Konzertkritik: Das allerletzte Kiss-Konzert – The Last Kiss from New York

Noch nie waren sie so auf den Punkt wie heute. Kiss lösen ihr Versprechen „YOU GOT THE BEST“ ein

And now the end is near and so with make up they face the final curtain.

Heute, nach vier Jahren „End of the Road“, der Abschiedstournee, die 251 Konzerte umfasste, und nach 50 Jahren Bandgeschichte, marschieren Kiss ein letztes Mal zu ihren finalen Konzerten im Madison Square Garden in New York auf. Mit ihren 40.000 Fans, der Kiss Army, ein paar Blöcke von dort entfernt, wo genau vor fünf Jahrzehnten alles in einem Proberaum in Downtown Manhattan began – und mit Paul Stanley, Gene Simmons, Ace Frehley und Peter Criss eine der größten Rockbands geboren wurde.

Mein Taxi hält vorm Madison Square Garden, ich zahle und steige aus. Im Juni 1972, ein Jahr bevor er mit Gene Simmons Kiss gründete, jobbte Paul Stanley als Taxifahrer. Damals fuhr ein Pärchen zu einem Elvis-Presley-Konzert, als sie zahlten, sagte Paul ihnen zum Abschied, dass irgendwann die Leute an diesen Ort kommen werden um ihn live zu sehen.

Kiss haben an diesem ersten Dezemberwochenende wirklich die Stadt eingenommen, wenn es dunkel wird, erscheinen riesige Projektionen der vier Bandmitglieder an der Spitze des Empire State Building, am Times Square auf den überdimensionalen LED-Wänden ihre Gesichter. Kiss-Taxen fahren durch die Stadt, bei Prince Street Pizza gibt es eine exklusive Kisspizza mit Box, an zwei U-Bahnstationen gibt es 50.000 limitierte Kiss Metrocards, einen Pop-Up-Store mit exklusivem New York Last Show Merch, ein Minikissmuseum und so vieles mehr.

Die Leute glauben nicht, dass das jetzt wirklich das Ende der Straße für diese Band ist. Der 74-jährige Bassist Gene Simmons sagte mir noch im Frühjahr, als wir in Berlin-Mitte Kaffee tranken, dass sein Kostüm alleine 20 Kilogramm wiegt plus Bassgitarre und die Show zwei Stunden dauert, er Feuer spuckt, dann über die Bühne fliegt. Paul ergänzte, dass Fußballer auch nicht mehr im hohen Alter aktiv sind und es keine Option wäre, ohne Maskerade und Show weiterzumachen, da Kiss das ist, was sie verkörpern, der Sieg der individuellen Ermächtigung, stark zu sein, ohne zu altern. Ace Frehley und Peter Criss wurden vor etwa 20 Jahren durch Eric Singer und Tommy Thayer ersetzt, Simmons und Stanley, die beiden Frontmänner sind immer noch da. Unkaputtbar?

Ich fahre an diesem ersten Dezembersamstag die Rolltreppen der Arena hoch, umgeben von Kiss-Fans aus mehreren Generationen, Opas, Väter, Kinder, alle geschminkt und in Kissmerchandise eingehüllt. Im Vorprogramm überzeugen Amber Wild, die Band um Evan Stanley, dem Sohn von Paul Stanley, musikalisch irgendwo zwischen den Foo Fighters und Bush. Rocksongs aus einer anderen Zeit, die den Madison Square Garden schon vor dem Haupt-Act ein wenig aus den Angeln heben. Ihr Hit „Silver“ ein Juwel, ein perfektes Intro für das, was heute noch kommt.

20:42 Uhr, die Lichter im Madison Square Garden werden gedimmt. Aus den Hallenlautsprechern erklingt Led Zeppelins Rock’n’Roll. The same prozedure als always, danach Kiss auf den Leinwänden rechts und links, wie sie in ihrer Uniform,geschminkt durch die Katakomben des Madison Square Gardens zur Bühne laufen, die von einem großen schwarzen Vorhang verdeckt wird, auf dem die vier Buchtaben KISS in Weiß strahlen.

