Bei Arte wird die preisgekrönte Musik-Dokumentations- Reihe „Lost In Music“ mit sechs neuen Folgen fortgesetzt

Von Jörg Schmidt könnte sich so mancher Videoclip-Regisseur etwas abgucken. Sein erstes Super 8-Werk hat Schmidt nämlich im Herbst im Garten aufgehängt Man sieht es förmlich vor sich, wie Regen, Käfer und Steinchen in der empfindlichen Filmoberfläche ihre Spuren hinterließen. Dann, im Frühling, erlebte das Zelluloid in der Waschmaschine seine Vollendung als visuelle Ergänzung zur Musikgruppe Flugschädel (neuerdings: Boksch). Jetzt, im „Lost in Music“-Beitrag „Crossover“, hat Schmidt endlich Gelegenheit, seine zuckenden Bilder mit dem rhythmischen Sound-Sortiment der Flensburger Band via TV zu etwas zu verbinden, was man auch Holstein-Body-Musik nennen könnte.

So jenseits von Posen, so erfinderisch, so handwerklich und so beseelt wie im Fall von Boksch gelingt die Synthese von Popmusik und Film auf dem Fernsehbildschirm selten. Im medialen Fakten-Action-Intimitäten-Postulat, dem ja auch der Pop-Journalismus unterliegt, spielt Medien-Inzucht eine größere Rolle als Popkultur jenseits von den Verkaufscharts – das Medium Fernsehen outet sich als Multiplikator des Mediums CD. Als seltene Ausnahme gilt „Lost in Music“, ein 3sat-ZDF-Arte-Konglomerat. Christoph Dreher und Rolf Wolkenstein porträtieren darin Musikszenen von Techno bis Country mit eher künstlerischem als journalistischem Blick, was daran liegen mag, daß Dreher eigentlich Baß bei der Berliner Band Die Haut spielt, und die renommierte Video-Artistin Rotraut Pape als Cutterin und Kamera-Frau hinter „Lost in Music“ steht. Und gemeinsam mißtraut man den gängigen Synthesen von Bild und Sound. „Wir wollten einen Effekt erzielen wie bei einer guten Single“, sagt Dreher, „da hat man, wenn sie zu Ende ist, auch das Gefühl, sie nochmal auflegen zu müssen.“ Offensichtlich ist den Filmemachern das gelungen. Jedenfalls gab es für die Folge „Hip Hop Hooray“ 1993 gar den Grimme-Preis. Und auch wenn sich öffentlich-rechtliche Experten nach sechs Folgen berufen fühlten, das hochgelobte Konzept vorerst zu versenken – lost in der ZDF-Quotenfunkphilosophie: Der deutsch-französische Nischenkanal Arte konnte sich dem „Effekt der guten Single“ nicht verschließen und legte eine neue Sechserstaffel von „Lost in Music“ auf.

Von elektronischem Theoriesinn und akustischem Tiefsinn angeleitet, bereisen Dreher und Wolkenstein im August erneut jugendkulturelle Mikrokosmen, berichten von digitalen Geräten, die nicht einmal Pink Floyd gebrauchen könnten, und begleiten knobelnde und kichernde Erfinder von Musik, die klingt, als hätten sie die Maschinen selbst erdacht. Ein Vertreter vom Aphex Twin-Label Warp Records erklärt, wie man den Widerspruch löst zwischen elektronischer Musik als Absage an den Showbusiness-Ego-Kult und dem Problem, daß Identität ein entscheidender Faktor ist, um Popmusik zu verkaufen. Und der freundliche Robin Rimbaud alias Scanner verrät, daß er Mikrophone in Kühlschränke legt, um zu hören, wie es klingt, wenn Dinge gefrieren. Vergiß die Rhythmik, vergiß die Harmonien!

Spätestens in solchen Momenten muß man „Lost in Music“ lieben. Da ist Popmusik Hardware und Software einer klugen Welt mit viel Wuppdizität, die schwingt, reflektiert und ziemlich lustig ist. Realistisch sind diese Momente auch, weil Frauen in ihnen nicht vorkommen. Hier vermehren sich anscheinend nur noch elektrische Impulse und bekiffte Jungen. Aber weil Dreher und Wolkenstein irgendwann realisierten, wie politisch deutbar ihr künstlerischer Blick werden kann („Wir haben erst gar nicht gemerkt, daß fast immer nur von Männern die Rede war.“), kreierten sie schließlich einen Beitrag über Girl Groups, der von Madonna bis zu den Lassie Singers, von Lydia Lunch bis Bikini Kill fast alles vereinigt, was einen Busen hat und einen Verstärker anschalten kann. „Die ‚Girl Group‘-Sendung ist die inhaltlich stärkste geworden“, meint Dreher, und es klingt wie eine Entschuldigung.

Jugendkultur jenseits von Superstars – mit einem sehr persönlichem Blick auf die verschiedenen Szenen zeigt „Lost in Music“ besonders, daß Popmusik längst Segmentierung bedeutet, Tribalisierung. „Wir betreiben aber keine Independent-Fetischisierung“, versichert Dreher. Das stimmt natürlich nicht – denn genau das macht den Charme des Magazins aus.

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