Die Deutsch Rock Stunde

Erst schien es bloß ein Witz zu sein, doch die Anfrage war ernst gemeint: Von Stuckrad-Barre sollte im "Comedy-Zelt" bei den Festivals "Rock im Park" und "Rock am Ring" auftreten. Er sagte zu. So verbrachte der Popliterat das Pfingstwochenende zwischen Santana, Reispfannen, Dönerbuden,T -Shirt-Ständen und Chemieklos und beobachtete Bräuche und Traditionen des deutschen Festival-Wesens.

Gibt es richtiges Lesen im falschen Zelt? Offenbar schon. Ob er bei den Rocks am Ring und im Park lesen wolle, wurde der sogenannte Popliterat gefragt, und nachdem er sich der Ernsthaftigkeit dieser Anfrage vergewissert hatte, sagte er zu, ohne noch allzu lange darüber nachzudenken. Einmal, dachte er, einmal kann man es wagen. Es kann kaum funktionieren, eigentlich muss es scheitern, aber hinterher kann man es eine Erfahrung, ein Experiment nennen, so kann man ja alles tarnen und vieles rechtfertigen. Außerdem sprach gegen eine Absage das Aufgebot all der anderen Künstler, das neben etlichen Katastrophen auch mehrere Prachtbands aufwies. Dass er Sting, die Eurythmics und Santana gleich zweimal erleben – Travis, Embrace, Oasis sogar, 5 Sterne Deluxe oder The The dafür zweimal genau verpassen würde, nun ja, so war dieses Festival eben angelegt, dafür kam der Popliterat ausgleichend gerecht immerhin um Die Toten Hosen herum.

Und einmal mit den anderen Helden gemeinsam auf einem Plakat und einer Bühne zu stehen, aus derselben Schatulle bezahlt zu werden, vielleicht sogar aus einem Trog zu essen oder in eine Rinne zu pissen, wer würde da zögern – also Zusage, natürlich. Geld sollte es schließlich auch geben, vielleicht verdiente er mehr als Matt Johnson an diesem Abend, denn genau wie er die Nervosität nicht teilen konnte, so musste der Popliterat andererseits das Honorar nicht teilen, er hatte ja keine Band dabei, keine Gitarren-Roadies, keinen Merchandising-Verkäufer oder Mischpult-Nerd, gar nichts eigentlich, bloß ein paar Texte, CDs, Dias und zwei Igluzelte für eine Art Saalwette. Die Nebenbühne hierfür hatte der Veranstalter „House of Comedy“ genannt. Wenn Veranstalter texten, gerät das oftmals so wie Ergebnisse von Politiker malen, Arztgattinen töpfern oder Christoph Daum motiviert eine Horde Ballspieler. Nein, dachte der Popliterat, Comedy bin ich nicht, war ich nie, werde ich nie sein, den Scheiß bitte direkt zurück zu Lück und hoffen, dass dies gottlose Republikgeschwür bald besiegt ist. Die Antwort auf dem Platz geben, sagte er sich.

Er zieht seinen Schlips zurecht, obwohl man ihm empfohlen hatte – Zelt, Sommer, dazu die Scheinwerfer -, während des Auftritts am besten nur ein T-Shirt zu tragen. Doch hatte der Popliterat sich am Nachmittag auf dem Festivalgelände umgesehen und schon am ersten Festivaltag bei Teilnehmern und Gelände eine solch kolossale Verrohung und Verwahrlosung feststellen müssen, dass es keinen anderen Weg gab, als stellvertretend ein Zeichen zu setzen und korrekt gekleidet den Auftritt zumindest zu beginnen. Nicht, dass es entscheidend wäre, aber eine Geste ist es allemal. Womit wir beim Rock wären, denn daraus besteht der ja nahezu ausschließlich. Was da jeder spazieren bzw. zur Schau, wenn nicht Show trägt!

