Neue Heimat

Zum Sterben war Chris Whitley nach Texas zurückgekehrt. Doch die europäische Provinz war für ihn, wie für viele US-Songschreiber auch, zum liebgewonnenen Refugium geworden.

„Hotel Vast Horizon“ nannte Chris Whitley sein achtes Album. Auf dem Cover: ein Schwarzweißfoto von ihm im verschneiten Dresdner Zwinger. Einheimische, sofern aus den Reihen der Stadtkritiker, betrachten das barocke Kulturerbe – egal zu welcher Jahreszeit – eher als Sinnbild der Behäbigkeit eines über Jahrhunderte ausgebauten Herrschaftssitzes. Doch Emigrant Whitley kam der Horizont in Sachsens Kapitale geradezu unermeßlich weit vor.

New York, seinem letzten US-Wohnsitz, ruft er bei einem Interview im März 2001 wenig Schmeichelhaftes hinterher. Das Greenwich Village, so seine Klage, habe ausgedient als Sammelbecken der Boheme. „Kein kreatives Pflaster mehr. Heute geht es dort auch bloß noch um Geld. Banker, Leute aus der Werbebranche, Computerspezialisten, Rechtsanwälte lassen sich nieder. Immer noch viele junge Leute da, doch sehr, sehr teuer geworden. Unerschwinglich!“

Obwohl seine Karriere zu Beginn der 90er Jahre nirgendwo sonst als in New York endlich Kontur erhält, bekommt auch der Musikstandort sein Fett weg. Die Stadt, grollt Chris Whitley, sei „angeblich links, fortschrittlich, kreativ. Nichts von dem trifft noch zu. Die Medien haben alles fest im Griff und nötigen dich zu Songs, die betteln richtig: kauf mich! Dein gesamtes Wertgefüge verschiebt sich. Du bist nie reich genug, nie schön genug, nie angesagt genug. Wahnsinnig oberflächlich da!“ So gesehen hätten Berlin, Hamburg oder Köln vielleicht auch keine Alternative geboten. Dresden aber, im Windschatten des Weltgetriebes, doch verkehrstechnisch bestens angebunden und obendrein seit Jahrhunderten auch ein Zentrum der Künste, wiederum weit weg aber von jedweder Musikindustrie, doch mit eigener, umtriebiger Musikszene, gab Hoffnung, das zu finden, wonach sich der Songschreiber am meisten sehnte – inneren Frieden und die Anerkennung als Künstler. In den Genuß des Ersteren kommt er wenigstens zeitweise, im vollen Umfang offenbar aber erst in der Stunde seines Todes, als es nichts mehr zu hadern gab. Das Letztere, die Anerkennung, wird selbst jetzt noch eine Weile brauchen.

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