Wer hat mein Lied zerstört? Coverversionen dominierten 2004 die Pop-Charts

Einfallslosigkeit, Versagensangst, Gaudi und ganz selten künstlerischer Anspruch: In den Charts war 2004 wieder ein großes Jahr für Coverversionen. Das Phänomen gilt mittlerweile als eigene kleine Wissenschaft.

Von Anja Rutzel Der vermaledeite Fortschritt! Der Fortschritt im Allgemeinen und die Entwicklung der Aufnahmetechnik im Besonderen, schrieb Conrad Keely (Kopf der Band „And You Will Know Us By The Trail Of Dead“) kürzlich in einem klugen Besinnungsaufeatz, hat die Musik ihrer Echtheit und – so absurd das zunächst klingt – Reproduzierbarkeit beraubt. Weil man sich nicht mehr selbst ans Klavier bequemt, wenn man ein Lied hören will, weil man nicht mehr für Musik arbeiten muss. Und weil der Künsder und sein aufgezeichnetes Schaffen in unseren Köpfen so untrennbar miteinander verschmolzen sind, dass wir Lieder nur noch in ihrer ursprünglichsten Aufnahme als Original anerkennen – und jede weitere Interpretation als billigen Abklatsch abtun. Völlig zu Recht, kann man finden, wenn man das Musikfernsehen in einem unglücklichen Moment einschaltet. 2004 bot so viele Coverversionen wie kein Jahr zuvor – und nicht nur mengenmäßig erschloss man neue Dimensionen.

Am Jahresende wurde es noch mal richtig bitter: Eurotrash-Dohle Loona machte sich über „Tears In Heaven“ her, Soap-Bub Dominic Saleh-Zaki sprach sich durch MFSBs „Love Is The Message“, und Eric Prydz‘ Version von „Call On Me“ (im Original von DJ Falcon & Thomas Bangalter, mit einem Zitat aus Steve Winwoods „Valerie“) lief samt halbgynäkologischem Tanzvideo in Dauerrotation. Christina Aguilera plärrte von der Arbeit im „Car Wash“ – die Charts als lange, finstere Karaoke-Nacht in der Tingeltangel-Bat Ganze Cover-Alben, die freilich mehr der Kunst als dem Kommerz (und der Einfallslosigkeit) gewidmet schienen, kamen über uns: Paul Weller rüschte auf „Studio 150“ unter anderem Neil Youngs „Birds“ und Bacharachs/Davids „Close To You“ mit extra Soultrompeten auf, und The Beautiful South nahmen sich auf „Golddiggas, Headnodders & Pholk Songs“ John Travoltas und Olivia Newton-Johns „You’re The One That I Want“ genauso an wie Willie Nelsons Valentine“. Die feinsinnigste Cover-Perle von 2004 blieb bislang leider offiziell unveröffentlicht: Die Neuinterpretation von 50 Cents „In Da Club“ durch einen Künstler namens 50 Shekel, der die Klatschbeats als Basis für sein jiddisches „In Da Shul“ („In der Synagoge“) verwandte: „You can find me in da shul, praying after school“, heißt es da, und aus 50 Cents „G-Unit“ wird eine Jew-Unit“.

Der Soziologe würde sagen: 50 Shekel spielt damit, sich auf ein schon existierendes Lied und die damit verbundenen Werte und Geschmacksurteile beziehen zu können – und schöpft damit das kreative Potenzial, das eine Coverversion in sich birgt, voll aus. Etwas plumper und entschieden weniger sophisticated versuchte das die Sängerin Frankee, als sie von ihrem (angeblichen) Ex-Freund Eamon in dessen unfeiner Beziehungsabrechnung „Fuck Ybu (I Don’t Want You Back)“ manche Frechheiten zu hören bekam: Sie nahm als zeitnahe Erwiderung das Selberdoof-Cover „Fuck You Right Back“ auf, in der sie über dieselbe Melodie ihre Version der Affäre erzählt.

Derartige Bearbeitungen, die tatsächliche Neuinterpretationen darstellen, blieben jedoch auch 2004 die Ausnahme im Cover-Genre. Der Höhepunkt des wohlfeilen und uninspirierten Nachsingsangs war erreicht, als der osteuropäische Sommerhit „Dragostea Din Tei“ im moldawischen Original von O-Zone und in einer Coverversion von Haiducii (jetzt mit schrillern Frauengesang) gleichzeitig Platz eins und zwei der deutschen Charts belegte. Etwas später veröffentlichte Antonia, früher als dralles Dirndl bei DJ Ötzi beschäftigt, unter dem Titel „Wenn der Hafer sticht“, noch eine deutsche Version des frohen Majahi-Majahaha-Gejodels, die dann aber bereits niemand mehr hören wollte-während der Seinszustand des ekelhaften „Holzmichel“, ein nachgesungenes Traditional aus dem Erzgebirge, noch auf reges Interesse stieß. Interessante Cover – wie etwa William Shatners zusammen mit Joe Jackson aufgenommenes, andachtsvoll gesprochenes „Common People“ von Pulp wurden von der Schwundstufe des Genres überschattet: wenn in den Casting-Shows große Hits von überdrehten Staranwärtern durchgenudelt wurden oder die „Big-Brother-Allstars“ zwischen zwei Wochenaufgaben noch geschwind „Our House“ und „We Are Family“ coverten.

