Obama: Das ROLLING STONE-Interview

Der Herausgeber des US-ROLLING STONE Jann S. Wenner traf Präsident Obama zum persönlichen Gespräch. Hier gibt es das vollständige Interview in deutscher Sprache. Übersetzung: Bernd Gockel.

Sie haben mehr soziale Gesetze auf den Weg gebracht als jeder Präsident seit Lyndon B. Johnson. Trotzdem scheint Ihre Wählerbasis nicht annähernd so motiviert zu sein wie die Opposition. Und die gesetzgeberischen Erfolge, die Sie unbestreitbar hatten, werden Ihnen nicht gut geschrieben. Es hieß, dass Sie sich zeitweise mit den Gedanken trugen, an der Parteibasis Freiwillige zu rekrutieren, die auf diesem Wege Druck auf den Kongress ausüben sollten. Aus welchen Gründen auch immer entschieden Sie sich dagegen, auch gegen die Anwendung eines Filibusters bei der Novellierung der Gesundheitsreform. Was sagen Sie den Leuten, die zunehmend frustriert sind, weil sie sich eine härtere Gangart von Ihnen versprechen?
Das ist gleich ein Bündel von Fragen, die ich einzeln abhaken möchte.
Dass die Demokratische Partei ein weites Spektrum von Meinungen in sich vereint, empfinde ich als Indiz ihrer inneren Stärke. Wir führen große und grundlegende Diskussionen, weil es ein großes Zelt ist, das diese Partei überspannt – und dieses Zelt wurde zur Zeit meiner Wahl nur noch größer. Es wird also immer schwierig sein, jeden in unserer Partei zufrieden zu stellen.
Dann haben wir das Phänomen, dass Demokraten und Progressive in jüngster Zeit dazu neigen, das Glas als halbleer wahrzunehmen: „Mein Gott, wir haben zwar die historische Gesundheitsreform, auf die wir 100 Jahre gewartet haben, nun endlich durchgebracht, aber da wir auf einige Details vorläufig verzichten mussten, konzentrieren wir uns lieber auf die Dinge, die wir nicht erreicht haben.“ Das selbstkritische Element des progressiven Geistes ist unterm Strich sicher eine positive Eigenschaft, kann sich manchmal aber auch als lähmend erweisen.
Wenn ich mit Demokraten im ganzen Land spreche, sage ich ihnen: „Jungs, wacht auf und reibt euch die Augen! Wir haben unter den schwierigsten Umständen riesige Brocken bewegt.“ Als ich mein Amt antrat, mussten wir eine neue Depression abwenden, wir mussten das Finanzsystem wieder zum Laufen bringen und uns mit zwei Kriegen auseinandersetzen. Den einen Krieg haben wir inzwischen beendet, zumindest was die Kampfeinsätze betrifft, wir haben eine historische Gesundheitsreform durchgebracht, eine Finanzmarktreform und eine riesige Zahl von Gesetzesinitiativen, von denen die Mehrzahl der Menschen noch nicht mal gehört haben. Wir haben das System der Studentenkredite reformiert und dadurch Milliarden gespart, die bislang an Banken und Mittelsmänner flossen und nun den Studenten direkt zugute kommen. Und wir haben unsere gesamten staatlichen Dienstleistungen beträchtlich erweitert.
Der Recovery Act war die größte vergleichbare Investition in unserer Geschichte, verbunden mit der größten Investition in unsere Infrastruktur seit Dwight Eisenhower, der größten Investition in unser Bildungswesen – verbunden mit der größten Bildungsreform seit 30 Jahren – , und nicht zuletzt der größten Investition in saubere Energien.
Wenn man sich das vor Augen hält, muss man unwillkürlich sagen: „Leute, genau dafür habt ihr mich doch gewählt!“ Ich trage eine Checkliste mit all den Wahlversprechen bei mir, die ich damals im Wahlkampf gemacht habe – und nun, zur Hälfte meiner ersten Amtszeit, sind 70 Prozent davon abgehakt. Und ich habe noch mindestens zwei Jahre, um den Rest abzuarbeiten. Deshalb bin ich der Meinung, dass die Demokraten stolz auf das sein sollten, was wir erreicht haben.
