30 Jahre „Zooropa“ von U2: Zitternde Patchwork-Songs

„Zooropa“ ist nicht das beste U2-Album geworden, aber es ist sicher ihr mutigstes, mutiger noch als das gleichermaßen düstere wie tanzbare „Achtung Baby“.

1993, inmitten ihrer Welttournee und nur zwei Jahre nach ihrem Meisterwerk „Achtung Baby“, veröffentlichten U2 ihr „Zooropa“-Album. Aufgenommen haben sie die Platte auch in transportablen Studios, zum Teil vor und nach ihren Auftritten. Man spürt das Zittern in den Liedern, die Geschwindigkeit, die Entwürfe, das Loslassenkönnen, die Lust anders zu singen.

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„Zooropa“ ist wie eine Patchwork-Familie, aber eine gut funktionierende Patchwork-Familie. In ihrer Sequenzierung passen die Lieder nicht gut zusammen, die Übergänge sind nicht harmonisch, und doch ist jeder Song ein kleiner Schatz für sich. Das Titelstück ist der Versuch, das „Zoo TV“- (aus „Achtung Baby“) und „Zooropa“-Konzept der Band innerhalb von sechs Minuten auf einen Nenner zu bringen: Anfang der Neunziger entstand neue U2-Musik schließlich unter dem Eindruck des Medienzeitalters. Satire im Allgemeinen, die schrillfarbige Berichterstattung zum ersten Golfkrieg, der Clash of the Cultures, Krieg in Jugoslawien, islamistische Hetze gegen Salman Rushdie, all das beschäftigten Bono und Band, und es sollte irgendwie in die Musik einfließen.

Zum Glück war das Internet noch nicht verbreitet. Man mag sich gar nicht vorstellen, was U2 mit diesem Medium auf ihrer Bühne angestellt hätten. So mussten sich die Zuschauer des „Zooropa“-Spektakels mit Telefon- und Videoliveschaltungen, unter anderem ins Vorzimmer des Weißen Hauses und zur ISS, zufrieden geben; ganz von Berlin lassen wollte Bono nicht, immerhin hingen noch die nostalgisch-traurigen Trabbis als Bühnenscheinwerfer von der Riesendecke.

Das Titelstück hatte demnach eine ziemliche Bürde, ein starkes Konzept schwebte über diesem Album. Wie sollte es klingen? Von seiner Dynamik erinnert es an Bowies „Station To Station“: ein transmitterartiges Intro, Funksprüche, Radiowellen, deutsche Sprache, Langsamkeit. In Songhälfte zwei dann ein angezogenes, reiterartiges Tempo, das für eine veränderte Weltordnung und die positive Entwicklung des Protagonisten steht.

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Kaum hat man den Opener verdaut, machen U2 mit Song zwei eine 180-Grad-Drehung. In „Babyface“ widmen sie sich nicht mehr der technischen Kommunikation zwischen allen Menschen, sondern dem Gespräch zwischen nur zwei Menschen, dem Thema Liebe. „Coming home late at night / To turn you on / Checking out every frame / I’ve got slow motion on my side“. Das von einem Glockenspiel getragene, wirklich wie in Zeitlupe vorgetragene Lied für das Supermodel Christy Turlington ist ihr vielleicht schönster Love Song – und der am meisten unterschätzte, es wurde nur wenige Male live dargeboten.

„Numb“ führt das Thema Media-Overkill fort. The Edge hat darin so viel zu sagen an Geboten, an Do’s and Don’ts, am Nachplappern suggestiver TV-Botschaften, dass er zum Sprechgesang übergehen muss, weil er so viel Text sonst gar nicht unterbekommen hätte. Sein monotones Murmeln und Bonos ketzerhafte Falsett-Gegenstimme im Refrain sind zwar etwas zu albern, um noch Satire zu sein. Den Song als Vorab-Videosingle zu veröffentlichen und die Käuferschaft damit zu verunsichern, ist, wie oben angedeutet, dennoch eine mutige Kiste.

„Stay“ ist das ultimative Hangover-Stück

Auf „Numb“ folgt das Disco-Stück „Lemon“, mit sieben Minuten das bis dato längste U2-Lied und nach dem Blues von „Rattle And Hum“ ihre zweite Genre-Stilübung; und darauf wiederum folgt ihr bester Song überhaupt: „Stay (Far Away, So Close!)“. Es bleibt unverständlich, warum „Stay“ nicht in die Geschichte eingegangen ist: als Berlin-Song, als Berlin-Song der Neunziger, als Berlin-Party-Song der Neunziger. Es ist das ultimative Hangover-Stück, obwohl als so langsam ist wie eine Ballade. Das gegenüber der Gitarre versetzte Schlagzeug schwappt wie das Gehirn beim Katerkopfschmerz. „Red lights, gray morning /You stumble out of a hole in the ground /A vampire or a victim /It depends on who’s around“.

In der Stadt des Aufbruchs, vor 20 Jahren, schien in Berlin alles möglich. Und es war egal, wie man morgens, hinterher, aussah. Bis zur nächsten Nacht waren es nur noch weitere zwölf Stunden. Im dazugehörigen Clip besteigt Bono die Siegessäule; es soll den Sänger wohl auf dem Höhepunkt seiner Potenz zeigen.

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Das Album schließt mit einem für Johnny Cash geschriebenem und von Johnny Cash gesungenem Lied, „The Wanderer“. Welche andere Band traut sich überhaupt das Schluss-Stück einer Platte, das abrundende Gefühl einer Songsammlung, durch eine fremde Stimme beenden zu lassen? Heute würde das Engagement Cashs wie ein Running Gag anmuten: Das Timbre des alten, mittlerweile verstorbenen Sängers schallt mittlerweile durch jede H&M-Umkleidekabine, jeder Teenager mag und kennt Cashs Versionen von „Hurt“ oder „One“, ohne die Originale zu kennen – geschweige denn ältere Alben von Cash.

„The Wanderer“ entstand vor Johnny Cashs musikalischer Renaissance, vor der Zeit mit seinen von Rick Rubin produzierten Alben. U2 wollten damals einfach mit einem ihrer Vorbilder zusammenarbeiten, Dylan und Willie Nelson hatte man ja auch schon abgefrühstückt. Das Cash-Ergebnis unterlegten sie dennoch mit elektronischen Klängen, ohne dass es dem Country-Star weh tun müsste.

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„Zooropa“ ist inzwischen leider etwas in Vergessenheit geraten. Bis auf „Stay“ würden U2 von 1993 bis heute auch keinen Song der Platte mehr regelmäßig live aufführen.

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Im Sommer vor dreißig Jahren, nachdem „Zooropa“ draußen war, hatte die Band sich erst einmal leer geschossen. Vier Jahre sollte es bis zur nächsten Platte, „Pop“, dauern. „Pop“ war ähnlich experimentell angedacht. Nur wurde einem schnell schmerzlich bewusst, dass das Songmaterial nicht mehr ganz so gut und sperrig war. Und der erneute satirische Zugriff, diesmal griff man Konsum im Allgemeinen an, war etwas zu halbherzig. „Zooropa“ bleibt eines ihrer letzten großen Alben.

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