Der Weg zu Bob

Zu Fuß von Berlin nach Moskau und später quer durch die USA. Ein Song über einen toten Bluessänger ist schuld daran. Die Geschichte einer langen Reise

Durch Amerika gehen – seit Jahren rumorte das in mir, nur eines fehlte: die richtige Strecke. Man könnte auch sagen, der richtige Sound. Allein die grobe Richtung war klar. Mitten hindurch sollte es gehen, aber nicht westwärts. So ausgelatscht war der lange, lange Weg nach Westen, so viele hatten die Utopie, die darin liegt, besungen. Musste noch einer hinterher trotten und hinterher singen?

Eines Sonntagmorgens entdeckte ich, auf meinen Zug wartend, ein amerikanisches Magazin am Bahnhofskiosk in Wiesbaden. Der Titel kündigte ein langes Interview mit einem Musiker an, der mich schon einmal auf den Weg gestoßen hatte, in verblüffend ähnlicher Lage – aber daran dachte ich in diesem Moment nicht. Ich kaufte das Magazin mit dem Dylan-Interview aus der trägen Neugier eines Menschen heraus, dem eine längere Zugfahrt bevorsteht, und ja, ich mochte den Kerl. Im Laufe der Zeit war die Musik meiner Jugend blasser und blasser geworden, bis nur noch Dylan übrig geblieben war. Nicht einmal übrig geblieben eigentlich, denn ein besonderer Held meines musikalischen Erwachens war er gar nicht gewesen, das waren eher Cream, Hendrix und einige andere. Mit 17 hatte ich Ginger Baker in der Royal Albert Hall gesehen und zehn, zwölf Jahre später – damals war Manhattan ein heruntergekommenes Nest und ein Spaziergang im Morningside Park lebensgefährlich – Wynton Marsalis in der Avery Fisher Hall. Gone, gone, gone. Er allein jedenfalls war noch da, der Typ, der niemals lacht, der sprechende Rabe, der fromme Streuner mit den krächzenden Liedern. Ihm zugehört hatte ich erst, als der Jugendrummel vorbei war. Ist es nicht merkwürdig, mit vierzig zum ersten Mal im Leben ein Dylan-Konzert zu besuchen? So war es aber, es wurden dann mehr.

Ich erinnere mich an einen Abend in Hamburg, im streng bestuhlten CCH, alle mussten sich hinsetzen und die ganze Zeit sitzen bleiben wie in einer protestantischen Kirche. Ich hatte einen hinteren Platz mit schlechter Sicht auf die Bühne, aber die dicht besetzten Reihen vor mir sah ich gut, einen zur Bühne hin sanft abfallenden Hang gesammelter Erwartung. Als das Saallicht erlosch und die Bühnenscheinwerfer aufgingen, war es, als leuchte nun auch die Erwartung auf. Eine Kongregation matt erleuchteter Glatzen war es, die ich erblickte, vom Bühnenlicht auf die kahlen Köpfe des durchweg in die Jahre gekommenen Dylan-Publikums gezaubert. Vielleicht war es eine Ahnung von etwas Derartigem gewesen, die mich als jungen Mann auf Distanz zu Dylan gehalten hatte: dieses Leuchten in den Augen bei gewissen Liedern. Nun war das Leuchten aus den Augen auf die Glatzen gewandert.

Dafür kann er nichts. Es geht ihn nichts an, gar nichts. Er hat eine Menge dafür getan, seinem Publikum das Leuchten aus den Augen zu treiben. Die Wendung zur E-Gitarre; die Wendung zu Gott. Frei nach Johannes dem Täufer bedeutete er seinen Jüngern: Leute, ich bin es nicht, aber es kommt einer nach mir, der ist es. Das hat er so nicht gesagt, er hat sich nur zum Papst auf die Bühne gestellt und ihm ein Ständchen gebracht. Ein andermal ließ er dem interpretationsnärrischen Teil seines Publikums ausrichten, nichts weiter als ein sing and dance man zu sein, ein praktizierender Musikant. Einer, der tut, was er tun muss.

