Wie gehen wir gegen Schwermut an, die sich mit Verlusten einstellt?

Ein Wiederhören mit Vic Chesnutt hilft dabei, das Leben anzunehmen

Schuld ist eigentlich Kristin Hersh. Beim Interview kamen wir neulich auf Vic Chesnutt zu sprechen, ihren geliebten Songwriter-Kollegen, dem sie 2015 ein großartiges, weil brutal ehrliches Buch gewidmet hat: „Don’t Suck, Don’t Die“. Da war Vic schon sechs Jahre tot. Ihre Erinnerungen an die gemeinsame Zeit enden mit den Worten: „Everything dies, love even. (…) See you in my dreams.“

Da musste ich wiederum an Bruce Springsteen denken, der seine Konzerte mit der E Streeet Band jetzt stets mit „I’ll See You In My Dreams“ beschließt. „Death is not the end“, heißt es darin, das hat uns ja auch schon Bob Dylan gesagt. Springsteen hat inzwischen viele Menschen, denen er nur noch in seinen Träumen begegnen kann – mit den zunehmenden Verlusten wird die Schwermut größer, doch er hat sie in eine Energie umgewandelt, die der Endlichkeit eine trotzige Lebensfreude entgegensetzt. Bei Kristin Hersh ist das ähnlich: Sie hat gelernt, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen.

Und so anders war das bei Vic Chesnutt im Grunde auch nicht. Er wurde Singer-Songwriter, weil er es unbedingt wollte – obwohl er bei einem Autounfall mit acht-zehn eine Querschnittlähmung davontrug, mit der das Herumreisen als fahrender Musikant mühsam war und das Gitarrespielen praktisch unmöglich. Hersh berichtet, dass eine Gruppe Medizinstudierende mal seinen Fall erörtern sollte. Alle kamen angesichts der Fakten überein, dass dieser Mann sich wohl kaum bewegen könne, seine Arme nur minimal benutzen. Chesnutt lachte über den Befund. Und wie er mit der „verkrüppelten Hand“ (so nannte er es selbst, er war kein Beschöniger) spielen konnte! Wie kein anderer.

Der November mit seinem Volkstrauertag und Totensonntag und Allerseelen und all den dunkler werdenden Tagen ist genau der passende Zeitpunkt, um ausgiebig Vic Chesnutt zu hören. Wobei für an sich jeder Monat richtig ist, weil Vic so viele berührende Lieder geschrieben hat. Er ist nie berühmt genug geworden, doch wie wichtig ist das schon?

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Sein Debüt, „Little“, wurde 1990 von Michael Stipe in Athens/Georgia produziert, wo Vic seit seinem Unfall wohnte. Manchmal wäre er in den folgenden Jahren gern vor all den R.E.M.-Fans dort weggelaufen, erzählte er mir einmal, aber – mit einem grinsenden Blick auf seine Beine: „Das fällt mir ja leider schwer.“ Interviews mit Vic Chesnutt waren immer auch Lehrstunden in Akzeptanz ohne Selbstmitleid: Er jammerte nicht, er stellte fest. Und er konnte sogar noch lustig beschreiben, wie er mal mit seinem Rollstuhl im Flugzeug vergessen wurde. Dass er am Weihnachtsfeiertag 2009 sein Leben beendete, weil die Schmerzen zu arg wurden und die Medizinkosten zu hoch, macht mich immer noch traurig.

Was bleibt, ist wieder mal die Musik. Mehr als ein Dutzend Alben hat er hinterlassen, mindestens drei davon sind Meisterwerke: neben dem Debüt „West Of Rome“ (1991) und „Is The Actor Happy?“ (1995). Allein die Songtitel sagen so viel: „Panic Pure“, „Gravity Of The Situation“, „Sad Peter Pan“, „Free Of Hope“. Immer wieder schrieb er wütende, zarte, scharfsinnige Folkrock-Stücke, die ins Herz stechen. Eines der letzten heißt „Flirted With You All My Life“. Mit dieser unverwechselbaren nagenden Stimme singt er von der Todessehnsucht – und: „Oh, death/ Clearly I’m not ready.“

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