Eine Kulturrevolution namens Pop

Pop prägt die Zeiten, die Zeiten prägen den Pop. Die ihm innewohnende Rebellion war stets eine historische Notwendigkeit. Und dabei wird es auch so bleiben, weshalb Kulturpessimismus eher unbegründet ist. Wir können also aufatmen.

Der einzige Rebell in der Popmusik heißt mit Vornamen Volker und legt beim Hessischen Rundfunk Platten auf. Alles weitere regelt ein Bundesgesetz. Wir können also beruhigt dieses Heft zuschlagen und weiter Sinatras „My Way“ hören, bis die Herrschaften von Trauerhilfe Denk an der Tür klingeln.

Doch da! Bunte Schlieren heben und senken sich rhythmisch, die Welt beginnt sich zu drehen, und das Leben beschleunigt sich spiralförmig: Gottseidank, eine Traumsequenz. Oder die Drogen haben gerade noch im richtigen Moment reingehauen. Bilder und Sounds rasen an uns vorbei. Conor Oberst, wie er auf George W. eindrischt. Madonna mit Handgranaten. Oder am Kreuz. Ein barfüßiger Prophet mit Rauschebart, nein, bloß Rick Rubin. Johnny Cashs Mittelfinger. Das Cover von „London Calling“. Immer schneller, immer schneller alles. Yoko und John in einem Sack. Bagism, bagism. Das Gesicht des ganz, ganz jungen Marius Müller-Westernhagen. Ein Walfisch, der vom Himmel fällt. James Brown rüttelt an Gitterstäben. Elvis erschießt seine Mom, nein, sorry, doch nicht. Männer in gestreiften Arbeitsklamotten und Sensen in der Hand. Zwei Kartenspieler. Ein Hut. Ein Schuss. Ein Komponist, der Gottschalk heißt, macht Notizen am Kai von New Orleans. Es wird dunkler…

Das 19. Jahrhundert ist angebrochen. Napoleon scheint die Zukunft mit Gewaltmärschen durchsetzen zu wollen. An Englands Hof wagt es ein George Bryan Brummell, seinem König in Sachen Mode zu widersprechen. In den abtrünnigen Kolonien landen Tag für Tag die Schiffe mit ihrer Sklavenfracht. Und in Preußen und Bayern beginnen erste Sozialreformen zu greifen. An den Rändern der Städte entsteht das Proletariat. Es wird sich in diesem Jahrhundert organisieren, sich seine Selbstermächtigung auf die roten Fahnen schreiben und zur Macht streben. Doch diese Selbstermächtigung kann nurden Weg über die Bildung, die Kultur nehmen, da sind sich alle – aus dem Bürgertum stammenden – linken Theoretiker einig. Erst die Nase ins Buch, dann erst die Faust geballt. Delacroix‘ berühmtes Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ ist vielleicht das erste Pop-Kunstwerk. Barbusig stürmt eine schöne Frau den geeinten Volksmassen voran. Noch einen Schritt vor ihr: ein Junge, später wird man sagen, ein Teenager, siegesgewiss. Und wohl dem Tod geweiht, so unvorsichtig, wie er da springt. Hinter ihr Matrosen, Soldaten, Bauern. Und neben ihr der Künstler selbst: Zaghaft hält er noch sein Gewehr. Ungewohnt ist die Rolle des Rebellen für den Maler, der eben noch seinen feudalen Herren treu gedient hat. Ist das hier wirklich mein Ding? Delacroix wird sich wieder zurückmogeln in den sicheren Hort der Höfe und Paläste, aber sein Bild ist im wahrsten Sinne des Wortes in der Welt: Der moderne Künstler ist von jenen Tagen an per se in einer Oppositionshaltung zu den bestehenden Verhältnissen. Seine Kunst widerspricht den realen Verhältnissen. Er will die Dinge nicht mehr stützen, sondern stürzen. Es genügt nicht mehr, die Natur möglichst genau abzubilden, wenn es eine andere Wahrheit hinter den sichtbaren Ordnungen zu geben scheint. Der Künstler wird zum Rebellen. Zum Sucher nach einer anderen Realität. Und Deutschlands Rebellen? Nach der wenig eindrucksvollen Revolution von 1848 gehen sie massenhaft in die USA, treffen dort die notorisch widerspenstigen Iren, die religiösen Eiferer, die sich mit der anglikanischen Kirche angelegt hatten, die entführten und geschändeten Sklaven aus Afrika und deren Nachkommen -ja selbst deren Herren führen einen Sezessionskrieg gegen die eigene Regierung. Die USA werden zur Brutstätte einer permanenten gesellschaftlichen Rebellion. Und in der Musik dieses Landes kann man dies von Beginn an hören. Die blutrünstigen schottischen Balladen, die frommen Lieder aus Südenglands Kirchen, die holprigen Tänze der Schwaben, die Ekstasen der Pfingstgemeinden, das Schnattern jüdischer Hochzeitsgesellschaften, die Rhythmen aus den Regenwäldern Westafrikas, die muslimisch gefärbten Jammerlaute vom Ufer des Niger – für sich allein sind sie nichts als Folklore oder Frömmlerei, aber nebeneinander, übereinander, ineinander werden sie unsere sonische Gegenwart gestalten.