Es verblüfft mich, einen Musiker zu sehen, der seit Jahrzehnten nicht versiegt, der ein so unfassbares Lebenswerk aus sich heraus treibt. Einen Sender zu hören, der, seitdem ich hören kann, pausenlos sendet auf dieser gelegentlich eingängigen, dann wieder rätselvoll rauschenden Frequenz. Meine Hörgewohnheiten sind barbarisch. Es gibt Zeiten, da bin ich wie taub und höre so gut wie nichts. Aber manchmal trifft mich Musik und verschmilzt so sehr mit einem bestimmten Seinszustand, daß ich mich kaum mehr von ihr zu unterscheiden weiß. So ging es mir in dem Jahr, bevor ich nach Moskau lief. Ich fing mir dieses Dylan-Lied ein, und dann musste der CD-Spieler immer wieder zu den Anfangsklängen zurück.

Was hat „Blind Willie McTell“ mit dem Weg von Berlin nach Moskau zu tun? An und für sich nichts. Für mich alles. Ich habe das Lied täglich gehört, zehnmal, zwanzigmal, über ein Jahr lang. Es singt vom Zelte abbrechen, von kahlen Bäumen. Von Märtyrern und vom Weg durch ein verfluchtes Land. Vom amerikanischen Süden, und der reicht von New Orleans bis nach Jerusalem. Das war im Sommer 2001 nicht meine Route. Ich ging über die Oder, die Weichsel, die Memel, die Beresina, den Dnepr. „Bloodlands“ heißt das Buch eines amerikanischen Historikers über die Märtyrer und die verfluchten Gegenden dort im Osten. Dylan wird es kaum kennen. Sein Lied ist älter als das Buch. Aber er weiß es auch so. Das Lied von Mord und Totschlag ist das alte Lied, es ist universal. Dylan streut Blüten auf den amerikanischen Pilgerweg, rote und schwarze – den süßen Magnolienduft des Südens, das Ächzen geschlagener Völker, die Gespenster der Sklavenschiffe. Aber das allein reichte nicht, um mich zu kriegen. Es waren nicht nur diese Bilder, es waren die Stimme, die spärliche Instrumentierung, dieser seltsam lockende Klang. Ein Flüstern in der Nacht. Man konnte sich vorstellen, daß der im Titel und im Refrain beschworene blinde Sänger selbst das Lied murmelte und summte, und „the stars above the barren trees were his only audience“.

Jedenfalls war die Wirkung absolut elektrifizierend, gleich beim ersten Hören. Dylan schlug den Ton an, den ich so sehnlich erwartet hatte, ohne ihn im Entferntesten benennen zu können, einen Ton, der nur eine Gabe sein konnte, ganz und gar unverdient. Sein Lied hat mich 2001 auf den Weg nach Moskau gestoßen. Es war der Soundtrack meiner Reise, bevor sie begann. Indem es vom amerikanischen Süden sang, distanzierte es mich vom Osten, hüllte mich in eine zweite poetische Haut, und zugleich tauchte es mich kopfüber ein in den blutig-schönen Morast. Märtyrer und Magnolien, das alles würde doch in der Luft liegen und in der blutigen Erde – dort, wohin ich im Sommer 2001 ging.

An dem bleichen Morgen, an dem ich aufbrach, verstummte das Lied in mir. Es war wie gelöscht. In diesen Monaten auf der Straße war ich taub dafür – nun hatte die eigene, die wirkliche Reise begonnen, sie übertönte jeden anderen, jeden fremden Klang. Sobald ich aber vom Moskaumarsch heimkehrte und ans Schreiben ging, war das Lied wieder da, das Buch ist von ihm durchtränkt, von Magnolien und Märtyrerblut.