Das alles wurde realisiert in einer Zeit, in der – aufgrund der Finanzkrise – die Armut wuchs, die Arbeitslosenzahlen stiegen und die Einkommen stagnierten. Insofern ist es nicht überraschend, dass viele Leute die positiven Auswirkungen unserer Erfolge noch nicht am eigenen Körper verspüren. Die zwei wichtigsten Änderungen, die Gesundheitsreform und die Finanzreform, treten nicht augenblicklich in Kraft. Es wird noch Jahre dauern, bis die Auswirkungen für jedermann greifbar sind.
International haben wir unsere Beziehungen zu Russland auf eine neue Ebene gestellt; zum Jahresende werden wir vielleicht ein neues START-Abkommen unterzeichnen können. Wir haben die Nahost-Friedensgespräche wiederbelebt, haben die Kampfeinsätze im Irak beendet und setzen uns für eine Reform der G-20 ein, um die wenig hilfreiche Polarisierung in Nord-Süd und Ost-West zu überwinden. All das hat dazu beigetragen, dass die ganze Welt auf Amerika blickt, wenn es um politische Leitideen geht – auch in der Frage der Menschenrechte und des Folter-Verbotes.
Es ist sicher richtig – und das ist es, was viele Mitbürger so frustriert -, dass wir uns in den letzten 20 Monaten mehr mit der faktischen Regierungsarbeit beschäftigen mussten als mit politischen Grundsätzen. Es gab durchaus einige Themen, bei denen wir die Republikaner in einen offenen Streit hätten verwickeln können. Das hätte vielleicht unserer Basis Auftrieb gegeben, aber auch dazu geführt, dass alle legislativen Entscheidungsprozesse blockiert worden wären.
Ich hätte im Rahmen der Gesundheitsreform den Republikanern eine Schlacht um die public option aufzwingen können, was dem ROLLING STONE und der „Huffington Post“ sicher gefallen hätte. Das Resultat wäre aber gewesen, dass es heute gar keine Gesundheitsreform geben würde. Ich hätte mich auf einige Punkte der Finanzreform versteifen können – mit dem Resultat, dass nicht 90 Prozent unserer Ziele erreicht worden wären, sondern rein gar nichts. Man muss sich selbst die Grundsatzfrage stellen: „Was wollen wir erreichen? Wollen wir unsere Wähler heiß machen und für die nächste Wahl mobilisieren – oder wollen wir Wahlen gewinnen, indem wir unsere Aufgabe als Regierung wahrnehmen?“ Ich habe mich bereits zu Beginn meiner Präsidentschaft darauf festgelegt, dass ich – sollte ich die Gelegenheit bekommen, Weichen langfristig neu zu stellen – diese Gelegenheit auch nutzen werde.
Vor unserem Interview habe ich gerade Elizabeth Warren zur Chefin des neuen „Consumer Finance Protection Bureau“ ernannt. Diese Agentur wird im Lauf der nächsten 20, 30 Jahre dazu beitragen, dass die Konsumenten Milliarden von Dollar einsparen werden.Mit ganz einfachen Mitteln: Die Agentur wird verhindern, dass Zinsen ohne Wissen des Kreditnehmers hochgeschraubt werden. Sie wird verhindern, dass Mittelsmänner im Hypotheken-Geschäft den Kunden an eine Bank mit höherem Zins weiterleiten, nur weil sie dadurch einen höheren Bonus bekommen. Sie wird sicherstellen, dass den Kredithaien das Handwerk gelegt wird, die nichtsahnenden Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen. Und wissen Sie was? Genau das ist es, wofür wir Demokraten stehen. Wenn es uns keine Befriedigung gibt, Mittelklasse- und Arbeiter-Familien konkret zu helfen, ihren Kindern eine College-Ausbildung zu ermöglichen, ihre Krankenversicherung zu gewährleisten, dann haben wir in der Politik nichts verloren. Dann sind wir nicht besser als die andere Seite, weil es uns dann nur darum ginge, ob wir an der Macht bleiben oder nicht.