Stellen wir uns einfach einmal auf, jeweils an den vier Seiten einer frei geräumten Rasenfläche. Wir sind alt und jung, Mann und Frau; wir haben alle ein Gesangsbuch in der Hand, die „Sacred Harp“. Die Texte kennen wir auswendig von Kindesbeinen an, die Musik ist durch einfache Symbole angedeutet, die jeder gleich versteht: Abwechselnd tritt einer von uns in die Mitte der Freifläche und ruft eine Nummer, einen Titel, und wir schmettern dann dieses Lob Gottes ebenso laut wie schmucklos – und ohne Dirigenten! – hinaus, dass es bis in den Hütten der Schwarzen zu hören ist. Dort werden Instrumente gestimmt, die man in Sklaventagen von den Herrschaften erhalten hat, damit jemand am Samstag zum Tanz aufspielen konnte. Und Trommeln werden unter den Pritschen hervorgeholt, Afrikas Erbe. Andere haben vom Militär die Trompeten mitgebracht oder befestigen eins, zwei, drei Saiten an einem Kürbis. Die Mischung der Stile und Musiken geht schneller als man „Buddy Bolden“ sagen kann. Und da Vermischung ja immer ein In-Frage-Stellen der bestehenden Ordnung bedeutet, ist jeder neue, ungewohnte Ton eine Rebellion gegen das Alte. Selbstbewusste schwarze Hipster? Dagegen reitet der Clan. Streikwillige Arbeiter? Auf die schießt die Bundespolizei. Gesetzeskundige Juden aus Osteuropa? Werden von Schlägertrupps in Schach gehalten. Oben spielt dazu die aus Europa mitgebrachte Musik der Macht, aber unten weiß man schnell, dass man von diesen Mozart- und Beethoven-Freunden keine Gerechtigkeit zu erwarten hat: Roll over Beethoven and tell Tschaikowsky the news. Genau, zur Seite, Beethoven, und sag Tschaikowski, was Sache ist. My hearts beatin‘ rhythm, and my soul keeps on singin‘ the blues. Ein weiterer Grund, warum die Seelenmusik der Ausgesonderten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert so erfolgreich werden konnte, war die Automatisierung der Musik. Wachswalzen und Schellackplatten lösten den Wunsch nach Musik ab von der Notwendigkeit, ein Instrument zu beherrschen. Für 5 Cent konnte jeder ein ganzes Orchester für sich spielen lassen. Und als dann das Radio das technische Spielzeug der Saison wurde, tönte es den ganzen Tag zwischen Werbebotschaften und religiösem Gegrummel kostenfrei aus dem Quietschkästchen. Allerdings war dies nun nicht mehr unbedingt die Musik der einfachen Leute, speziell in den ländlichen Gegenden der USA; hier wurde Amerika schnell die Narrenkappe des urbanen Mainstreams aufgesetzt, die mediale Gleichschaltung beginnt mit dem Auftauchen des Massenmediums an sich, ist eine natürliche Konsequenz desselben. Doch auch hier verstand es die – noch können wir sie so nennen – Volkskultur, unter den kommerziellen und inhaltlichen Anforderungen dieses neuen Mediums wegzutauchen. Die als veraltet betrachteten Grammophone verschwanden aus den bürgerlichen Wohnzimmern, wurden weitergereicht an die Minderheiten am nicht nur geographischen Rande der Gesellschaft: Restposten, billig zu haben in abgelegenen weißen Hinterwäldlersiedlungen in Arkansas und West Virginia, auf den Plantagen am Mississippi, den gerade entstehenden Gettos in New York und Chicago. Dort ist wie zu allen Zeiten der Markt für jene Dinge, welche die Bürgerkinder nicht mehr gebrauchen können. Dort machen die bisher von der Musikwelt und ihren Heldentenören und Tanzorchestern Ausgeschlossenen nun ihre eigene Musik: Gospel, Blues, so richtig frommes, so richtig schweinisches Zeug – und ein paar dieser regionalen Tonträger werden sogar zu veritablen Hits, zu Hymnen gar wie der Blues in der Fassung eines W.C. Handy, der Jazz eines Louis Armstrong, weiße Gesichter mit Schuhwichse stürmen auf die Bühne, – geht das Durcheinander denn schon wieder los! – und finden schließlich ihren Weg zurück in die Herrenhäuser der großen Stadt, wo dann ein John Hammond, Vanderbilt-Erbe, den seltsam außerweltlichen Krach beim schwarzen Personal hört und beschließt, sein Leben dieser Musik zu widmen – und ganz selbstverständlich auch dem, was diese Musik politisch bedeutet: Dass die Menschen den gleichen Wert haben, dass die Schranken zwischen Schwarzen und Weißen fallen müssen. Im Gegensatz zu Europa kann es sich Amerika ja leisten, seine Klassengegensätze hinter Rassengegensätzen zu verstecken. In John Hammond jedenfalls haben wir das erste Bürgerkind, das dem Phänomen der technisch reproduzierbaren Populärmusik erliegt, oder besser: das ihr Potenzial als Mittel zur politischen Veränderung erahnt und die ethische Herausforderung annimmt. Was die kritische Linke in ihren theoriebildenden