Neun Jahre später dann die kurze Begegnung am Bahnhofskiosk in Wiesbaden. Mein Zug kam, ich suchte mir einen Platz, stöberte durch das extrem lange Interview – und plötzlich diese Stelle. Dylan kommt unversehens auf die Route 77 zu sprechen, die alte amerikanische Nord-Süd-Straße von Iowa bis hinunter nach Süd-Texas, an dieser Straße entlang lasse sich die Musik Amerikas erzählen, von den Polkas polnischer Einwanderer in seiner Bergbauheimat Minnesota bis zur Musik der Cowboys auf der King Ranch in der Halbwüste des äußersten Südens.

Stundenlang hatte ich Landkarten des Mittleren Westens betrachtet, ich kannte sie inzwischen auswendig, aber einen Weg, der meiner hätte sein können, hatte ich vor lauter Namen nicht gefunden. Lauter mythische Orte blinkten. Abilene. Omaha. Sioux City. Waco. Corpus Christi. Laredo, die Badlands. Sie würden mich alle verrückt machen, ich würde von Name zu Name irrlichtern auf einem hilflosen Zickzackkurs. Ohne eine zwingende, in wenigen Worten vor allem mir selbst begreiflich zu machende Route ging es nicht, ohne ein Leitseil. Gab es das, musste ich nie wieder an die Strecke denken und war frei für jeden neuen Tag und alles, was kommen mochte, frei wie Odysseus, gebunden am Mast. Fehlte das bindende Seil, würde mich jeden Morgen die Frage quälen: Und wohin jetzt? Das Gefühl, am falschen Ort zu sein, wäre mein Schatten. Ich merkte es schon jetzt über der Karte. Meine Gedanken irrten von Mythos zu Mythos, und die Gewissheit stellte sich ein: Du gehst nirgendwohin, du gehst im Kreis.

Route 77 – das Lesen und Wissen, was mein Weg durch Amerika ist, waren ein und dasselbe. Derselbe, der mir den Sound der Sommerwanderung nach Moskau geschenkt hatte, hatte mir soeben den alles entscheidenden Rippenstoß versetzt: Da lang!

Wenn ich nun sein neues Album höre, das hier und da an frühe Werke erinnert, an „Pat Garrett & Billy the Kid“ oder an „Desire“, kommt es mir so vor, als gehe es Dylan – nach der Wendung zur E-Gitarre und der Wendung zu Gott – um eine neue Kehre: Seine eigene dem Publikum hingeworfene Prophetie wahr zu machen und ganz und gar in die Existenz eines song and dance man einzutreten. Das allzu Dylaneske abzuschmelzen und nur mehr amerikanische Heimatlieder vorzutragen – Heimat- und Kirchenlieder der speziellen Art.

Und mitunter habe ich beim Hören das Gefühl: Ja, diese Zeile jetzt, diese Gestalt aus diesem Album, die kenne ich, an die erinnere ich mich. Ungefähr so ist es gewesen in der Bar in den Badlands, in der Nacht mit dem indianischen Cowboy. Oder bei den verträumten alten Männern von Marysville in Nebraska. Auf der Straße nach El Dorado, am Himmel über mir Geier, um mich her ein Rest Prärie, der Judasbaum blühte wie Feuer, und der junge Priester, der mich in seinem Pickup mitnahm und der früher ein Geschäftsmann gewesen war, warnte mich vor dem Bösen hier draußen.

In Texas habe ich einen Abend in einer Bar verbracht, zu der eine kleine Bühne gehörte. Alle zwanzig Minuten durfte ein anderer Musiker auftreten, der Lohn war, was im Hut lag, der nach jedem Auftritt herumging. Alle diese Musiker kamen von der Straße herein und gingen nach ihren zwanzig Minuten Ruhm wieder auf die Straße hinaus. Und sie alle waren fantastisch gut. Nein, ich treibe das nahe liegende Bild jetzt nicht auf den Kitschpunkt: Ihn habe ich nicht dort hereinkommen und anstehen sehen, nicht einmal nach dem dritten Bier. Aber ich habe in der Nährlösung gebadet, aus der er lebt und spielt, einen ganzen Abend lang.

