Kritik: Depeche Mode in Berlin – auf der goldenen Treppe in den Himmel

Wie gut sind Depeche Mode live 2023? Unsere Einschätzung

Mal angenommen, Depeche Mode würden die Konzerte ihrer „Memento Mori“-Tournee hinter einem Vorhang absolvieren, sie wären also nicht zu sehen, sondern nur zu hören. Anhand der Ansagen Dave Gahans wüssten wir noch immer, was der Sänger gerade tut, denn seine Ansagen sind immer gleich, und seine Bewegungen dazu auch: „Christian!“, ruft er seinem Schlagzeuger Christian Eigner bei dessen dramatischem Getrommel im Finale von „Walking In my Shoes“ zu, und er bäumt sich vor den Drums auf. „Take it, Boys!“ ruft er sogar der ganzen Band bei „Everything Counts“ entgegen, dazu eine leichte Verbeugung; und „Mr.! Martin! L.! Goooooore!“ nach der Solo-Gesangseinlage von Martin L. Gore beim jeweils aktuellen Albumtrack. Alles beim Alten also, wie bei der vorangehenden „Spirit“-Konzertreise von 2017.

Nur eines hat sich geändert: Nach „World In My Eyes“ stellt Gahan nicht mehr „Mr. Andrew Fletch Fletcher“ vor, sondern sagt: „Our friend Andrew Fletch Fletcher“. „World In My Eyes“ war Fletchs Lieblingslied. Und hinter diesem imaginären Vorhang, der die Band verbirgt, wäre dieses zu sehen: Bei dem „Violator“-Track wird Fletchers Gesicht auf allen Leinwänden eingeblendet. Ein Gesicht, das langsam altert. Eine Brille erhält. Und ein paar Falten. Sein Keyboard auf der Bühne aber fehlt, die Stelle ist leer. Und der Keyboarder fehlt auch.

Seit dem Tod Andrew Fletchers im Mai 2022 haben viele das Ende von Depeche Mode herbeigeredet, und auch, wenn sein Tod keinen Unterschied für die Live-Arbeit ausmacht (für die Komposition im Studio auch nicht), so werden das „Memento Mori“-Album, als auch die dazugehörige Tournee als „Triumphzug im Angesicht des Todes“ oder „Trauerarbeit“ oder „Requiem für einen toten Freund“ bezeichnet. Das Ableben des langjährigen Bandkollegen und Partners ist tatsächlich spürbar, auch wenn das von Anton Corbijn entworfene Bühnenbild nun schlicht eine gestraffte Anordnung der vier Musiker (neben Gahan, Gore und Eigner noch Keyboarder Peter Gordeno) vorsieht. Die „Memento Mori“-Lieder aber sollen überwiegend schon vor Fletchs Ableben fertig gewesen sein. Das Bühnenlogo mit dem Großbuchstaben „M“ steht natürlich für „Memento Mori“, aber intuitiv erwartet man links daneben irgendwann das „D“ aufzublitzen. „DM“ für Depeche Mode, oder „DM“ für „Dave and Martin“, als wäre der Bandname seit 1980 ein unheilvolles Omen gewesen: welche zwei Musiker die Last Men Standing sein würden.

Konzerte von Depeche Mode sind immer gleich. Je nachdem, wie man zur Band steht, also: immer gleich gut – oder gleich schlecht. In einer Live-Rezension möchte das niemand lesen. Aber es geht nicht anders.

Vielleicht muss Gahan auch stets dieselben Stanzen verlautbaren, weil ihre Setlisten immer einem festen Schema folgen. Eingeloggt sind die fünf Songs „Walking In My Shoes“, „I Feel You“, „Enjoy The Silence“, „Never Let Me Down Again“ sowie „Personal Jesus“, die nicht bei allen, aber fast allen Tourneen seit 1993 auch verteilt auf 20 bis 23 Stücke in dieser Reihenfolge gebracht werden. Variationen auf Pearl-Jam-Niveau sind ausgeschlossen, der Maschinenpark von Depeche Mode, wie Ex-Kollege Oliver Götz vom „Musikexpress“ mal urteilte, kann halt nicht von Abend zu Abend umprogrammiert werden. Je nachdem, ob die Band zwei Abende hintereinander am selben Ort auftritt, wird derzeit „Waiting for the Night“ mit „Condemnation“, und „Speak To Me“ mit „My Favourite Stranger“ ausgetauscht.

Ihre Konzerte beginnen meist mit ein bis zwei Songs der jeweils aktuellen Platte, die seit vielen Jahren leider so durchschnittlich sind, dass sie nach Abschluss der Tournee nie wieder aufgeführt werden müssen. Auf „In Chains“ und „Hole To Feed“ (2009) bzw. „Welcome To My World“ und „Angel“ (2013) bzw. „Going Backwards“ (2017) folgen nun also „My Cosmos Is Mine“ und „Wagging Tongue“ – danach kommt schon der erste richtige Hit, auf den man, wenn man ehrlich ist, diese zehn Minuten lang gewartet hat. Wer Biernachschub holen möchte, kann das also gleich zu Konzertbeginn tun. Dabei ist es eigentlich ein sympathischer Zug von Depeche Mode, dass ihre Setlisten von Tour zu Tour mindestens fünf neue Stücke beinhalten; Gore und Gahan glauben an ihr neues Material und wollen es aufführen, anders als Kiss, die ihre Konzertreisen in den späten Jahren auch schon mal nach Studioalben benannten, aus denen sie dann nur einen einzigen Song spielten.

