111 Songs: Mutter – „Israel“

In der Rolling-Stone-Beilage: "Pop in Deutschland" haben unsere Autoren 111 Bands und ihre besten Songs zusammengetragen. Jürgen Ziemer erklärt, warum „Israel“ von Mutter einer davon ist.

Das erste Album von Mutter habe ich mir wegen des Titels „Ich schäme mich Gedanken zu haben, die andere Menschen in ihrer Würde verletzten“ gekauft. Ein toller Satz, über dessen Aussage man auch heute noch ein Philosophie-Seminar abhalten könnte. Das zweite Album kam knapper, wiewohl nicht weniger originell auf den Punkt: „ Komm“. Schon damals war offensichtlich, dass die Berliner Band es niemandem recht machen wollte. Die Musik von Mutter ist ein bis zum Stillstand verlangsamtes Amalgam aus Metal, Hardcore und anderen Geräuschen. Die poetischen Texte von Max Müller sprechen scheinbar banale Themen ebenso an wie letzte Dinge: „Ich bin aufgewachsen mit Leichenbergen vorm Bildschirm/ Der Schrecken wird relativ/ Mein Bruder sagt: ‚Wir müssen uns nicht schuldig fühlen.‘/ Israel! Israel! Israel!/ Wir ertrinken im Selbstmitleid!/ Israel! Israel!“ Wo andere Parolen schreien oder angesichts des heiklen Themas einen Eiertanz aufführen, singt Müller von den Stimmen in seinem Kopf. „ Israel“ reflektiert aus widersprüchlichen Perspektiven die Frage der deutschen Schuld am Holocaust.

Hinter der Idee, sich auf dem Album „Hauptsache Musik“ so zugänglich und popaffin wie möglich zu präsentieren, steckt ein charmanter Wille zur Subversion: die eigene Funktion als Noise-Rocker einfach mal überdenken und einen Moment in Frage stellen. Als singende Gäste mit dabei: erklärte Fans wie Jochen Distelmeyer, Christoph Dreher und Bruder Wolfgang Müller von Die Tödliche Doris.

Doch egal wie laut die Kritiker jubelten, der Erfolg ist bis heute ausgeblieben. Es war sicher keine gute Idee, im Anti-Terror-Herbst 2001 ein Album mit dem Titel „Europa gegen Amerika“ zu veröffentlichen. Auch der „CD des Monats“ war kein Erfolg beschieden. Aber gerade das zeichnet Mutter vielleicht aus: ein stoisches Beharren, ein Nicht-aus-dem-Weg-Gehen.

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