Man guckt beim Dauerspaziergang von einer Bude zum nächsten Zelt (nie kommt man an! verweilt immer nur vorübergehend – Rock-Diaspora!) einander ja nicht in die Augen, sondern auf die Oberbekleidungsbeschriftung: Was wollen sie uns sagen, diese Entgegenkommenden, Torkelnden, Sitzenden, Schreienden, Mampfenden, Schlange stehenden (alle warten dauernd auf etwas, ein Festival handelt nur vom Gleich, vom Hoffen auf Erlösung, christlicher wird man diese Horde niemals erleben als in diesem Moment absolut ergebenen Ausharrens im Unvollendeten, im Bangen, in der Erwartung, wann wird es kühler, wann kommt die Sonne, wann kommt der Star, wann das Lieblingslied, wann wird das Klo frei, wann endet der Stau, wann bin ich dran, wann wird es dunkel, wann bin ich betrunken, wo ist die Tusse abgeblieben, wo ist der Deinhardt?).

Und sie wollen uns alle was sagen, vor allem die Nackten, doch nachmittags waren viele noch bekleidet und somit beschriftet: Bandnamen, rüde Slogans, durchgeboxte Hakenkreuze, überdimensionale Hanfblätter, lodernde Schweinerocklogos, ironisierte Embleme, rundschriftige Britpop-Bekenntnisse – geredet werden muss praktisch nicht mehr. Dazu ist es auch zu laut.

„Hey-hey-ey-hey, I would really like to talk with you“, dröhnt es aus dem Zelt mit dem blöden Namen, der Popliterat mit dem langen Namen startet pünktlich seinen 60-minütigen Selbstversuch. Es sind auch Zuschauer da. Tatsächlich ist es sehr warm, bald schon gießt der Popliterat sich Bier über den Kopf, das passt zum gerade gelesenen Text, Multitasking, und es kühlt auch. Aber ist das noch trennscharf zu fragwürdigen Rockritualen? Ist jetzt nicht klar, ist jetzt auch egal, schon geht es weiter, wie laut es ist, nicht nur ich, alles, denkt der Popliterat, denkt er denn überhaupt, eigentlich spult er ja mehr, wirkt dabei jedoch nicht unglücklich, so von weitem, bloß etwas neben sich. Nach 20 Minuten Spielzeit bittet er zwei Publikums auf die Bühne, um sie die beiden Igluzelte aufbauen zu lassen. Das knapp unterlegene Mädchen (Project Pirtchfork-T-Shirt) verfängt sich fatal im Mückenfenster, der obsiegende junge Herr (Manchester City-Trikot) bekommt 50 Mark steuerfrei überreicht, großer Applaus, und weiter geht die Lesung. Nie zuvor hatte der Popliterat so sicher sein können, vor komplett Santana-Fan-freiem Auditorium zu lesen, denn der singt zeitgleich nebenan.

Hatte der Popliterat sich eigentlich auf diese Prüfung vorbereitet? Ja, wenn auch eher zufällig: Am Vorabend hatte er nahe seines Basiscamps in Berlin noch eine Santana-Single gekauft, um sich damit bei verirrten Festivalbesuchern notfalls anzubiedern, dann war er über den Gendarmenmarkt gewandert, wo einige tausend nichtszahlende, um es einmal mit der deutschen Phonoakademie zu sagen: adult rock consumers gelangweilt auf eine große Bühne starrten, in Brezeln bissen und Bier tranken. Die Handwerkskammer feierte dort mit einem bunt programmierten Tag ihr hundertjähriges Bestehen, ein tagkrönender Auftritt der Band BAP stand noch aus, erzählten die Handwerker dem staunenden Popliteraten, der nach solcher Androhung normalerweise die Beine in die Hand genommen (und zwar anders als bei anderen Konzerten seine eigenen) und von dannen gelaufen wäre, doch er dachte, wertvolle Informationen zum Verständnis der Publikumssituation bei den beiden bevorstehenden Rocklesungen sammeln zu können. Wie verhält man sich, wenn man einer Darbietung lauscht, für die man nicht gesondert gezahlt hat, wenn man also relativ gleichgülig vor Künstlern sitzt, deren Werk man möglicherweise geringschätzt.

Beinahe entwickelte der Popliterat sogar sogenanntes Mitgefühl für die Handwerker auf der Bühne: Niedecken spielt, wenn die Handwerkskammer ihre Unkaputtbarkeit feiert, denn auch über die ja nur wenig dienstjüngeren BAP mag etwa die Zeitschrift „Gitarre und Bass“ urteilen, sie bestehe aus guten Handwerkern, deshalb auch (Achtung, Fehlschluss) aus guten Musikern, weil sie teure, perfekt gestimmte Instrumente verwenden, und die Töne treffen.

