Keiner versteht sie, zumindest fühlen sie sich oft so. Doch wer würde gegen Grenzen und Konventionen kämpfen, wenn es die INDIVIDUALISTEN nicht gäbe?

Sie kennen die Runterbring-Musik, die kurz nach der Landung in Lufthansa-Maschinen laufe Da jedenfalls kam in den letzten Monaten oft „Meer sehn“ von Der Junge mit der Gitarre. „Immer mehr seh’n, mehr vom Meer seh’n“, so Songwriter-Pop. Dieser Junge, der nun ein Album namens dagegen „gemacht hat – ist das womöglich einer von denen, die sich selbst irre eigenartig finden, weil sie nur eine Gitarre brauchen? Er heißt Tobias Schacht, ist 27, wohnt in Hamburg, sagt oft „geil“ und dass seine Musik „was Gelebtes“ ist, dass er sein „Ding machen“ will und glaubt, er hätte viel früher einen Plattenvertrag gekriegt, wenn er sich „in die Spielregeln gefugt“ hätte. Er hat mal ein A&R-Praktikum bei der Sony gemacht und am Ende überrascht festgestellt, dass es den Firmen „gar nicht um die Musik geht, sondern nur ums Marketing“. Was natürlich „ein spezifisch deutsches Problem ist“. Auf der Platte singt Der Junge mit der Gitarre exponiert locker darüber, dass „Big Brother“ doof war, über ein irre eigenartiges Punkmädchen und übers Ficken – er macht ja auch „was völlig anderes als Bro’Sis“. Die Sonntagsausgabe der „FAZ“ hat ihn eben für die deutsche Grand-Prix-Vorentscheidung nominiert. Scheint ein spezifisch deutsches Problem zu sein. JOACHIM HENTSCHEL

Steck dir die halbe Tüte Erdnusschips in deinen zuckersüßen Mund, find dich in einem Comicheft wieder, fotografier dich bunt“ – das ist „Kling Klang“ von Keimzeit aus Potsdam, Hauptmann Norbert Leisegang singt das Wort Chips mit brandenburgischem „seh“, und während“Kling Klang“ in den längst nicht mehr neuen Ländern eines der beliebtesten Hand-in-Hand-Lieder überhaupt ist, kennen es westdeutsche Männer vor allem von Kassetten, die beim Knutschen mit thüringischen Mädchen liefen. Keimzeit feiern gerade 20-jähriges Jubiläum, mit der Compilation „Das Beste bisjetzt“ und der neuen Platte „1000 Leute wie ich“, aber dass sie sich vom Dire-Straits-Rock der Anfänge wegbewegt haben und Leisegang ein großer Texter bleibt, scheinen nicht mal die Fans im Osten zu merken: „Die haben unsere letzten Platten nicht gekauft, das seh ich von der Bühne an den Gesichtern.“ Die einen zu nostalgisch, die anderen zu voreingenommen. Da muss noch was zusammenwachsen. CORNELIUS ZlNK

Es scheint ihm selbst ein bisschen unangenehm zu sein, dass die verbale Aufmerksamkeitsschwelle so hoch liegt und er selbst nicht wenig dazu beigetragen hat. Denn Kool Savas hat sich in seinen frühen Songs wie „LMS (Lutsch meinen Schwanz)“ als Lästermaul und durch rekordverdächtigen Gebrauch von Wörtern wie Nutte, Sperma und Rosette einen Namen gemacht, und im Verbund mit den Fotos, die ihn meist finster dreinblickend zeigen, ein Furcht einflößendes Image kreiert: Wird es bei einer falschen Frage zu Handgreiflichkeiten kommen, oder hat man Glück und er schreit einen nur an? Aber dann sitzt einem ein höflicher, wohl erzogener junger Mann gegenüber, und das auch noch in einer Münchener Bar direkt neben dem „Gay Shop Follow Me“. Ach, er habe doch gar nichts gegen Schwule, wiegelt Savas ab, benutze das Adjektiv in seinen Texten vielmehr als Synonym für „weich, soft, schlecht“. Ebenso würde er niemals eine Frau mit „Nutte“ anreden, und überhaupt: Der exzessive Gebrauch von Sexual-Slang sei seine Form von Humor. Ob Sigmund Freud das gewollt hat?Auf seinem Debütalbum „Der beste Tag meines Lebens“ tritt Kool Savas jetzt gemäßigter auf, und es gibt sogar eine Ballade. Das Vorbild für diese Union von Provokation und Massenkompatibilität ist Eminem, mit dem sich Kool Savas liebend gerne verglichen sehen möchte, weil der „einfache Dinge so schlau sagt“. Erstaunlich, wie sehr bei Savas die inhaltliche Rebellion gegen „schwulen Rap“ und verlogene Sprachregelungen mit dem Wunsch nach kommerziellem Erfolg bis in die Songtexte hinein verknüpft ist: „Peinlich für Deutschland, dass jeder Horst hier Platten released/ Und sich dann noch zu fragen, warum ist die Lage so mies?/ Nicht wegen Napster und MP3 oder Kids ohne Geld / Sondern einfach weil den Kids die Mucke nicht mehr gefallt“, heißt es im Intro seines Albums.

„23jährige HipHop-Kids, die Brillanten tragen – das finde ich einfach fresh. Jetzt bin ich 27 – bevor ich 30 bin, sollte was fließen.“ Wieviel fließen soll, weiß Savas, dessen lässige Streetwear immerhin schon von einem Sponsor stammt, genau: 50 000 verkaufte Alben wären „jetzt in dieser Phase cool“, und 100 000 „supercool“. Und noch ein Wort zum Geschäft, weil es von roherer Poesie ist als der härteste Rap: „Ich bin Teil der Musikindustrie und ich bin bereit, Flocken zu machen.“ Er sei eben sehr ehrgeizig, sagt Kool Savas, und habe seine Stimme trainiert wie ein Schlagzeug: „Wenn jemand etwas Krasses gemacht hat, will ich auch diesen Standard erreichen.“ Der Welt rhetorisch überlegen fühlt sich der Rapper trotzdem nicht. In eine Talkshow gehen, um mal allen kräftig zu sagen, was er von ihnen hält, würde er nur, „wenn ich so reden könnte wie Friedrich Merz“. Wie Friedrich Merz? Ja, den habe er mal im Fernsehen gesehen und er habe ihm imponiert – rein formal, versteht sich.

Kool Savas‘ ureigenes Forum bleibt die Bühne, wovon man sich später am Abend beim MTV-Live-Showcase überzeugen konnte. Rap-Puristen mögen zwar bemängeln, dass er ab und zu den Takt nicht ganz hält und Silben verschluckt, auf der Bühne aber überstrahlt das unbedingte Wollen die technischen Unzulänglichkeiten. Dieses Pumpen, hin und her über die Bretter, mit gelegentlichen, eine Gemächtekorrektur nurmehr andeutenden Griffen in den Schoß der viel zu weiten Jeans: Marschmusik für den Kampf um Respekt.

CHRISTIAN KORTMANN

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