Sesam, öffne dich

Michael Cuscuna über seine Entdeckung unveröffentlichter Blue Note-Schätze

Wie gelang es Ihnen, Zugriff auf die Blue Note-Archive zu erhalten?

Um 1973 verließ ich Atlantic Records und arbeitete freiberuflich, vor allem als Plattenproduzent. Für Blue Note sollte ich 1975 eine Chico-Hamilton-Platte machen. Ich hatte jahrelang versucht, an das historische Blue-Note-Material heranzukommen, weil Musiker mir immer wieder von tollen Platten-Sessions erzählten, die nie veröffentlicht wurden. Ich führte sogar Buch über alle Hinweise, die ich von Musikern bekam. Als ich dann bei der Hamilton-Produktion Charlie Lourie kennenlernte, der für das Marketing von Blue Note zuständig war, zeigte ich ihm mein Buch, und er öffnete mir die Schatzkammern. Ich grub eine Menge Unveröffentlichtes aus und durfte die „Blue Note Re-Issue Series“ produzieren, 10 Doppel-LPs mit Raritäten und unveröffentlichtem Material.

vieles aus den riesigen Tonband-Archiven von Blue Note kam durch Sie erstmals ans Licht der Öffentlichkeit. Haben denn Alfred und Frank immer die richtigen Entscheidungen getroffen, die besten Takes und die besten Sessions ausgewählt?

Bis auf wenige Ausnahmen: ja. Ich fand nur ein paar Alternate-Takes, die so gut sind wie die Master-Takes oder sogar besser oder einfach ganz anders. Eine dieser Aufnahmen stammt von Monk, eine großartige Version von „Well You Needn’t“. Was die unveröffentlichten Sessions angeht, so waren die veröffentlichten meistens besser – außer bei zwei Künstlern: Grant Green und Lee Morgan. Green war Gitarrist, und die Kombination von Gitarre und Hammond-Orgel war damals enorm populär. Mehrere von Greens Sessions mit Pianisten wie Sonny Clark und McCoy Tyner blieben unveröffentlicht, obwohl sie mindestens so gut waren wie seine Sessions mit Orgel. Auch in Lee Morgans Fall hatte man die Karriere des Künstlers im Auge und beugte sich deshalb dem aktuellen Geschmack. Der Trompeter hatte 1964 sein Comeback auf Blue Note mit dem Album „The Sidewinder“. Das Titelstück besaß diesen modischen „funky“ Touch, aber niemand hatte erwartet, dass die Platte so ein großer Hit werden würde. Lee nahm dann die Platten „Search For A New Land“ und „Tom Cat“ auf, aber alle Vertriebe verlangten einen Nachfolge-Hit, deshalb wählte man als nächstes Album „The Rumproller“. „Search“ erschien vier Jahre später, „Tom Cat“ wurde erst von mir veröffentlicht. 1967 nahm Lee eine seiner allerbesten Platten auf, aber auch die hatte kein „funky“ Stück. Ich habe sie 1976 unter dem Titel „The Procrastinator“ herausgebracht.

Sie starteten zusammen mit Charlie Lourie das Projekt Mosaic Records. Warum?

1981 wurden die ganzen Blue-Note-Aktivitäten eingestellt. Capitol kaufte den United Artists/Liberty/Blue Note-Komplex, war aber an Jazz momentan nicht interessiert. Ein Jahr später machten Charlie und ich den Vorschlag, ein Jazz Department einzurichten und Blue Note wiederzubeleben. Wir schlugen ein Reissue-Programm mit dicken LP-Boxen vor – nicht zuletzt deshalb, weil ich 30 Minuten unveröffentlichter Monk-Bänder fand, und das war für eine eigene Platte zu kurz. Da Alfred Lion auf den Monk-LPs die Sessions wild durcheinandergemischt hatte, planten wir eine chronologische Dokumentation der kompletten Aufnahmen, die Monk für Blue Note gemacht hat. Capitol war einverstanden, wollte aber noch zwei Jahre warten. Charlie und ich waren aber arbeitslos und konnten nicht länger warten. Deshalb setzten wir die Idee in eigener Regie um, schufen das Reissue-Label Mosaic und lizenzierten dafür Aufnahmen von verschiedenen Plattenfirmen. Die Monk-Box war der Anfang.

Durch die Aktivitäten von Mosaic Records haben Sie dann auch Alfred Lion kennengelernt, den Gründer von Blue Note.

Richtig. Alfred verkaufte Blue Note 1966 und zog sich im folgenden Jahr aus gesundheitlichen Gründen ganz zurück – weg von New York, weg vom Jazz-Business. Der Einzige, zu dem er Kontakt hielt, war Horace Silver, aber Horace wahrte absolute Diskretion. Alfred las eine Besprechung unserer Monk-Box in der „New York Times“, schrieb uns einen Brief, wir schickten ihm die Box, und dann rief er mich an. Er wohnte in San Diego, und wir telefonierten bald häufig miteinander. Persönlich kennengelernt habe ich ihn aber erst beim Town Hall Concert.

Das war die offizielle Relaunch-Party für Blue Note 1985.

Genau – und es gab ein Riesenaufsehen, als Alfred dafür aus der Versenkung auftauchte.

Michael Cuscuna, 60, ist Jazzjouralist und Jazzproduzent. Seit dem Label-Relaunch 1985 ist er als freiberuflicher Berater und Reissue-Betreuer für Blue Note tätig.

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