Hingabe an den grossen Beat

Ein sonniger Sommertag in London. Zu sonnig, um Interviews zu geben, finden Tom Rowlands und Ed Simons etwas unvermutet und sagen kurzerhand alle Termine ab – alle bis auf einen, nämlich meinen. Fiktives Gespräch mit dem Produkt-Manager der Plattenfirma: Jungs, ihr könnt jetzt noch nicht zur Eisdiele, der Typ kommt eigens aus Hamburg!‘ 4 – Chemical Brothers: „Doch, das können wir wohl!“ – Produkt-Manager (grinsend, mit einem brennenden Streichholz am Tantiemen-Vertrag): „Nein, könnt ihr nicht!“ – Chemical Brothers (resigniert): „Naaa guuut_“

So burlesk stellt man sich den Betrieb im sogenannten Business gern vor, doch der Alltag ist bloß muffig und hektisch. Viel zu erzählen haben die beiden ohnehin als maulfaul geltenden Verweigerer also nicht, als sie schließlich mir gegenüber auf dem Ledersofa Platz nehmen. Gelangweilte Blicke schweifen immer wieder zum Fenster, wo die Sonne wartet und die Eisdiele. Das wird anstrengend, ahne ich. Und es wird. Worüber spricht man mit zwei Computer-Tüftlern, deren Musik zu 80 Prozent aus instrumentalen Rhythmus-Tracks besteht, deren neues Album „Surrender“ gleichwohl zu den global wichtigsten Platten des Jahres zählt? Daß DJs die neuen Rockstars sind, ist längst ein alter Hut Daß dennoch einige Gastsänger angeheuert werden müssen, um den Chart-Einstieg zu sichern, ist zumindest immer wieder interessant Ohne reale Menschen geht es nicht, da kann derBeatnochso fett wummern.

„Surrender“ versammelt erneut illustre Persönlichkeiten aus dem traditionellen Rock-Umfeld: New Orders Bernard Sumn er, PrimalScreams Bobby Gillespie, Mercury Revs Jonathan Donahue und Mazzy Stars Hope Sandoval sind ebenso dabei wie der schon unvermeidliche Chemical-„Laddie“ Noel Gallagher. Würden die Chemikalien eigentlich auch ohne die prominente Hilfe auskommen? Oder die Chemikalien ohne Chemikalien? ^Surrender“ klingt ja schon fast wie eine bekiffte Sekte von Ballermännern auf den mallorquinischen Hügeln, die auf den Vorbeiflug eines Kometen wartet Tom Rowlands, der Langhaarige mit der gelben Brille, rümpft die Nase. „Für euch Journalisten gibt es immer nur Schwarz oder Weiß“, zickt er. „Es geht hier doch nicht um ein funktionierendes Konzept, sondern um Musik, bei der verschiedene Komponenten ineinanderfließen, miteinander harmonieren. Ein Song ist ein Song – ob et letztlich am Computer oder auf der Akustik-Klampfe entsteht, ist egaL Das sagt über sein Gefühlspotential nichts aus.“

Man merkt, sie sind es leid, ewig als verkopfte Klang-Konstrukteure zu gelten. Dabei künden schweißtreibende Auftritte des dynamischen Duos doch längst von verstärktem Bauch-GefuhL Ein ganzes Jahr lang nahmen sich die beiden ehemaligen Geschichte-Studenten aus Manchester Zeit, um ihr drittes Album zu produzieren. Das Ergebnis klingt viel weniger nach Big Beat, dem stampfenden „Block Rockin‘ Beat“, der vor zwei Jahren die ohnehin brüchige Mauer zwischen Dance und Rock endgültig zertrümmerte. Statt dessen ging es um Verschmelzung. Psychedelische Computer-Sounds, dazu dezente House-Hämmer und ambiente Pop-Strukturen verleiten den Zuhörer zur totalen Hingabe an die Gesamtheit der Musik, so jedenfalls die Theorie, überprüfbar in Clubs, wo durchaus erwachsene Menschen zu Novitäten tanzen.

Da ist der Anschluß an die Jugend weniger wichtig als der Bewegungsdrang nach etwas, das irgendwie an früher erinnert. „Surrender“, der Titel ist natürlich mal wieder Programm: „Auch wenn es vielleicht komisch klingt – wir haben im Studio sehr viele alte Rave-Platten von ’88 und *89 gehört“, sagt Rowlands, gar nicht komisch. „Viel Zeug wie ,Let the music take controL let the music use you‘. Daher stammt eigentlich die Idee, sich ganz neu auf Musik einzulassen.“

Doch Ed Simons, der Kleinere mit dem Kräuselhaar, weiß um die Schwierigkeiten auf dem Weg ins Pop-Nirwana: „Big Beat wurde von der Presse erfunden und von der Plattenindustrie zugrunde gerichtet, wie jeder Trend. Zum Schluß gab es nur noch nichtssagende Platten von farblosen Acts. Wir wollen aber keine neue Nische, sondern ein neues Bewußtsein für Popmusik. Die Leute, die wir heute auf einem unserer Konzerte treffen, gehen wahrscheinlich morgen zu Gomez, und am Tag danach trifft man sie bei Boyzone. Popmusik ist Eskapismus, und wir bieten letztlich auch nur eine weitere Flucht-Variante an. Mit Trends hat das wenig zu tun.“

Tausendmal haben sie das schon gesagt, gepredigt wohl eher. Und weil sie es mit Worten nicht begreiflich machen konnten, haben sie wahrscheinlich irgendwann versucht, es nur noch durch ihre Musik zu sagen. Deshalb sind sie wohl so genervt, wenn sie Interviews geben müssen. Vielleicht sind Leute einfach so, die innerhalb von nur vier Jahren das elektronische Musik-Genre revolutioniert haben und (quasi als Dank) einen Grammy für das „Beste Rock-Instrumental“ bekamen: immer auf dem Sprung, stets vom Jetzt gelangweilt Wahrscheinlich aber sind die beiden nur schüchtern und es nicht gewohnt, ans Licht gezerrt zu werden. Auf der Bühne verstecken sich die Chemical Brothers schließlich auch ständig hinter ihren Computer-Türmen.

Das darf so sein. Bis auf Weiteres sagt „Surrender“ ziemlich alles, was es zur Lage der Popmusik zu sagen gibt.

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