Wolfgang Büscher

ist Journalist und Autor. Er schrieb Reportagen für die Süddeutsche Zeitung, FAZ, Geo, Die Welt und Die Zeit. Bekannt wurde er mit mit seinen bei Rowohlt veröffentlichten Reiseerzählungen „Berlin – Moskau“ und „Hartland. Zu Fuß durch Amerika“. Wolfgang Büscher lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Berlin.

5 Orte

…die Dylan-Fans kennen sollten

Hibbing, Minnesota

Als Robert Allen Zimmerman sechs Jahre alt war, zog die Familie in diesen kleinen Ort mit dem größten Eisenerztagebau der Welt. „Die Grube war am Rand der Stadt“, erinnert sich Dylan in Martin Scorseses Doku „No Direction Home“. „Dort haben alle gearbeitet. Man konnte kein Rebell sein. Es war einfach so kalt, dass man nicht abweichen konnte. Das Wetter macht sehr schnell alles und jeden gleich.“

Highway 61

„Der Highway 61 beginnt dort, wo ich herkomme“, hat Bob Dylan in einem Interview gesagt. „Für mich hat es sich so angefühlt, als hätte ich auf ihm begonnen, wäre immer auf ihm gewesen und könnte von ihm aus überall hinkommen.“ Der Highway beginnt in Dylans Heimat an der kanadischen Grenze, führt von dort Richtung Süden, vorbei an Elvis Presleys Heimatstadt Memphis bis ins Mississippi Delta nach New Orleans. Viele Bluesmusiker fuhren auf dieser Straße, um vom Süden nach Chicago zu kommen. Die ganze amerikanische Kultur, die Dylan in seiner Jugend aufsaugte, kam aus dieser Richtung.

New York City

Es war der Wunsch gewesen, sein moribundes Idol Woody Guthrie zu treffen, der Bob Dylan im Januar 1961 nach New York City führte. In der Folkszene von Greenwich Village fand er Unterschlupf. In seinem frühen Song „Hard Times in New York Town“ beschreibt er seine ersten Monate im Big Apple. Da klingt er noch wie ein Landei in der großen Stadt. Doch er lernte schnell, wechselte vom Folk zur Kunst, zog vom Village ins Chelsea Hotel. Mitte der Sechziger war nicht mehr Phil Ochs, sondern Andy Warhol sein größter Rivale im Kampf um die Gunst der Szene.

Woodstock, New York

Sein Anwesen in der Künstlerkolonie Byrdcliffe nahe des Städtchens Woodstock in Upstate New York diente Dylan nach seinem Motorradunfall am 29. Juli 1966 als Rückzugsort. Er arbeitete an einem Film über seine letzte Europatour, ließ für zusätzliche Soundaufnahmen seine Tourband (die spätere The Band) kommen und begann mit ihr gemeinsam an Songs zu arbeiten. Zunächst in seinem Haus, ab Anfang Mai dann im Keller eines rosafarbenen Gebäudes, das bald den Namen Big Pink trug.

Richmond, Virgina

Immer wieder taucht in Dylans Werk der Amerikanische Bürgerkrieg auf. Im Video zu seinem Song „‚Cross The Green Mountain“ von 2003 sieht man den Songwriter in Kostümierung nach einer verlorenen Schlacht durch ein Zeltlager der Konföderierten reiten und die Verwundeten und mit dem Tode Ringenden begutachten. Gedreht wurde der Clip auf dem Hollywood Cemetary in Richmond, Virginia, wo der Präsident der Konföderation, Jefferson Davis, und 25 Generäle begraben wurden.

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