Allein, die Töne, die sie anvisieren, sind leider falsch und furchtbar, aber handwerklich gesehen ist es einwandfrei. Interessant in diesem Zusammenhang, dass auf dem für die Handwerker ausliegenden BAP-Newsletter im A des Band-Logos ein Totenkopf abgebildet war. Niedecken sprach zu den Berlinern, dass er „nisch vil quatsche“ wolle (wie ihn Fans nennen), oh nein, denn es handle sisch um die „Party-Tour“. Dann quatschte er aber doch, es ging um Zwangsarbeiterentschädigung, ein prima Thema für ein Bierfest, das bietet sich direkt an – und ja, die Handwerker nickten politisch agitiert und bissen in Würste und Gebäck. Es ist schon phantastisch, was man mit Musik so alles erreichen kann. Wie üblich zog sich das rheinische Gedröhne verdamp lang hin, und der Popliterat ging frühzeitig nach Hause, Sachen packen und schlafen, um dem Parkpublikum anderntags ein gewünscht ausgeruhter und aufgeräumter Gastgeber sein zu können.

Sein Auftritt missriet nicht komplett, aber natürlich gab es auch einige pöbelnde Bratwurstgesichter, die einfach froh waren, mal sitzen zu können (stehen ging nicht mehr so gut), und die statt zuzuhören bloß mal kurz pausieren und innehalten wollten zwischen Kotzen und Schreien und die einfach mal so einen Stuhl zertrümmerten, aus lauter Langweile mit sich selbst. Sie leben ihr Leben so/Wie sie selber nur sind – keine gute Entscheidung, doch hatten sie ja bis zum Konzert der Toten Hosen noch mehr als 24 Stunden rumzukriegen, das muss man auch verstehen. Aber der Popliterat war für punktgenau 60 Minuten gebucht, und da ist er eisern, und das Travis-Lied läuft durch, wie er, seine Dias, wie seine Lesung: „If this was any other day/I’d turn and walk the other way/ But today/I’ll stay.“ Dienst nach Vorschrift, Literatur im Park, und noch mal Travis: „Hey! Love! Say!“ Genau, darum geht es. Viel mehr feine Menschen im Publikum als Dödel, wie angenehm, der Popliterat ist erleichtert und sagt Danke, wie es sich gehört.

Danach sitzt er in einem ihm zugeteilten Hinterbühnencontainer und trinkt Beruhigungsbier. Draußen hinter der Absperrung hört er Menschen rocken, jubeln, schreien und zelten. Niemand da, der ihm in diesem Container Botschaften auf den Oberschenkel schreibt, also nominiert der Popliterat sich selbst und öffnet die Tür. Es sieht so aus wie: genau. Ist es nun die Endemolsche Viertelmillionklapse in Köln-Hürth, der Sachsen-Anhalt-Pavillon auf der Expo oder doch nur der Backstagebereich von Rock im Park, fragt sich der Popliterat irritiert, angesichts der Indifferenz durch Deckungsgleichheit der verfügbaren Bilder in der verwalteten Realität, wie Bloodhound Gang-Hörer sagen. Immerhin, vor dem Container wartet kein verdunkelter Mercedes, der Popliterat muss weder holländische Knebelverträge signieren, noch eine Single aufnehmen, er kann sich Sting anhören, der nachmittags im Führer Sportpark Nordwest am Schallerseck Schach gespielt hatte, statt den exzellenten Auftritt der Freundeskreis Allstars zu beklatschen.

Die auf ihrem Stehplatz hüpfende Radiolegende Sabine Bulthaup behauptet zwar; erstens sähe Sting aus wie Achim Reichel und zweitens habe er wohl eine Echthaarverpflanzung vornehmen lassen. Außerdem sei sie fertig mit dem, seit sie vor einigen hundertjahren einmal nicht ins Hamburger Schauspielhaus gekommen sei, als Sumner dort Haifischquark gebasst hatte, mit Gianna Nannini wohl, man habe ihr, Bulthaup, damals gesagt, Verzeihung, nicht mal für John McLaughlin hätte es noch eine Karte gegeben. Das sind natürlich Geschichten. Und Lieder: Police! Die gut platzierten Ewighits versöhnen trotz eitler Jazz-Längen mit dem unnötigen brand new Spätwerk. Rechtzeitig aufhören, das ist in der Musik wie überall ein elementares Kriterium für Größe. Tappert, Beatles, Lafontaine. Und eben nicht Matthäus, BAP, Kohl. Auf der Bühne sterben, okay, aber bitte nicht siechen. Deutlich vor Zugabenende stakst der Popliterat durch Dosen, Wurstpappen, Gyrosknorpel und andere Rockbeweise hindurch gen Ausgang. Von den diversen Bühnen hört er es nichtig bollern, das parallele Gerocke mischt sich zu einem unguten Gleichbrei, der den am Wegesrand feil gebotenen Esperantopfannen ähnelt. Wer kann und will da noch unterscheiden?