Gahan, 61, ist der wohl athletischste Frontmann unserer Tage, abgesehen von Mick Jagger, der Ende dieses Monats sogar schon 80 wird. Gahan könnte es sich erlauben, mal wieder oberkörperfrei aufzutreten, er macht es aber nicht mehr. Sein Look ist der eines Pagen, Jackett im „Grand Budapest Hotel“-Style, und er tanzt eine Art Ballett, mit ausufernden Sterbender-Schwan-Armbewegungen, Pirouetten ohne Schlittschuhe. Er genügt sich selbst, er zelebriert ein „Dancing With Myself“. Anders als früher beugt Gahan sich bei einigen Balladen („Waiting for the Night“) nun nach vorn, er presst die Worte heraus, eine fast schon schmerzerfüllt wirkende Krümmung, als spüre er eine Last.

„Walking In My Shoes“ enthält leider noch immer das unveränderte Scooter-Döp-Döp-Döp-Arrangement von 2017, „Everything Counts“ – in der Mitte des Sets, wie bei der „Spirit“-Tour, komplett verschenkt – sagt Gahan mit „Do you have some fun?“ an, was kurios ist, ist das Lied doch eine harsche Kapitalismuskritik. Manche Filmeinspielungen lenken ab, wie die Esel und Pferde am Strand bei „It’s No Good“, die wohl eher assoziativ als inhaltlich passgenau zum Text zu verstehen sind; der Kaugummi-Beat von „Wrong“ funktioniert mit Rhythmusmaschine auf dem „Sounds of the Universe“-Album schon nicht recht und verliert im Schlagzeugspiel noch mehr an Wirkung. Es darf sich auch die Frage stellen, ob DM-Fans wirklich das stoisch von Tour zu Tour mitgeschleppte „A Pain That I’m Used To“ lieber hören wollen als die seit langer Zeit ignorierten Klassiker wie „Behind the Wheel“ oder „Policy of Truth“. „A Pain That I’m Used To“ hat zumindest einen Schaureiz, präsentieren sich Depeche Mode hier (und bei „My Cosmos is Mine“) noch am ehesten als Rock-Band mit Gitarre, Schlagzeug und einen Bass, den Peter Gordeno sich umgeschnallt hat.

Dabei gibt es einige feine Momente im Set. Das Zusammenspiel von Gitarre und Drums in „I Feel You“, eines der seit Erscheinen 1993 am schwierigsten live aufzuführenden Stücke, klingt inzwischen weit harmonischer (auch wenn man gerade diesen Song zu gerne mal ohne Live-Drums hören möchte, stattdessen mit maschinellem Rhythmus). In der „Zephyr“-Bühnenversion von „In Your Room“ setzt Martin Gore auf seinem Sechssaiter vorsichtige melodische Nuancen, aus denen fast ein neues Solo wird (etwas stimmiger auch als die traditionelle Nile-Rodgers-Variation bei „Enjoy the Silence“). Am Keyboard wirkt er ähnlich überlegt. Die Töne bei „Just Can’t Get Enough“ spielt Gore mit so tüdeligen Kleinfingerbewegungen, als säße er an einer Dechiffriermaschine. Das sind Depeche Mode 2023: neben U2 die einzige Pop-Band der 1980er-Jahre, die Stadien füllt, und die einzige, der in ihrer britischen Heimat nie eine Nummer-eins-Single gelang.

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„Stripped“ ist noch immer der beste Song, um den plötzlichen Wechsel des britischen „A“ („We’ll lay on the grass / and let the hours pass“) zum amerikanischen „Ä“ („Take my hand / come back to the land“) zu illustrieren.

Ein Höhepunkt ist „Soul With Me“. Das „Memento Mori“-Lied ist wie ein dringendes Plädoyer für ein erstes gemeinsames Klavieralbum von Gore und Gordeno, mit Gordeno als Pianist und Gore als Sänger. Diese Zwei bilden das am besten harmonierende Duo von Depeche Mode, währenddessen Gahan oft die Nähe seines Drummers Eigner sucht, an dessen Spiel sich seine eigenen Bewegungen ausrichten. Es spricht für das erbärmliche Klangbild des Olympiastadions, dass gerade bei diesem Piano-Only-Lied das Palaver auf den Tribünen lauter zu hören ist als die elektrisch verstärkten Töne auf der Bühne. Schlimm, richtig, richtig schlimm.

„Soul With Me“ ist ein Lied über die Akzeptanz der Tatsache, irgendwann im Herbst des Lebens anzukommen. Gore singt fatalistische Worte: „I’m ready for the final pages / Kiss goodbye to all my earthly cages / I’m climbing up the golden stairs“. Die goldene Treppe in den Himmel. Gore hebt die Hand zu einer Aufwärtsbewegung, bereit zum Loslaufen. Aber er lächelt dabei.

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