser Nero in ihm einen Schalter umlegte.

Fortan begann Emm anscheinend zu glauben, sich selbst zu sammeln besitze außerhalb der Zeittotschlagstrategie noch eine Art spirituellen Mehrwert. Ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus und weiß nicht, wie Emm das in eigenen Worten begründet hätte, ich glaube, er befand sich in einer ersten Midlife-Crisis und hatte begriffen, dass er nie mehr jünger werden würde und zum Tod verurteilt war. Wie auch immer, die Marotte wurde zur Obsession. Er sammelte seine Tränen, jede einzelne, was sich dramatisch anhört, de facto aber weinte er fast nie. Wenn doch einmal, stand das Notfallset zur Tränenarchivierung bereit. Man hätte argumentieren können, dass Tränenflüssigkeit – vulgo Wasser, größtenteils – ja auch nur bei ihm zu Besuch, zu Gast war, aber das sah er anders. Kot und Urin seien nur Abfälle, Relikte von etwas, das sein Körper ausgepresst und verwertet habe. Die Träne aber sei nicht nur Wasser, sie sei angereichert mit allem Möglichen, die Träne sei verwandeltes Wasser, sei einer Form von Wandlung unterworfen gewesen. Hier spielte plötzlich allerhand katholisches Gedankengut in ihm herum, obgleich er von sich behauptete, Agnos­tiker zu sein, denn Atheist zu sein dürfe er ja nicht von sich behaupten, da ihm die Beweise für eine Nichtexistenz Gottes fehlten.

Sammeln gegen das Alter

Er hatte durchaus lichte Momente, auch später noch. Doch dann trat Sandra in sein Leben, stolperte in sein Leben, sie war Alkoholikerin, er auch, irgendwann am Ende einer langen Nacht blieben sie aneinander kleben, und für ein paar Wochen ging das sogar gut. Sie schliefen selten miteinander, wenn doch, so benutzte er ein Kondom, und da Sandra hinterher meist sehr schnell im Bad verschwand, bekam sie nicht mit, wie er seinen verschleuderten Samen vom Kondom in die Phiole tröpfeln ließ. Sandra bekam erst mit, was lief, als sie Emm einmal unangekündigten Oralverkehr gönnte. Er kam sehr schnell in ihren Mund, und sein Stöhnen ging unmittelbar in ein hysterisches Schreien über. „Nicht schlucken! Nicht schlucken!“, habe er gerufen und von ihr verlangt, den Samen auf einen Unterteller zu spucken. Danach habe er geweint, die Tränen archiviert und sich ihr offenbart, woraufhin sie jede Lust auf weiteren Verkehr mit ihm verlor. Was ich über Emm sonst noch weiß, ist Hörensagen. Zwischendurch wurde erzählt, dass er ein ganzes Zimmer mit sich gefüllt haben soll, andere behaupten, er sei verrückt geworden, wieder andere sagen, er sei es immer schon gewesen. Würde ich auf Teufel komm raus eine doofe Pointe erfinden müssen, würde ich behaupten, Emm habe sich zu Lebzeiten auf dem Friedhof fünf Gräber nebeneinander gekauft. Damit er auch posthum noch alles Seinige beisammenhätte. Ich habe jüngst mit Sandra telefoniert, um neue Details zu erfahren. Sie konnte mir nicht helfen. Emm sei wohl ernsthaft der Meinung gewesen, man würde nur deshalb altern, weil man sich in der Welt verstreut. Ich frage mich, ob er, deutlich älter geworden, diesem Glauben jemals wieder abgeschworen hat. So sehr, um deswegen aufwändige Recherchen zu betreiben, interessiert es mich allerdings nicht.

(ROLLING STONE 10/2015)

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