Egal eigentlich, ob sie okay sind, vielmehr muss die Frage lauten, ob sie denn nötig sind, diese unzähligen Rockbands (und eine ist ja doch immer wieder dabei, der mindestens ein existenzberechtigender Hit gelingt), sie reproduzieren sich selbst, wie Nanoboter. Die Musikindustrie ist dagegen machtlos, bei einer höchstens gleich bleibenden Zahl von Befürwortern dieser Musik, verdoppelt sich die Zahl der Ausübenden fast täglich. Copy kills music – endlich stimmt dieser armselige Slogan mal oder anders gefragt: Was machen eigentlich Mr. Ed Jumps The Gun? Alles klar bei Liquido? Und wie hießen die im letzten Sommer mit „Mr. Brown“? Ach, und Such A Surge sind also wieder da – aber waren die denn überhaupt weg? Oder auch: Je wirklich da?

Über die Vergänglichkeit sinnierend, macht sich der Popliterat auf ins Hotel, und in dessen Bar geht es zu wie bei Ossy Hoppes Geburtstagsfeier, ein Wahnsinn, und da ist er ja auch endlich, der Deinhardt, zack, bäm, auf den/dem Tisch, Hände hoch, Hose runter, egal – Musikbranche eben. Travis reimen auf Rock: „You seem to work around the clock.“ Was man so Arbeit nennt.

Vorher hatte es geheißen, am Ring ginge es deutlich unzivilisierter zu als im vergleichsweise idyllischen wenn die Sonne gerade nicht mehr zusehen mag beim entgrenzten Gewusel, doch das hatte sich der Popliterat beim Festivalsendungen-Gucken gemerkt: Immer Sonnenbrille tragen, dazu ein Bier in der Hand und einen Zugangsausweis um den Hals baumeln lassen, sonst fällt man auf. Er redet furchtbaren Quatsch, hasst es und sich und will noch mal von vorn anfangen, aber wozu, ist im Kasten, ist wurscht.

Fernsehen ist zum Kotzen, immer benimmt er sich da so unnötig blöd, denkt der Popliterat. Es ist Park. Ob das möglich ist, hatte der Popliterat gezweifelt, um zu Tags drauf festzustellen: jawohl, kein Problem. Die Bewohner der an den Ring angrenzenden Ortschaft sitzen auf Klappstühlen vor ihren Häusern und sehen aus, als säßen sie dort unverändert, nur noch etwas betrunkener, seit dem Großen Preis von Deutschland, einige sogar seit dem von Wim Thoelke. „Rasen ist out“ steht auf Straßenschildern. In so unmittelbarer Nähe des Austragungsorts einer der allersinnlosesten Sportarten mutet das tragisch an. Dort selbst beaufsichtigt eine Abordnung Politessen gelangweilt den Abtransport riskant geparkter Autos, und aus einem Funkgerät dröhnt der schöne, Willkür verheißende Satz: „Komm Manuela, den Corsa machen wir noch, dann ist erst mal genug, Hunger hab ich.“

Unweit der so genannten RTL-Kurve dann die erste Begegnung mit dem annoncierten Nürburgringspezifischen Verhalten: Männer stehen vor einer Leitplanke, die rechte Hand an der eigenen Reißleine, und nicht wenige haben vergessen, was sie sich vorgenommen hatten (kurz mal zu pissen, nimmt man an), denn sie stehen minutenlang einfach so da, schwanken leicht und wirken indisponiert. Im Vorwort des Festival-Programmhefts beschrieb „Herzlichst, Eure Marek Lieberberg Konzertagentur“ poetisch den unterstellten Geist des Rock-Ballermanns mit Ausnahmen: „Massenveranstaltung mit Platz fürs Intime – eben das Kleine im Großen.“ Platz fürs Intime meint wohl, dass man zum Pissen nicht mehr aufs Klo geht, sondern zwanglos dort seinen Kleinen hinhält, wo man Blick auf das Große, zumindest noch auf die das Gitarrengezerre übertragenden Großbildschirme hat, auf deren Zierleiste klargestellt wird: Powered by Mercedes Benz. Die Hölle. Und was ist im Himmel los? Menschen hängen sich in Funsportgeschirr und springen von Kränen. Tu was, Gott! Nein, nicht du, Sting, Missverständis, halt!

