Absolutely Live oder Die Applause des Judas

Live-Platten sind oft ein hartes Brot: Manchmal läuft die Nadel minutenlang in der Rille, bis überhaupt mal irgendein Musiker auf der Bühne erschienen ist. Eric Pfeil widmet sich sonderbaren Live-Alben – aber auch solchen, über die man sich nicht ärgern muss.


Eric Pfeils Pop-Tagebuch, neue Folge 3

Sie werden es gelesen haben: In der aktuellen Ausgabe widmet sich der Rolling Stone dem Thema Live-Platten. Auch ich hatte die Freude, meine zehn Favoriten einreichen zu dürfen, wovon die meisten jedoch keine Erwähnung fanden. Gleichwohl muss ich bekennen: Ich mag eigentlich keine Live-Platten. Zumindest nicht besonders. Immerhin lieber als Björk-Platten. Insofern wäre eine Live-Platte von Björk genau die Sorte Geschenk, mit dem man mir nachhaltig den Tag verderben könnte. Aber was sind das schon für Menschen, die Live-Platten von Björk verschenken? Wer solche Leute kennt, braucht eigentlich keine Feinde mehr.

Live-Platten sind oft ein hartes Brot: Manchmal läuft die Nadel minutenlang in der Rille, bis überhaupt mal irgendein Musiker auf der Bühne erschienen ist. Ich besitze eine Live-Platte von Adriano Celentano, da wird der Künstler ganze drei Mal von einem aufgeregten Ansager angekündigt. Ich meine, auch bei „Absolutely Live“ von den Doors dauerte es einige Zeit, bis sich die Herren vor ihr Publikum bequemen. Wahrscheinlich waren sie beim Treppenaufstieg zur Bühne hingefallen oder es war irgendetwas mit Rauschgift. So oder so: Dem Jubel von aufgekratzten Menschenmassen zuzuhören ist mir einfach zu fad. Was ich allerdings einigermaßen interessant fände, wäre ein Album, auf dem sich lediglich die zusammengeschnittenen Applause einer ausgedehnten Tournee befänden. Wem diese Applause gelten, wäre mir halbwegs egal. Vielleicht macht ja irgendein lustiger Avantgardist mal so eine Platte, wobei ich mir gerade nicht ganz sicher bin, ob es überhaupt noch Avantgardisten gibt. Die schlimmsten Applause sind freilich solche des Erkennens, man findet sie bevorzugt auf Platten von Simon & Garfunkel, den Königen der Erkennungsapplaus-Musik, und auf den späteren Werken Reinhard Meys.

Apropos Reinhard Mey: Von diesem wackeren Barden stammt eine der wenigen Live-Platten, die ich richtig gut finde. Sie trägt den einigermaßen flippigen Titel „Reinhard Mey live“ und stammt aus dem Jahr 1970. Auch sehr gut ist Tom Jones’ Werk „Live At Ceasar’s Palace“, was aber allein daran liegt, dass Jones zwischen den Stücken in äußerst penetranter Weise sein weibliches Publikum anbalzt und Champagner aus Damenschuhen trinkt: ein Inferno aus Glut und Lendenbrand, der Mann! Dazwischen tut er das, was Tom Jones eben so macht, sobald er in der Öffentlichkeit herumsteht: Er singt und röhrt bis die Hosennaht platzt. Allerdings tut er das auf seinen Studioplatten genauso gut. Das Argument, Live-Platten vermittelten ein viel lebhafteres Bild irgendeines Künstlers oder einer Band, scheint mir fragwürdig, impliziert es doch, dass die betreffenden Musiker es versäumt haben, sich auf ihren Studioalben ausreichend schmissig zu präsentieren.

Ebenfalls sehr gut finde ich „Live im Frühjahr 82“ von Trio (nur als Kassette erschienen): Die Band versucht hier während ihres Auftritts einen Filmprojektor o.ä. anzuschmeißen, um das Video zu ihrem Song „Da Da Da“ vorzuführen. Allerdings funktioniert das zur Vorführung benötigte Gerät nicht. Die Folge sind minutenlange Versuche, das Problem irgendwie in den Griff zu bekommen (Stephan Remmler: „Kann mal jemand den Hausmeister holen?“): Momente wie diesen sucht man auf den meisten Live-Platten vergeblich; hier wird die Kerze des Showgeschäfts an beiden Enden angezündet.

Auch gut: „If You Want Blood (You’ve Got It)“ von AC/DC, allerdings in erster Linie wegen des Covers und „Made In Japan“ von Deep Purple, trotz des Covers. Auf letzterem Werk findet sich zudem mein liebstes Schlagzeugsolo. Die meisten Menschen finden ja Schlagzeugsoli so überflüssig wie eine zweite Nase. Doch diese Menschen irren und sollen mit Björk-Live-Platten bis ans Lebensende bestraft sein! Relativ selten ist die Soft-Boys-Platte „Live At Portland Arms“, die Chancen auf den Titel „Live-Platte mit dem überschaubarsten Publikum“ hat.

Ich könnte hier durchaus noch ein paar ganz brauchbare Live-Platten auflisten, aber soeben werde ich jäh unterbrochen: Weil ich diesen Text hier nicht wie ehedem auf meiner alten Olivetti-Schreibmaschine, sondern auf einem elektrischen Gerät verfasse, brüllt soeben jemand schamlos „Judas!“ dazwischen. Verdammte Puristen …

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