Obama: Das ROLLING STONE-Interview

Der Herausgeber des US-ROLLING STONE Jann S. Wenner traf Präsident Obama zum persönlichen Gespräch. Hier gibt es das vollständige Interview in deutscher Sprache. Übersetzung: Bernd Gockel.

Sprechen wir vom Krieg in Afghanistan. Als Sie zum ersten Mal von den Kommentaren hörten, die General McChrystal und seine Mitarbeiter gemacht hatten: Was war Ihre erste Reaktion?
Ich war in meinem Büro, als mich Joe Biden anrief; er war der Erste, der davon gehört hatte. Ich glaube, es war Sonntagabend, und einer meiner Mitarbeiter besorgte mir das Interview, damit ich mir selbst ein Bild machen konnte. Vorweg möchte ich festhalten, dass General McChrystal ein feiner Kerl ist, ein exzellenter Soldat, der seinem Land erfolgreich gedient hat. Ich glaube auch nicht, dass er diese Kommentare in bösartiger Absicht gegeben hat. Einige Zitate stammten von seinen Mitarbeitern, die ihm damit offensichtlich einen Bärendienst erwiesen. Es schmerzte mich auch, die Entscheidung treffen zu müssen und ihn zu entlassen. Andererseits hat er einfach ein mangelhaftes Urteilsvermögen bewiesen. Und wenn ich jemandem das Leben von 100.000 jungen Menschen anvertraue, muss er in seinem Verhalten schon den höchsten Ansprüchen gerecht werden. Das war nicht der Fall.
Wenn ich vielleicht noch einmal auf eine frühere Frage zurückkommen kann: Sie sprachen die Frustration im linken Lager an, und das Thema Afghanistan steht in diesem Zusammenhang natürlich ganz oben. Ich habe immer darauf hingewiesen, dass dies niemanden überraschen kann. Im Laufe meines Wahlkampfs habe ich ständig gesagt: „Wir werden den unnötigen Krieg im Irak beenden.“ Das haben wir getan. Aber ich habe auch gesagt, dass wir unsere Anstrengungen in Afghanistan verstärken müssen, weil das der Ausgangspunkt der terroristischen Bedrohung war. Dieser Job muss abgeschlossen werden, und genau das tun wir.
Ich vermute, dass Viele im linken Lager dachten, dass diese es uns leichter fallen würde, das Thema Afghanistan abzuschließen. Tatsache ist aber, dass wir bei meiner Amtseinführung feststellen mussten, dass die Mängel in unserem dortigen Engagement eklatanter waren als vorher angenommen. Ein Beispiel: Wenn Männer für die afghanische Armee oder die Sicherheitskräfte rekrutiert wurden, steckte man sie in eine Uniform und drückte ihnen ein Gewehr in die Hand – sonst nichts. Es fand kein Training statt, das natürlich notwendig ist, um eines Tages die US-Truppen zu ersetzen.
Wir mussten die Lage intensiv analysieren und dann unseren Kommandeuren sagen: „Ihr müsst ein Konzept für das Training der afghanischen Sicherheitskräfte ausarbeiten, um auf diesem Wege den Widerstand der Taliban zu brechen. Gleichzeitig werde ich einen Termin festlegen, nach dem unsere Truppen reduziert werden und von den inzwischen geschulten Afghanis ersetzt werden.“ Und damit sind wir zurzeit beschäftigt.
Die Opfer dieses Krieges sind erschreckend. Wann immer ich (die Militär-Krankenhäuser) Walter Reed oder Bethesda besuche, werde ich daran erinnert. Oder wenn ich bei meinem Afghanistan-Besuch Kinder sehe, die ihre Beine verloren haben. Keiner will mehr als ich diesen Krieg beenden, aber vorher brauchen wir die Gewissheit, dass künftig von dort aus keine terroristischen Angriffe auf die USA erfolgen können. Das ist ein Prozess, den wir abschließen müssen. Ab Juli 2011 werden wir mit der Übergabe beginnen, und wenn unsere Strategie nicht funktioniert, werden wir sie so lange überarbeiten, bis sie funktioniert.

Wenn wir uns die Fakten anschauen, scheint derzeit aber kein Teil der Strategie zu funktionieren: Die Taliban haben einen größeren Einfluss als zuvor, das Karzai-Regime ist korrupt bis in die Knochen und hat das Vertrauen der eigenen Bevölkerung verloren. Die 250 Millionen Dollar, die zur Verfügung gestellt wurden, um Taliban-Kämpfer auf unsere Seite zu ziehen, wurden noch nicht einmal abgerufen. McChrystals Offensive in Kandahar war kein Erfolg. Man hat Afghanistan „den Friedhof der Weltmächte“ genannt. Angesichts der Tatsache, dass das britische Empire dort versagte, dass die Sowjetunion, die auf ein Millionenheer zurückgreifen konnte, ebenfalls wieder abziehen musste: Was gibt Ihnen den Glauben, dass Sie dort Erfolg haben werden?
Wie gesagt: Es ist schwierig. Ich wusste vor einem Jahr, dass es schwierig sein würde – und werde in einem Jahr sicher nicht anders denken. Aber wenn Sie diese Faktoren aufzählen, die alle „ein Misserfolg waren“, muss ich festhalten, dass sie bislang noch kein Misserfolg waren. Sie waren sicher auch kein Erfolg. Wir haben Fortschritte gemacht, um den Sicherheitsgürtel um Kandahar zu stabilisieren, aber richtig ist, dass Kandahar heute nicht sicherer ist als Städte wie Mosul oder Fallujah in bestimmten Phasen des Irak-Kriegs.
Ich gebe auch gerne zu, dass Afghanistan schwieriger ist als der Irak. Es ist das zweitärmste Land dieser Erde. Eine überregionale Verwaltung hat es dort nie gegeben. Wir haben Erfolge, was die mittlere Befehlsebene der Taliban betrifft. Wir sind sehr erfolgreich bei der Rekrutierung und Schulung afghanischer Sicherheitstruppen. Es gibt Elemente, die erfolgreich sind, andere sind es nicht.