Der Popliterat geht zum MTV-Zelt und spricht in eine Kamera hinein. Er trägt eine Sonnenbrille, auch aber auch eine verkommene Welt, die sich hinter der Bühne für wenig mehrheitsfähige Bands auftut, im Zelt der Lügen: Medienhansel, Musiker, Betrüger, Wracks, alle da. Du auch hier/ Wir telefonieren/ Man sieht sich/ Gute Story da neulich/ Bei mir läuft es gut, und selbst/ Gestern abend war richtig hart/ Wo sind denn die Klos/ Haste Campino gesehn/ Cooles Shirt/ Hat mich gefreut.

Natürlich telefonieren wir nicht. Und es läuft auch nicht und natürlich freut es niemanden. Stop, Moment, falsch, einen natürlich doch: Helmut Zerlett Hihi, tönt es aus seinem Clownsanzug, der freundliche Organist ist wie stets bester Laune. Gerade hat er Bestandteile von Slipknot erspäht, einem Kollektiv maskierter US-Trashrockwitzbolde, und die findet Hallo-ich-bin-Helmuth sowas von total witzig, irre, nein wirklich. Zerlett sagt den Musikbranchensatz Nummer 7: Ob ich von denen ein T-Shirt rausleiern kann? Die maskierten Rocker gehen zur Bühne, einer von ihnen stolpert über einen Gummibaum, wegen der sichthindernden Maske. Die passbehängten, reingelassenen Branchenheinis gucken taktvoll zur Seite und lügen sich weiter an. Zerlett kichert in höchsten Tönen. Viele denken, er spinnt, aber das ist nicht ganz richtig. Wer jahrzehntelang pianierte für Marius-ihr-seid-die-größten-und-ich-erst-mal Westernhagen, und darüber nicht zum Zyniker geworden ist, muss ein guter Mensch sein. Ein T-Shirt kriegt er trotzdem nicht.

Der Popliterat verweilt in der Catering-Ecke und starrt fasziniert auf 150-Kilo-Hardrocker, die nach dem sogenannten Essen folgsam Reste und Geschirr exakt so entsorgen, wie es auf Hinweistafeln verlangt wird, Leg dich hin“ steht auf einem T-Shirt-Rücken, und der darin eingepellte Koloss mit Bienenzüchterbart und Lemmy-Gesichtshaut sortiert, obwohl er aussieht, als würde er Knochen, Teller und Besteck gewöhnlich gleich mitessen, geduldig in fünf verschiedene Plastikkörbe eine Art Mülltrennung, wie sie analog ja auch im Nachmittagsprogramm auf den verschiedenen Bühnen stattfindet.

Der Popliterat macht sich auf zu seiner, hinter der heute keine Container, sondern Wohnwagen stehen. Das ist natürlich wunderbar Rock. Ein eigener Wohnwagen! Und zwei Handtücher für die Bühne, mit denen man sich das nassgerockte Gesicht trocknen kann, um dann ins Mikrofon zu schnaufen: „Danke, Ihr habt wirklich Soul, ihr bringt mich ganz schön zum Schwitzen, danke, wow!“ Niedecken revisited.

Die anderen sogenannten Acts sind zu mehreren da und können diese Wohnwagen problemlos beleben – sie stimmen darin ihre Instrumente, spielen Karten, verprügeln ihre Ehefrauen, schmieren sich Brote, entfernen einander Rückenhaare – Dinge also, die Menschen miteinander eben tun. Der einsame Popliterat singt „My lonelyness is killing me“ und verlässt schleunigst seinen Wohnwagen, er muss sonst weinen.

