ROLLING STONE hat gewählt: Die Alben des Jahres 2025

ROLLING STONE kürt die besten Alben des Jahres 2025.

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Jeff Tweedy, „Twilight Override“

In der Fernsehsendung „The Late Show With Stephen Colbert“ beschrieb Jeff Tweedy unlängst, dass Musikmachen – das Liederschreiben, die Arbeit im Studio, das Konzert – sein Gegenmittel gegen die Angst sei. So meint er den Titel seines dritten Soloalbums: Auf „Twilight Override“ sind Lieder, die die Dunkelheit überschreiben, wenn auch nur für den Moment. Der Opener dieses Dreifachalbums, „One Tiny Flower“, ist eine sechs Minuten lange Meditation, bei der Tweedys akustische Gitarre wie eine Sitar klingt. Psychedelische Harmonien eröffnen einen rauschartigen Raum, in dem die Band nach und nach verschwindet.

Das Lied erzählt von Blumen im Asphalt – man denkt an die Bilder grün überwachsener Straßen und Häuser in den letzten Monaten der Pandemie. Der Planet hat das letzte Wort. Aber auch: Die Hoffnung hat das letzte Wort. Tweedy ist ein Skeptiker, der in seiner Musik allen eindeutigen Gefühlen misstraut, aber in Wirklichkeit ist er ein Apologet der Menschlichkeit. In dem ähnlich entrückten „Parking Lot“ rezitiert er eine Art Traum, in dem es, wie so oft, um seine Kindheit geht, um abwesende Väter, um Männlichkeit und um seine Identität als Künstler: „I’d like to teach the world to sing/ (fuck) anything.“ Eine zentrale Botschaft sowohl auf Tweedys Soloalben als auch in seinen Büchern ist die der Kreativität ohne Zugangsbeschränkung. Jede:r kann einen Song schreiben. Vor vielleicht 15 Jahren gelang Tweedy das Kunststück, seine Perspektive auf den Prozess des Songschreibens zu verändern. Seitdem kann er quasi ununterbrochen komponieren. So voll ist sein Verweise-Universum, dass er in jeder Melodiewendung und jedem Akkordwechsel eine Schönheit erkennt, aus der ein Lied werden kann. Dass er hier stattliche 30 Lieder auf einmal veröffentlicht, unterstreicht das: Die Welt ist voller Musik, die es wert ist, aufgenommen zu werden. Jedenfalls wenn man Jeff Tweedy ist.

Derzeit ist die Inspiration bei kaum einem anderen Schreiber so präsent wie beim Wilco-Vormann. Gegen einige dieser brüchigen, nie dick auftragenden Lieder möchte man einwenden, dass sie zu klein sind, zu wenig pointiert – und dann liebt man sie genau dafür. Aber man liebt sie auch, weil man in ihnen Tweedys Begeisterung für all die Stile spürt, die ihn in seinem Leben beeindruckt haben und auf die er hier seine eigene Perspektive entwickelt. Soft Rock, Seventies-Pop, Punk, Americana usw. Dass man an diesem Album so gut teilhaben kann, hat zudem mit den ungekünstelten Arrangements zu tun. Die Band, zu der Tweedys Söhne Spencer und Sammy gehören, aber auch der englische Geheimtipp-Gitarrist James Elkington, spielt betont lose miteinander; nichts hier ist so ausgefuchst und formvollendet wie bei Wilco. Dadurch behält die Musik etwas Spontanes, Durchlässiges. JS

Die besten Alben 2025 – Redaktion