Sprechen wir über die Finanzreform. Die Regulierung der Wall Street, speziell der Handel mit Derivaten, die ja im Fokus der Finanzkatastrohe standen, scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.
Da muss ich widersprechen. Der Handel mit der Mehrzahl der Derivate wird künftig über ein Clearinghaus abgewickelt. Wenn sie die Experten fragen, so ist deren einhellige Meinung, dass es vor allem Transparenz ist, die eine weitere Finanzkatastrophe verhindern kann: Jeder muss wissen, wer auf der anderen Seite des Tisches sitzt, wie der Deal genau aussieht, wie hoch das Risiko ist – alles muss transparent sein.
Es gibt berechtigte Bedenken dagegen, dass die Details der neuen Regelungen von Fachleuten ausgearbeitet werden, die ein berufliches Interesse daran haben, das Netz der Regulierungen so großzügig zu gestalten, dass dort riesige Löcher entstehen. Dass es also Derivate gibt, die speziell auf Banken zugeschnitten würden und nicht über ein Clearinghaus gehandelt werden müssten.
Ich habe absolutes Vertrauen, dass die von mir bestimmten Leiter der zuständigen Agenturen die Ausgestaltung des Regelwerks angemessen durchführen. Und wenn diese Richtlinien dann angewandt werden, wird der Unterschied zur gegenwärtigen Handhabung enorm sein. Werden dadurch alle potenziellen Probleme eines weltweiten Kapitalmarktes aus dem Weg geräumt, auf dem täglich Billionen von Dollar bewegt werden? Vermutlich nicht. Es werden immer wieder neue Produkte entstehen, es werden immer neue Schlupflöcher gesucht werden. Bereits jetzt sitzen die Vertreter von Special-Interest-Gruppierungen in den Startlöchern, um die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Wir werden also aufmerksam bleiben müssen. Aber es trifft einfach nicht zu, dass wir die Kontrolle des Derivatemarktes nicht erheblich verbessert hätten.

Ein Kritikpunkt besteht darin, dass die Mitglieder Ihres Wirtschaftsteams zu eng mit der Wall Street verbandelt sind. Wie können Leute, die früher bei Banken wie Goldman Sachs gearbeitet haben, heute die Praktiken der Wall Street überzeugend überwachen?
Lassen Sie mich zunächst eines sagen…

Dass Sie früher einmal selbst bei Goldman Sachs gearbeitet haben?

