Das große Pressen

Spätestens zu Beginn der siebziger Jahre galt die Langspielplatte als das Premium-Format des Pop. Alben definierten nun den Stand der Dinge, und wer die richtigen besaß, galt als cool.

17 Mark 90 waren verdammt viel Geld. Aber gottlob gab es ja Manni. Bei ihm kostete eine Langspielplatte zehn Mark, und die waren schnell zusammengeschnorrt. Manni lungerte nachmittags in der Innenstadt am Brunnen rum. Ein kleiner Bursche mit drahtbürstiger Matte, Bundeswehrparka und verwaschener Cordhose. Er sammelte die Aufträge und verschwand dann irgendwann Richtung Karstadt, um eine halbe Stunde später mit der bestellten Ware wieder aufzutauchen. Dann zog er das bestellte Album unterm Parka hervor, steckte seinen Zehner ein und schlenderte zum Nächsten. Nicht ohne vorher noch eine Zigarette zu schnorren.

Seine Verkäufe sind wohl kaum in die offiziellen Statistiken eingegangen, Fakt aber ist: Die Umsätze auf dem Plattenmarkt, speziell die der Alben, waren um 1970 herum explodiert. Und die wichtigste Kundschaft waren nun die Jugendlichen. Einer Studie des CBS-Konzerns zufolge hatte sich der Anteil der Contemporary Music (Pop & Rock) am Musikgeschäft von 1968 bis 1973 von 36 Prozent auf 76 Prozent gesteigert. Innerhalb von nur zehn Jahren war der Gesamtumsatz mit Tonträgern in den USA von 700 Millionen auf stolze zwei Milliarden Dollar geklettert. In der Bundesrepublik war eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen, dort betrug der Umsatz im Jahr 1973 ebenfalls etwa zwei Milliarden, allerdings nicht Dollar, sondern D-Mark (umgerechnet rund 450 Mio. Dollar).

So fanden sich in den Jugendzimmern neben den zerfledderten Sammelalben im Single-Format nun auch jede Menge Langspielplatten, meist im Stapel an die Wand gelehnt. Zeig mir deine Platten, und ich sag dir, wer du bist – der Besitz von Schätzen Led Zeppelins Vierter, „„Tago Mago“ von Can, dem „Yes Album“, Pink Floyds „„Meddle“ oder auch Elton Johns „Madman Across The Water“ galt als Coolness-Ausweis erster Ordnung. Wobei die aus heutiger Sicht irritierende Vielfalt nicht etwa von erratischem Musikgeschmack zeugte, im Gegenteil, nach der musikalischen Explosion der Sechziger existierten die verschiedensten Stile friedlich und unbeeindruckt von irgendwelchen Hipness-Debatten nebeneinander. Das Zauberwort, das alles verband, hieß Rock. Und der alles verbindende Stammbaum war in jenen Tagen noch leicht zu identifizieren. Wenn’s denn etwas abgedrehter war, nannte man es halt progressiv. Ein Begriff, den vor allem die Marketingstrategen der Plattenfirmen mit wachsender Begeisterung verwendeten, egal ob sie Compilations britischer Folkrock-Künstler, Krautrock-Labelschauen oder die Bemühungen im Grenzbereich von Jazz, Blues und Rock operierender Virtuosen wie Mahavishnu John McLaughlin oder Weather Report an den Mann bringen wollten. Die „Woodstock Generation“ würde es schon kaufen. Als hilfreich erwies sich in solchen Fällen übrigens eine Anzeige in SOUNDS, das seinerzeit im deutschsprachigen Raum die unbestrittene Deutungshoheit in Sachen Pop und Rock innehatte – auf dass die Redaktion das entsprechende Produkt mit einer wohlwollenden Plattenkritik absegnen möge. Ein Prinzip, das sich bis in unsere Tage erhalten hat.

Auch der Markt der Unterhaltungselektronik boomte. Wer etwas auf sich hielt und es sich leisten konnte, musterte seinen alten Telefunken „„Mister Hit“ aus, den mit dem Single-Plattenteller und dem eingebauten 1,5-Watt-Transistorverstärker, und rüstete auf. Zum Beispiel auf eine Dual-Kompaktanlage. Die Ersten begannen Verstärker, Plattenspieler und monströse Lautsprecherboxen separat anzuschaffen. Plötzlich spielten Begriffe wie Watt oder Rausch- und Rumpel-Geräuschspannungsabstand eine Rolle – HiFi gehörte nun sozusagen zum guten Ton. Als State Of The Art galten die Anlagen von Braun, z.B. die kühn gestaltete „„audio 2310“, ein teurer Spaß und eher anzutreffen in den Wohnzimmern der Klassenkameraden mit gediegenem Akademikerhintergrund. Dass Braun nun einen besonderen Aufschwung erlebte, verdankte die Firma auch ihrem Design. Bereits in den späten Fünfzigern hatten die Ingenieure aus dem hessischen Kronberg die Kompaktanlage SK4 auf den Markt gebracht, die ihrer damals einzigartigen Plexiglas-Abdeckung wegen auch „Schneewittchensarg“ genannt wurde. Seitdem stand Braun für optische Avantgarde. Das bei anderen Herstellern bis dahin übliche Nußbaum-Dekor war in den frühen Siebzigern endgültig passe, gefragt war nun futuristischer Flair, und der kühle Braun-Stil galt als Maß der Dinge.