Dass Coverversionen und ihr Anteil in den Charts stetig zunehmen, suggeriert nicht die eigene kulturgrantelnde Sicht, sondern ist nun auch wissenschaftlich erwiesen. Der Hamburger Musikwissenschaftler Marc Pendzich veröffentlichte kürzlich die Studie „Von der Coverversion zum Hitrecycling“, die erste systematische Untersuchung zum Thema. Seit Mitte der 80er Jahre, so sein Ergebnis, hat sich der Anteil der Coverversionen an den Tbp-100-Platzierten verdreifacht Jedes fünfte Lied, das heute im Radio gespielt wird, ist ein Cover. Für Pendzich hat dir große Nachsingwelle allerdings schon 1994 begonnen, mit Marushas Techno-Version des Judy-Garland-Klassikers „Somewhere Over The Rainbow“. Das Stück habe gezeigt, dass auch Musikstile in die Charts Eingang finden können, die sonst eher Musik für Minderheiten sind – sofern sie Anleihen bei bereits bekannten Melodien machen. Dabei unterscheiden sich Danceund HipHop-Versionen naturgemäß stark vom Original, weil im Gegensatz zu früher oft nur noch ein Teil des kompositorischen Originals in die neue Aufnahme übernommen wird, meist der Refrain, wobei die Grenze zwischen echtem Cover und bloßem Zitat fließt.

Dabei legt Pendzich Wert auf die Feststellung, dass es Coverversionen natürlich auch früher gab: „Der Unterschied besteht nur darin, dass wir heute alles kennen, was da gecovert wird. In den 70er und 80er Jahren beruhten Cover-Hits meist auf unbekannt gebliebenen Originalversionen. Wer weiß schon, dass living Next Door To Alice‘ nicht von Smokie stammt?“ Zuerst wurde es von der Band New World gesungen – Aufschluss bietet im Zweifelsfall ein Blick in die ausgezeichnete Datenbank der Seite www.coverinfo.de.

Neben den Veränderungen im Geschmack der Konsumenten (der unheilige Retro-Trend!) sind auch verschärfte Bedingungen in der Musikbranche ein Grund für den anhaltenden Cover-Eifer: Wer schon die erste, spätestens zweite Single gut verkaufen will, versucht es eben mit bereits bewährten Liedern fremder Leute. Die Rolling Stones haben es seinerzeit nicht anders gemacht: Dir erster Hit „I Wanna Be Your Man“ stammte bekanntlich von John Lennon und Paul McCartney (dessen „Yesterday“ heute mit mindestens 1600 Versionen das meistgecoverte Lied überhaupt ist). Kurz darauf nahmen die Beatles das Lied dann selbst auf- der erste ist eben nicht immer der echte, wie auch eine schöne Schnurre um David Bowie zeigt: Sein damaliger Manager hatte von Andy Warhol persönlich eine Testpressung der ersten Velvet Underground-Platte bekommen, gab sie an Bowie weiter – und dieser sang bei einem Auftritt die erste Coverversion von „Im Waiting For The Man“, bevor es das Lied offiziell überhaupt gab.

In glücklichen Momenten legen Coverversionen Hand an die Schöpfer- und Originalitätsmythen der Popkultur. Wie ist die Leistung von Künstlern zu bewerten, die ihr ganzes Schaffen auf die Transformation schon existierender Lieder gründen? Auch sie traten 2004 vermehrt in Erscheinung: Nouvelle Vague (die New-Wave-Klassiker als Bossa Nova verkleiden), Hayseed Dixie (unter anderem AC/DC im Hillbilly-Sound), Rodeohead (Radiohead als Bluegrass), Global Kryner (Oberkrainer-Versionen von Charthits) und am kommerziell erfolgreichsten sicher Dick Brave, das Rockabilly-Alter-Ego des schmusigen Sasha. Auch Frank Zander hat ein Coveralbum aufgenommen, auf dem er dem Vernehmen nach sehr gruselig bekannte Liebesballaden in Triebtäter-Intonation darbietet.