Dann bemüht er sich die vereinbarten 60 Minuten lang, hat im Vergleich zum Vortag einige Zwischenrufer mehr zu parieren, deren Sprache nur noch wenig Konsonanten enthält. Der Popliterat fühlt sich und sein Programm zunächst empfindlich gestört und denkt ernsthaft so unschöne Dinge, ob nicht in manchen Fällen die Bungee-Seile doch ein gutes Stück zu kurz bemessen wurden. Die meisten Zuhörer aber sind auch am Ring ausgesprochen freundlich. Es werden sogar Schilder hochgehalten, auf denen nette Dinge stehen, das ist neu, das ist umwerfend. Ausziehen! ruft dann jemand, was auf eine Art auch umwerfend ist. Fürchterlich, RTL2-Welt, Hilfe, denkt der Popliterat .Von anderen hat er sich hinterher erzählen lassen, was dann geschah. So einiges. Dabei wäre es so einfach: Ausziehen-Rufer haben ja zumeist selbst

höchstens noch stinkige Shorts an, mit dem Shirt mussten sie ihr Zelt oder ihren Nacken auswischen. Anziehen! müsste man also bloß zurückrufen und dann weiterlesen. Den Zeltaufbauwettbewerb gewinnt am Ring ein junger Herr im Nirvana T-Shirt. Was könnte dies im Vergleich zu Nürnberg bedeuten? Auf der großen Bühne singt Annie Lennox gerade sehr laut. Viel zu laut. Der Popliterat legt die Santana-Single ein und ruft Unflätiges in Richtung der Greenpeacebotschafterin, der von nahem eine erstaunliche physiognomische Annäherung an Regine Hildebrandt attestiert werden muss. Ihr Kumpel Dave trägt wie sie einen Anzug aus wohl feuerfesten Aluminiumpailetten. Wer’s tragen kann – also, Stewart auf jeden Fall nicht. Die Ring-Lesung gelingt trotz widriger Umstände deutlich besser als die tags zuvor im Park, der Popliterat ist eindeutig eine Turniermannschaft.

Keinerlei Boxenluder, im Hintergrund gniedelt ausdauernd Herr Santana, aus Nighdinern hört man würdelose Rockgeräusche, in den Zelten mit der Aufschrift „Frei ficken“ oder „Lachgas 5 Mark“ herrscht reger Betrieb. Lokalvollidiot Jürgen wurde vor wenigen Stunden frei gelassen, nicht weit von hiet; er ist unter uns, mit uns; es ist nicht die Person Jürgen, die am Ring rockt, nein, der muss eine Single aufnehmen, und, wie es heißt, „von Termin zu Termin hetzen“. Am Nürburgring aber in Serie gegangen, wenn es noch stehen kann: das Prinzip Jürgen. Open Airs sind so vollständig desillusionierend, daß man süchtig danach werden kann. Nichts prägt diese Veranstaltungen so wie die ständige Nichteinhaltung: Es regnet dann doch oder wird viel zu heiß, der Rausch ist lange nicht so lustig wie die Nachwehen erbärmlich, die Lieblingsband ist zu leise oder zu laut oder man steht beim Hit noch vor arroganten Ordnerschränken, das Klopapier ist aufgebraucht, das Bier leer, der Popliterat zu hektisch für seine doch so elegischen Texte – all sowas. Das Publikum selbst ist der Headliner, erzeugt und bedingt in dieser unfassbaren Menge so viel Nebenhandlung, Untertitel und Randgeräusche, die eben nicht stören, sondern definieren. Was im Kino der störende Zuspätkommer ist, der Platz suchend durchs Bild latscht, ab Schattenriss – beim Festival ist er unerlässlich.

Als der Popliterat auf der Bühne seine zur Unzeit, nämlich gerade vor einer Woche für menschenverachtende 150 Mark erstandene Oasis-Merchandising-Fleeceweste gestreichelt und crowdgepleast hatte: „War jemand da?“, jubelten die netten Menschen im Zelt, als wäre Noel nie gestorben. Das war ein GefühL Gewesen. Vorzeitig. Draußen standen die Leitplanken-Pinkler, powered by Mercedes Benz. Drinnen aber war man sich einig: There diditattgo wrong. Tafkap, The author formely known as Popliterat, verbeugte sich gerührt, hob freiheitsstatuengletch eine Heinekendose in die feuchte Luft und war neu geboren. Als Rockliterat.

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