Der klare Lebensblick: Das Auge Gottes zertrümmern mit Präzision alte Gewißheiten

Wenn Gert Reichelt in Kneipen ein T-Shirt seiner Band Das Auge Gottes trägt, findet das Uneitle an ihm den stärksten Ausdruck. Oft fragt sich der Sänger, was wichtig sei und wie wichtig man sich selber nehmen dürfe. Leise schränkt er ein: „Das ist mein grundsätzliches Gefühl, ich weiß nicht, ob das jeder mittragen kann.“ Daher singt en „Woher weißt du so genau, daß die Regierung dich nicht liebt/ Hast du schon mal daran gedacht, daß unterm Strand noch Asphalt liegt?“ Selten waren Binsenweisheiten radikaler. Da Reichelt keine Allwissenheit vorgibt, stellt er die letzten Fragen des Lebens.

„Das kleine Leben“ haben Das Auge Gottes aus Schwerin folgerichtig ihr zweites Album betitelt. Gert Reichelt und Bassist Andreas Griem formulieren Gedanken und Gefühle zur Zeit, die reflektieren statt kommentieren und in Sehnsucht nach Identität und Integrität münden. Daß beide als Jahrgang 1958 lange jenseits dieser Welt gelebt haben, mag den Blick für das Wesentliche schärfen. Ihre Bodenständigkeit und Bescheidenheit jedoch sollte niemand als Nostalgie oder Moral mißverstehen. Bereits kurz nach dem Mauerfall höhnten sie, die bis dahin nur den Ostblock bereist hatten, mit dem Song „Vorbei ist vorbei“ und der Zeile „Die ganze Welt gesehen/ Sie ist überall rund“ gegen West-Arroganz und Ost-Abgesang gleichermaßen.

Dem Zynismus ist Reichelt fern. Wenn er mit präziser Sprache alte Gewißheiten und alltägliche Verlogenheit zertrümmert, legt er vor allem Melancholie frei. Ohnmächtig skandiert er „als wichtig deklarierte Platitüden“ wie „Es gibt Sommerlöcher, halbe Wahrheiten und den schlechten Tag“ – und stellt im Refrain dagegen: „Gibt es einen Gott im Himmel?“ Er benennt Werte, ohne sie zu bewertender Wahnwitz erklärt sich selbst Sogar die eigene Band schließt Reichelt hier nicht aus. Um Klarsicht bemüht, bleiben ihm Zweifel.

An das System der DDR habe er „ziemlich lange geglaubt, ja“, und auch sonst „zuviele Kompromisse gemacht, die ich leben muß“, bekennt Reichelt. „Ich könnte vieles anders machen, wenn ich mal meinen Arsch zusammenreissen würde. Aber viele Gewohnheiten will auch ich nicht mehr ändern.“ In „Kleines Lied“, dem Kristallisationspunkt des Albums, türmt er Wunden des Daseins auf. „Ich sehe nicht zurück & drehe mich nicht um/ Zeit kommt, Zeit geht“, brummt Reichelt lakonisch, fast wie Lou Reed. Die Orgel winselt, die Gitarren winden sich – übrig bleibt verbrannte Erde. Die Wut wächst aus Wehmut, „Liebe nicht leben zu können“, so Gert Reichelt Daß „Das kleine Leben“ thematisch ein Konzept-Album geworden ist, „fiel uns selbst erst später auf“, wie Reichelt uneitel zugibt Die Songs wurden famos aus knalligen Hip-Hopgroores, Hardcore, scratching und klassischem Rock arrangiert Selten gelingt in Deutschland eine derart wuchtige und geschlossene, gleichwohl nicht glatte Produktion.

„Das kleine Leben“ endet konsequent: mit der Coda „Kleiner Tod“, einem Trauerlied auf der Orgel.

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