Das Gros der jugendlichen Pop- und Rockfans indes konnte von hifideler Technik allenfalls träumen, ihr wichtigstes Hilfsmittel auf der Jagd nach den neuesten Hits waren das Radio und der Kassettenrekorder (eine Minderheit benutzte die klanglich überlegenen, aber komplizierter zu bedienenden Spulen-Tonbandgeräte). Kaum ein Fan, der nicht gespannt vor dem Radio gehockt hätte, um im entscheidenden Moment, wenn etwa Mal Sondock in der „Diskothek im „WDR“ oder Frank Laufenberg beim SWF-„„Pop-Shop“ neue Platten vorstellten, auf den Aufnahmeknopf zu drücken. Und kaum ein Moderator, der nicht tausendfach verflucht wurde, wenn er mal wieder zu früh in den Fadeout gequatscht hatte.

Mit der Popularisierung des Albumformats gab es nun auch im Radio Sendungen, die sich mit den musikalischen Entwicklungen abseits der Single-Hits beschäftigten. Leute wie Winfried Trenkler oder Karl Lippegaus vom WDR nahmen ihre Hörer spätabends mit auf die Reise in unbekannte musikalische Gefilde. So klangen plötzlich abgefahrene Sounds wie die von Mike Oldfields Konzeptwerk „Tubular Bells“ oder Bo Hanssons Vertonung des „Herr der Ringe“-Mythos durch den Äther. Die Umsätze dieser oft nur über Importdienste erhältlichen Alben stiegen umgehend. Zumal die Platten solcher als anspruchsvoll angesehenen Künstler neue Welten in Sachen Klangqualität offenbarten.

Denn auch in den Studios hatte sich eine Revolution ereignet: Ein knappes halbes Jahrzehnt zuvor hatten die Beatles ihren „„Sgt. Pepper“ noch auf vier Spuren aufgenommen, jetzt arbeiteten Pink Floyd bereits auf 16 oder gar 24 Spuren. Mehr noch, mit ausgebufften elektronischen Tricks konnte man nun die spektakulärsten Klangeffekte erzielen. Die analoge Aufnahmetechnik entwickelte sich mit Riesenschritten – und das Album war ihr ideales Medium. Meilensteine wie „The Dark Side Of The Moon“ von Pink Floyd oder „„Rumours“ von Fleetwood Mac verbanden dabei über alle geschmacklichen Gräben hinweg. Und getanzt wurde in den Jugendzentren gerne zu überlangen Albumtracks wie „„Child In Time“ von Deep Purple, Iron Butterflys „„In A Gadda-da-Vida“ und „„Hallogallo“ von Neu!.

Rock war erwachsen geworden, und seine bekanntesten Protagonisten steinreich. Kein Wunder, dass bald die fällige Reaktion erfolgte, die das Album zunächst links liegen ließ. Punks wie Sex Pistols, The Damned oder Clash machten ab 1976 erst einmal mit Singles von sich reden. Kunst war ihnen wurscht, mehr noch, ein Dorn im Auge, und zweieinhalb Minuten hingerotzter Lärm reichten als Rahmen für ein Statement allemal aus. Wortführer wie Johnny Rotten und Joe Strammer gaben die Parole aus: Nieder mit Pink Floyd, Stones und The Who – nieder mit den B.O.F.s (boring old farts)! Was natürlich nicht galt für Leute wie Iggy Pop, der mit seinen Stooges schon seit Jahren vormachte, wie ordentlicher Kick-Ass-Rock’n’Roll, der ansatz- und humorlos mitten auf die Zwölf traf, zu klingen hatte.

In der Tat: Zum Ende des Jahrzehnts war nichts mehr so wie an dessen Anfang. Die 68er kamen nun nach und nach in der bürgerlichen Gesellschaft an, und der pubertäre Marihuana-Sozialismus der frühen Siebziger, dem schon ein abgeknipster Mercedes-Stern als revolutionärer Akt galt, war in einer studentischen Ökowelle aufgegangen, die sich in Brokdorf und später dann Wackersdorf zur Massenbewegung formierte. Auf den Plattentellern drehten sich kaum noch zornige Parolen á la „„Kick out the jams, motherfuckers!“, stattdessen genoss man vor der heimischen Hifi-Anlage pompös produzierten Erwachsenenrock wie „„Hotel California“ und tanzte sich in der Disco ins „Saturday Night Fever“. Punk, soweit überhaupt schon in Deutschland angekommen, war eine Sache der Kids, und der politische Radikalismus der RAF hatte spätestens im deutschen Herbst 1977 alle vorher eventuell noch vorhandene romantische Faszination verloren.

Sogar Manni war verschwunden. Bis dahin war er nach Jugendstrafen-bedingten Auszeiten, die in der Regel ein paar Wochen nicht überschritten, immer wieder aufgetaucht. Jetzt aber blieb er weg. Vielleicht hatte er ja entschieden, erwachsen zu werden. Vielleicht aber stand er jetzt auch hinter irgendeiner Ladentheke und verkaufte all die Langspielplatten, die er früher geklaut hatte, ordnungsgemäß mit Quittung. Ein Job mit Zukunft. Damals jedenfalls…

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