(Lacht) Genau. Ich habe im ROLLING STONE einige Artikel von Tim Dickinson und anderen zu dem Thema gelesen. Ich kann ihren Standpunkt nachvollziehen, aber: Tim Geithner hat nie für Goldman gearbeitet, Larry Summers auch nicht. Natürlich habe ich Fachleute engagiert, die die Finanzmärkte aus eigener Erfahrung kennen – genau wie Roosevelt nach dem Banken-Crash Fachleute wie Joe Kennedy engagierte. Zu diesem Zeitpunkt bestand meine Priorität darin, eine Kernschmelze der Finanzmärkte zu verhindern.
Und das nicht, weil ich den Jungs, die Hunderte von Millionen Dollar verdienten, weiterhin ihren Bonus zuschustern möchte. Als ich mein Amt antrat, verloren wir monatlich 750.000 Jobs. Die Auswirkung auf die Main Street, auf den kleinen Mann waren verheerend. Wir mussten sicherstellen, dass dieser Aderlass gestoppt wurde. Wobei die Kosten für die Stabilisierung der Finanzmärkte weit geringer ausfallen als ursprünglich angenommen. TARP dürfte am Ende des Tages weniger als 100 Millionen Dollar gekostet haben – und ich wette mit Ihnen: Wenn Sie vor zwei Jahren die Ökonomen und Finanzfachleute befragt hätten, hätten alle gesagt: „Her mit dem Deal!“
Wenn Sie auf meinem Platz sitzen, müssen Sie davon ausgehen, dass es für die Probleme, mit denen Sie konfrontiert werden, keine simplen Lösungen gibt. Ich muss Wahrscheinlichkeiten abwägen, ich muss mich für die bestmögliche Option entscheiden. Wenn es einfache Lösungen gäbe, wäre das Thema gar nicht auf meinem Schreibtisch gelandet, weil schon ein Anderer eine Entscheidung getroffen hätte.
Das trifft auf die Finanzreform zu, das trifft auf Afghanistan zu, das trifft auf die Bedrohung durch Terroristen zu – alles komplexe Themen. Einem Außenstehenden ist es möglich, auf der Basis seiner ideologischen Überzeugungen ein Urteil zu fällen: „Nun, das ist doch alles ganz einfach!“ Ich muss versuchen, mich an einem inneren Kompass zu orientieren: Was sind die grundlegenden Prinzipien, an denen wir uns ausrichten sollten? Was die Wirtschaft angeht, so ist meine Grundüberzeugung die, dass Amerika dann am besten funktioniert, wenn es eine wachsende Mittelklasse hat. Und dass es für den, der noch nicht zur Mittelschicht zählt, Aufstiegsmöglichkeiten dahin gibt. Wenn dieses breite Fundament floriert, dann floriert das ganze Land.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie von Hedgefond-Managern hören, die 200 Millionen jährlich verdienen und nur 15 Prozent Steuern zahlen? Oder von dem Mann, der in einem Jahr 700 Millionen verdiente und Sie mit Hitler verglich, weil Sie seinen Steuersatz erhöhen wollen? Kocht es in Ihnen dann nicht manchmal über?
Ich muss gestehen, dass ich von den Kommentaren in der Wirtschaftspresse, die uns eine Anti-Business-Position unterstellen, schon manchmal etwas überrascht bin. Ich kenne eine Menge der Hedgefond-Manager persönlich. Sie verdienen viel Geld, zahlen aber aufgrund der steuerlichen Behandlung von Gewinnbeteilungen („Carried Interest“) prozentual weniger Steuern als ihre Sekretärinnen. Weniger als die Hausmeister in ihrem Bürokomplex, weniger als Polizeibeamte und Lehrer und Kleinunternehmer. Deshalb haben wir gesagt, dass es nur fair ist, wenn auch diese Leute unter den gängigen Steuersatz fallen.
Ich kann ja verstehen, warum es Leute gibt, die damit nicht einverstanden sind. Ich habe noch keine Bevölkerungsgruppe getroffen, der freiwillig mehr Steuern zahlen möchte. Aber Ihre Frage ist völlig berechtigt: Es ist irritierend, wenn eine klare politische Vorgabe dahingehend interpretiert wird, dass ich Anti-Business sei, dass ich ein Sozialist sei und dass unsere Regierung den Kapitalismus ausrotten wolle. Das ist einfach eine überzogene Reaktion.
Mein hauptsächliches Augenmerk gilt dem durchschnittlichen Amerikaner, der 60.000 Dollar im Jahr verdient, der seine Steuern zahlt, der seine Kids aufs College schicken will, der – nicht zuletzt durch falsche Entscheidungen der Wall Street – um seinen Job bangt, dessen Renteneinlagen um 30 Prozent geschrumpft sind, dessen Haus an Wert verloren hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Durchschnittsamerikaner viel Verständnis für die steuerscheuen Großverdiener hat. Ich habe es jedenfalls nicht.

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