Elfenbeintürmen als kulturelle Trivialisierung beklagen wird, als konsequente Entfremdung des Menschen von seinen Interessen, wird in der gesellschaftlichen Praxis zum Zaubertrick einer ganzen Zivilisation avancieren: Es entsteht so etwas wie ein fortwährend sich erneuernder, der Mode nicht unähnlicher Zyklus der Umwertung, eine permanente Kulturrevolution, ein ständiges Auf-den-Kopf-Stellen des Gesicherten, das es auch den Kindern der bürgerlichen Welt gestattet, auf Zeit und je nach Lust, Laune und Kaufkraft an den drängenden politischen Themen einer anderen Gesellschaftsschicht teilhaben zu können – Demokratie, Idealismus, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nahm Warencharakter an, wurde zum hippen Tauschobjekt, mit dessen Erwerb man die saturierte Elterngeneration ganz schön aus dem Gleichgewicht bringen konnte. So setzte ein John Hammond durch, dass die Rassentrennung in den Orchestern der dreißiger Jahre obsolet wurde: Er zwang geradezu einen Juden aus Chicago wie Benny Goodman, sich mit der jungen schwarzen Sängerin Billie Holiday und der ebenfalls schwarzen Band von Teddy Wilson zusammenzutun, auch wenn es der Karriere schaden konnte – wir schreiben den Herbst des Jahres 1933. Und John Hammond, lange Jahre in der Führung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aktiv, schenkte der Protestbewegung dreißig Jahre später auch „the voice of a generation“, nämlich den jungen Bob Dylan, den Hammond zu Columbia Records holte und durch euphorisierte Zeitungsartikel einem New Yorker Hip-Publikum vorstellte.

So sind wir in unserer Traumsequenz urplötzlich im Jahrzehnt der Rebellion schlechthin angelangt, den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Politisierung der europäischen wie amerikanischen Gesellschaft, befeuert durch die unzureichende Aufarbeitung der Geschehnisse des 2. Weltkriegs und durch die paranoide Grundstimmung des Kalten Krieges, die Freiheitsbewegungen in Afrika, durch den imperialistischen Krieg in Vietnam und die nicht enden wollende Ungleichbehandlung der Minderheiten in den USA suchte und fand ihren Klang in der elektrischen Gitarre, die mal zertrümmert wie bei Pete Townshend,