Dann ein allerletztes mal die Stimme aus dem Off: „All right New York, you wanted the best, you got the best. The hottest Band in the world. Kiss.“

Die ersten Töne von „Detroit Rock City“ erklingen, und beim Schlagzeugeinsatz fällt der Vorhang – und Paul, Gene, Tommy, sie schweben ein letztes Mal von der Bühnendecke auf Plattformen hinab. Es ist wie ein Gottesdienst. Alles ist hell erleuchtet, choreographiert knallt alles und explodiert.

Kiss nennen ihre Fans Army, und diese Army verneigt sich ein letztes Mal vor der Band und diese wiederum vor ihnen. Eine gegenseitige Bedingungslose Liebe. Ein Leben lang.

Vielleicht ist es die Magie des Madison Square Garden, gepaart mit dem Wissen, dass heute zum letzten Mal die Uniformen angezogen und das Make up aufgetragen wurde. So nah wie heute war man der Band vielleicht noch nie, wie ein Spaziergang durchs Rotlichtviertel in Amsterdam ohne Fensterglas. Gene Simmons hat die letzten zwei Nächte nicht geschlafen. Heute gab es keine Meet und Greets. Die Band wollte Zeit für sich, da sind so viele Gefühle, zu viele Erinnerungen. Noch nie waren sie so auf den Punkt wie heute. Sie sind überemotionalisiert, als ob sie an diesem letzten Abend, der weltweit gestreamt wird, allen, und auch den Fans vor Ort, nochmal beweisen wollen, dass sie ihr Versprechen „YOU GOT THE BEST“ einlösen wollen.

Gene Simmons spuckt Kunstblut, wobei er sich mittlerweile in dem Alter befindet, wo es auch echt sein könnte

Jede Bewegung und Ansage von Stanley, „How could we not end it here where it all started?“, jede Pose von Simmons, sein Die-Zunge-rausstrecken, jedes Solo von Thayer, Eric Singer, wie er die Drumsticks twistet, bis sie unsichtbar werden, alles sitzt.

Die Setlist ist eine Auswahl von Liedern aus den letzten 50 Jahren, auch aus der Make-up-Zeit, „Love Gun“, „Black Diamond“, „Beth“, „I was made for lovin‘ you“ und auch „Deuce“ vom ersten Album, der Song, der lange vor der Gründung von AC/DC deren Gesamtwerk zusammenfasst. Stanley fliegt über die Menge zu einer Zweitbühne, Raketen, Feuerwerke, Gene Simmons spuckt Kunstblut, wobei er sich mittlerweile in dem Alter befindet, wo es auch echt sein könnte, Thayer schießt aus seinem Gitarrenhals Raketen in die Scheinwerfer.

Nach dem letzten Song, „Rock and Roll all Nite“, einem Konfettimeer und Gitarrengewitter, werden die einzelnen Bandmitglieder auf Podesten zur Bühnendecke hochkatapultiert. Während Nebel auf die Bühne schießt, hören wir die letzten Worte von Paul Stanley: „A new Kiss Era starts now. You made us. The end of the road is the beginning of another road. Well see you in your dreams.“

Sie verschwinden im Nebel, als dieser sich auflöst, ist die Band nicht mehr da. Weg. Ich bin umringt von strahlenden Gesichtern, auch Männern mit Tränen in den Augen. „Tears are falling“. Auf den Leinwänden ein Barcode mit dem Zusatz „A new Era begins“. Kiss wären nicht Kiss, wenn sie nicht noch ein paar Überraschungen parat hätten. Auf ihrer Homepage ein Countdown.

Als ich unten vorm Madison Square Garden nach dem Konzert ein Taxi suche, kommt das Announcement auf ihrer Homepage. Kiss werden als digitale Avatare weiterleben, da die Band etwas Größeres ist als sie, die Bandmitglieder.

Ich steige ins Taxi, blicke nochmal hoch auf das Billboard und denke mir genau das, was Paul Stanley sich dachte, als er hier 1972 im Taxi saß.

Kevin Mazur Getty Images for Live Nation
Kevin Mazur Getty Images for Live Nation
Oliver Polak
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