Kritik: Arcade Fire in Berlin – Alle Probleme kompakt

Programmiertes Chaos gehört bei Arcade Fire zum Programm. Beim Konzert in der Berliner Zitadelle gönnt sich die Band einige Freiheiten, aber die Routine ist spürbar.

Win Butler will kein Star sein, aber innerhalb weniger Minuten präsentiert er sich als genau das. Und er wirkt dann wie ein sehr, sehr abgebrühter Pop-Star.

Es ist noch hell in der Spandauer Zitadelle, als Butler einen Zuschauer in der ersten Reihe auffordert, sein Handy runterzunehmen, weil er nicht gefilmt werden will. Wäre die Sonne schon untergegangen, Butler hätte den Fan vielleicht nicht bemerkt. Was ist so schlimm daran, sein Idol aufzuzeichnen? Es nervt, anscheinend, dem Sänger kam wohl der „why don’t you just live in the moment“-Gedanke in den Sinn usw. Aber man wird halt auch schon mal gefilmt, wenn man etwas bekannter ist.

Dann passiert etwas Komisches. Springsteen, das ist Teil jeder Show, würde sich die nächste Gitarre reichen lassen, Sting den nächsten Bass – Butler jedoch bekommt, so sieht es zumindest aus, vom Roadie … seinen nächsten Hut in die Hand gedrückt, bevor er zum Mikro schreitet. Als wäre das ein Instrument und die Kopfbedeckung ein Viersaiter, der gestimmt werden musste oder dessen Sound nur zu einem ganz bestimmten Song passt.

Die Band intoniert ausgerechnet „Put Your Money On Me“, ihre „Abrechnung“ mit „dem Showgeschäft.“ Und genau hier merkt Butler vielleicht nicht, dass seine Band selbst längst kämpfen muss. Das jüngste Album „Everything Now“ wird völlig zu Recht kritisiert. Arcade Fire arbeiten einfach nicht mehr trennscharf. Schwache Songs wie „Chemistry“ oder „Infinite Content“, beide heute zum Glück nicht gespielt, verwischen die Grenze zwischen Parodie und genau dem Popshit, den die Musiker anklagen – weil diese Stücke selbst schon Popshit sind. Das in der Zitadelle durchaus aufgeführte „Electric Blue“ wirkt wie Blondie-Outtake, das es bei Debbie Harry nie in die engere Auswahl geschafft hatte.

Diese fünfte Platte „Everything Now“ sollte eben auch ihre erste sein, die nicht wie ein Heiligtum verehrt wird. Schon gleich nach Veröffentlichung vergangenen Sommer ging Butler unnötigerweise in die Defensive, als er glaubte Rezensenten erklären zu müssen, dass er auf der Platte gar nicht rappt.

Schon irre: Mega-euphorisiert recken die Leute nun bei „Everything Now“ die Fäuste in die Höhe, brüllen den Titel fordernd in die Nacht: „Alles, und zwar jetzt!“ Bleibt zu hoffen, dass sie die Zeile davor auch mitgenommen haben, denn die sang kaum einer mit: „STOP PRETENDING … you’ve got everything now“. „Leute, hört auf euch was vorzumachen“: Das Lied verhöhnt eigentlich die Menschen, die alles wollen.

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Win Butler ist 38 und genau im „Discotheque“-Alter Bonos, dem Sänger, von dem viele hofften, Butler könnte ihn beerben, minus eben des routinierten Pathos von U2. Aber Arcade Fire wirken jetzt schon viel älter als U2 1997, die damals schon im 21. Jahr ihrer Karriere steckten und mindestens drei Häutungen durchliefen, um der Zeit gerecht zu werden.

Und es schaut nicht unbedingt optimal aus für Arcade Fire. Heutzutage, da Alben immer unbedeutender werden, erscheint ihr nächstes Album womöglich erst 2021. Das macht maximal drei Longplayer pro Dekade und umso größeren Druck, jedesmal etwas von Bestand zu erschaffen. Butler wäre dann 41, die zweite treibende Kraft der Band, Régine Chassagne, 44. Jedes Thema muss dann sitzen, Arcade Fire unterfütterten ihre Werke stets mit Konzepten: „die Vororte“, „die Clubmusik“, „die Beerdigung“. Worüber singt das Paar als Nächstes, wenn ihre aktuelle Kapitalismus- und Netzkritik so zielunsicher war?

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Butler, vielleicht hat das mit seiner Martin-Prince-Frisur zu tun, wirkt jetzt schon leicht angestammt, dabei inszenieren sich die Musiker noch immer als Rasselbande. Richard Reed Perry macht zwei Stunden lang den Malachai aus „Kinder des Zorns“, Wins Bruder William Butler den Oskar Matzerath, der bei „Rebellion (Lies)“ zuverlässig spontan stets auf dieselbe Monitorbox steigt und spontan wie von Sinnen auf seine Trommel eindrischt.

Arcade Fire sind außerdem eine Band, die ohne Anlaufphase, also von Minute eins an losschwitzen kann. Schon als Butler die Bühne besteigt, fängt die Kamera einen Schweißsturzbach ein, der sich seinen Weg über die linke Wange bahnt. Man fragt sich bei all der Action, warum Chassagne als einziges Bandmitglied statt eines Mikros am Ständer bereits auf ein Headset zurückgreift und die Bewegungsfreiheit nutzt, springen doch eh alle von Instrument zu Instrument.

Wie geht es weiter?

Die „Everything Now“-Tour ist mit diesem Auftritt in Berlin am Ende angelangt, nach mehr als einem Jahr Konzertreise. Wohl auch deshalb gönnen Arcade Fire sich, um runterzukommen, eine Setlist, die weniger der aktuellen Albumpromo dient als persönliche Meilensteine widerzuspiegeln. Ganz so krass wie R.E.M anno 1988, die zum Tournee-Finale vor allem Coverversionen spielten, ziehen Arcade Fire es dann zwar doch nicht durch.

Aber acht Songs aus „The Suburbs“ zu bringen, einem Album, das vor acht Jahren erschien (sieben Lieder davon in Folge, so etwas hatten sie nicht mal zur eigentlichen Platten-Tour 2010 gewagt) – das ist schon ein echtes Statement zur eigenen Bewertung der Diskographie. Genauso Statement wie der komplette Verzicht von „Neon Bible“-Material, dem großen „Neon Bible“, dessen einzige Sünde nach Ansicht der Band wohl sein muss, dass es so gut und ähnlich wie ihr Debüt „Funeral“ ist, also nicht als „Weiterentwicklung“ durchgeht.

Aber was soll man sagen: „Wake Up“, ihr größter Hit, kam an diesem Abend gleich als Eröffnungsstück. Das ist eine Ansage wie bei den Rolling Stones, die bei manchen Tourneen flugs mit „Satisfaction“ als Opener einstiegen. Oder, in deutlich kleinerem Maßstab, wie Pavement, die ihre Konzerte schon mal mit „Cut You Hair“ eröffneten.

Was Arcade Fire wollen, Stones oder Pavement, ist noch nicht ganz klar.

Gina Wetzler Redferns
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