mal brennend wie bei Jimi Hendrix vom Zeitenwandel kündete – Popmusik war der natürliche gesellschaftliche Ort geworden, an dem aufbegehrt werden konnte, ja musste. Ob dies besagter Krieg war, die Beziehung der Geschlechter, ob Homosexualität oder Drogenexperimente-deviantes Verhalten ohne den dazu passenden Sound war undenkbar geworden. Selbst die deutsche SPD begann über das Engagement von Dixieland-Kapellen nachzudenken. Als erstes fiel natürlich der Begriff des Schönen, des Gemütlichen, des Heimischen diesem Wertewandel zum Opfer, denn das permanent Verändernde, das Rebellische hatte seit eh und je seinen eigenen unschönen Klang, ein Seufzen und Stöhnen und Jammern und Jaulen, das halb der sexuellen Raserei, halb dem Aufschrei der Verdammten dieser Erde geschuldet war – exemplarisch vermischt in Frank Zappas „The Torture Never Stops“ – und das sich in den Sechzigern nicht nur in den Gitarrenfeedbacks hörbar machte, sondern auch im Genäsel und Gewinsel und Geschrei eines Dylan, eines Degenhardt, eines James Brown. Und wie Delacroix liefen die revolutionären Helden des Vortages immer wieder über zu den jeweils Herrschenden, Kerouac, Elvis, Alice Coper, Johnny Ramone – und auch Mathias Döpfner, der heute den Springer-Verlag leitet, hat dereinst ein Buch über die Neue Deutsche Welle geschrieben; heiß oder kalt, Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf.

Die siebziger Jahre brachten dann die Rebellion der Popmusik gegen sich selbst: Punk, und mehr noch die Do-It-Yourself-Bewegung New Wave, aber auch das Disco genannte Bekenntnis zum absoluten Hedonismus forderte die saturierte Markt- und Meinungsführerschaft der älter werdenden Rockmusiker heraus, die von ihrer Definitionshoheit in Sachen Gutmenschentum entweder nicht lassen wollten oder eben kalt lächelnd das Lager gewechselt hatten. Doch wollte man die Mär von der permanenten kulturellen Revolution namens Pop fortschreiben unter Berufung auf die ästhetischen Zyklen, auf die Modewellen und Stil-Beben, dann hieße das auf das Verwirrspiel Pop selbst hereinzufallen. Egal ob Techno oder Reggae, ob Kuala Lumpur oder Buenos Aires, ob House aus Chicago oder Swiss Wave aus Zürich – die Minderheiten in den USA suchte und fand ihren Klang in der jeweilige Ausformung eines aktuellen Standpunkts, einer lokalen Besonderheit ist nicht das Entscheidende, wenn es um das gesellschaftsverändernde Potenzial von Pop geht. Es ist auch nicht wichtig, ob jemand „Revolution!“ schreit oder singt oder ob seine Klänge und Töne den Tatbestand derVolksverhetzung erfüllen – Pop meint heute, dass klassenübergreifend, über alle Ländergrenzen hinweg, durch alle Religionen hindurch, und inzwischen alle Generationen umfassend ein jeder den Zugang zu kulturellen Produktionsmitteln und digitalen Publikationsmöglichkeiten hat. Was linke Theorie bis heute nicht müde wird einzufordern, nämlich allgemeine Teilhabe an der Herstellung des gesellschaftlichen Überbaus, ist längst Wirklichkeit geworden. Aus Grammophonen sind Hifi-Anlagen geworden, die von Autostereoanlagen abgelöst wurden, die zu Walkmännern schrumpften und schließlich zu MP3-Playern mutierten. Studios heißen heute Laptop, Instrument heißt heute Software, Vertrieb meint heute Download. Jedes dieser leicht hingeschriebenen Wörter meint auch: das Verschwinden die revolutionären Helden des Vortages immer wieder über zu den Hammond, Vanderbilt-Erbe, den seltsam außerweltlichen Krach von bestimmten Qualitäten, das Aussterben von Fertigkeiten, die bis zur Unkenntlichkeit fortschreitende Entstellung von Liebgewonnenem. Aber wir können auch, während wir aus unserer Traumsequenz erwachen, Leben dazu sagen. Pop ist in eine ganz neue Phase eingetreten: eingigantischer,globaler, in den unterschiedlichsten politischen und gesellschaftlichen Denkschulen verankerter Feldversuch ist da am Laufen, der es einer ungekannten Anzahl von Menschen erlaubt, sich zu emanzipieren, durch Kultur sich selbst wahrzunehmen – wenn ihnen danach ist. Welche Auswirkung dies auf unser Zusammenleben haben kann, dieser Wandel vom homo politicus zum homo pop, der das Streben nach permanenter Veränderung der bestehenden Verhältnisse sozusagen serienmäßig eingebaut hat, ist offen, ist unheimlich, ist Angst erregend. Aber hier sollte unser Urvertrauen einsetzen in das allmächtige Awopbopaloolopalopbamboom. Denn wenn was schief läuft, wird es immer genügend Rebellen dagegen geben.

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