Eine Spielart ist bei allem Nachsingeifer ein wenig in Vergessenheit geraten: die vor allem in den 70er Jahren gepflegte Tradition des deutschen schlageresken Covers, das in Cindy & Berts „Der Hund von Baskerville“ (der deutschen Fassung von Black Sabbaths‘ „Paranoid“) ihren Höhepunkt fand – da Covern zu dieser Zeit noch als geistloses Epigonentum verachtet wurde, gab man dem Abgekupferten zumindest durch die andere Sprache den Anschein des Anderen, wenn auch nicht Neuen. Ein letztes Aufbäumen war zu konstatieren, als Roland Kaiser Natalie Imbruglias (ja selbst nur von der obskuren Band Ednaswap geliehenes) „Tom“ kongenial zu „Ausgebrannt und leer“ zimmerte.

Heute sind die Schlümpfe die letzten Bewahrer dieser ulkigen Praxis: Aus „I Wanna Be With You“ von den Backstreet Boys machten sie „Ich wünsch mir rote Schuh“, aus Scooters „Faster Harder Scooter“ „Schneller höher Schlümpfe“, und „Ich vermiss‘ dich wie die Hölle“ des Container-Knallchargen Zlatko wurde zu „Ich erkenn dich nur mit Brille“. Nur einmal bissen sie auf Granit: Noel Gallagher untersagte ihnen die Aufnahme von „Wondersmurf. Im Allgemeinen können sich die Originalkünstler allerdings nicht dagegen wehren, wenn ein anderer ihr Lied nachsingen möchte, solange die neue Version das ursprüngliche Werk nicht verunglimpft, sondern der Titel im Wesentlichen nachgesungen wird. Dafür bekommt der Urheber Tantiemen für Aufführungen und Ausstrahlungen der neuen Aufnahme, nur die Einnahmen aus den Verkäufen gehen an den Coverinterpreten.

Es gibt freilich auch Cover, bei denen es nicht in erster Linie um Verkäufe geht und die niemals in den Charts auftauchen. Ein schönes Beispiel ist „The Fred EP“, auf der unter anderem St. Etienne Hits von Right Said Fred singen – die Gruppe ist offenkundig eine beliebte Quelle für Indie-Cover, denn auch das geschmäcklerische Duo Phantom/Ghost gibt bei seinen Auftritten gern deren „Ybu’re My Mate“ als Zugäbe. Dabei können fremde Lieder im eigenen Set auch gefahrlich werden: Ryan Adams Strokes-Cover „Last Nite“ kam bei einem Konzert so gut an, dass er es, ein wenig beleidigt, in eine 15-Minuten-Version zergniedelte. Und nach Travis‚ „Baby One More Time“-Cover musste die Band bei ihren ersten US-Interviews in erster Linie über Britney sprechen.

Derartige amüsante Sperenzchen sind freilich die Ausnahme – die Regel bleibt auch 2004 esprit- und herzlos Nachgeträllertes, beispielsweise das nahezu komplette Schaffen von Ronan Keating, der seinen landläufigen Spottnamen „King Karaoke“ 2004 mit seiner Version des Lee-Ann-Womack-Titel „I Hope You Dance“ souverän bestätigte. Schon „If Tomorrow Never Comes“ (Garth Brooks), „We’ve Got Tonight“ (Bob Seger) und „When You Say Nothing At All“ (Keith Whitley) waren Coverversionen, auch Shane MacGowans „Fairytale Of New York“ sang Keating nach und ersetzte die Zeile „You cheap lousy faggot“ eilfertig durch „you’re cheap and you’re haggard“. Derlei hatte Jarvis Cocker wohl im Sinn, als er in „Bad Cover Version“ (auf dessen B-Seite Nick Cave und Moloko Pulp-Lieder darbieten) das Nachgesungene als Bild für das Sekundäre, weniger Wertvolle, Unzureichende wählte.

Dass Coverversionen trotz Negativbeispielen eine eigene Schönheit entwickeln können, proklamierten zuletzt die Kritiker des „Herald Tribüne“, die im Dezember eine Bestenliste der 50 schönsten Coverversionen erstellten. Erster Platz: Jimi Hendrix mit „All Along The Watchtower“.

Über den Erklärungsversuchen, was denn nun den Reiz nachgesungener Lieder ausmache, gerieten die Listenersteller allerdings ein wenig ins Radebrechen. Vielleicht erinnern uns diese Songs aus zweiter Hand an das serielle Wesen unseres eigenen Lebens, an die Begrenztheit von Erfahrungen und Erlebnissen, an unsere Ideen, die wie verschiedene Cover-Versionen eines Originals immer wiederkommen. Das Neue ist immer auch das Alte.

„Wsr nicht begreift, dass das Leben eine Wiederholung ist, und dass dies des Lebens Schönheit ist, der hat sich selbst gerichtet und verdient nichts besseres, als dass er umkommt“, urteilte Seren Kierkegaard in seiner Schrift „Die Wiederholung“ zwar etwas barsch, aber sachlich richtig: Am Ende ist alles doch immer dasselbe Lied.

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