Lassen Sie uns über die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko reden. BP feuerte seinen Top-Manager Tony Hayward. Wie ist es möglich, dass Innenminister Ken Salazar noch immer auf seinem Stuhl sitzt? Als er sein Amt antrat, war hinlänglich bekannt, dass die zuständige MMS-Behörde völlig korrupt war. Im ROLLING STONE und in anderen Medien wurde mehrfach darüber berichtet – und diese fehlende Aufsichtspflicht war schließlich der Grund, dass die Katastrophe passieren konnte.
Als Ken Salazar sein Amt antrat, sagte er als erstes zu mir: „Das Problem MMS steht bei meinen Prioritäten ganz oben.“ Es war kein Geheimnis. In der Abteilung wurden Entscheidungen gefällt, die nicht akzeptabel waren, und Ken krempelte die Agentur so um, dass die ethischen Missstände – Drogen, Amtspflichtverletzungen – künftig ausgeschlossen sein werden. Was Ken und ich unterschätzt haben, waren die institutionellen Defizite innerhalb dieser Agentur. Warum wir diese Probleme nicht früher lösen konnten? Die simple Antwort ist, dass wir einen riesigen Regierungsapparat haben – und die Neuausrichtung von Bürokratien ein zeitaufwändiger Vorgang ist. Wir waren einfach nicht schnell genug.
Die zuständige Person für den MMS wurde inzwischen gefeuert. Wir werden sicherstellen, dass diese Agentur so arbeitet, wie man es von ihr erwartet. Aber wenn ich jemanden wie Ken Salazar habe, der sich für seine Aufgabe zerreißt, dem das Herz blutet, wenn er die Katastrophe im Golf mitansehen muss, der Reformen auf den Weg gebracht hatte, aber nicht so schnell war, wie es die Sachlage erfordert hätte, dann muss ich ihm sagen: „Du bist zuständig, du bist verantwortlich, also sorge dafür, dass die Dinge in Ordnung kommen.“ Ich bin zuversichtlich, dass er die notwendigen Veränderungen auf den Weg bringt.

James Hansen, der NASA-Wissenschaftler, der vielleicht die am höchsten respektierte Autorität in Sachen Erderwärmung ist, äußerte die Meinung, dass der Klimawechsel die größte moralische Herausforderung des 21. Jahrhunderts sei, vergleichbar mit der Sklaverei zu Lincolns Zeiten und Churchills Antwort auf den Nationalsozialismus. Würden Sie dieses Statement unterschreiben?
Ich würde unterschreiben, dass der Klimawechsel das Potenzial hat, einen verheerende Wirkung auf die Menschen rund um den Globus zu haben – und dass wir dringend etwas dagegen unternehmen müssen. Um diesen Prozess in die Wege zu leiten, müssen wir zunächst das Bewusstsein in unserem Land wie auch im Rest der Welt schärfen.
Während der letzten zwei Jahre haben wir in diesem Bereich nicht die Fortschritte gemacht, die ich mir bei meinem Antsantritt vorgestellt hatte. Es ist schwierig, diese Fortschritte mitten in einer Wirtschaftskrise zu machen, weil die verständliche Reaktion ist: „Weißt du was? Es mag ja ein riesiges Problem sein, aber was uns derzeit wirklich unter den Nägeln brennt, sind die zehn Prozent Arbeitslosigkeit.“ Oder: „Das eigentliche Problem besteht darin, dass unsere Unternehmer von den Banken keine Kredite bekommen.“ Das hat die Aufmerksamkeit von einem Problem abgelenkt, das für mich oberste Priorität hat. Der Kongress hat einen Versuch unternommen, das Problem ernsthaft anzupacken, aber im Senat konnten wir nicht die notwendigen 60 Stimmen zusammenbekommen.
Auf meiner Agenda für das nächste Jahr steht ganz oben, dass wir eine Energie-Politik initiieren müssen, die alle Aspekte unserer Abhängigkeit von fossilen Energien thematisiert. Wir werden möglicherweise nur schrittweise vorankommen, aber wir werden das Thema forcieren, weil es wichtig für unsere Wirtschaft ist, wichtig für die nationale Sicherheit und letztlich auch wichtig für unsere Umwelt.
Unabhängig von einer Gesetzgebung haben wir in den letzten zwei Jahren aber Schritte unternommen, die bereits einen erheblichen Unterschied ausmachen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel – ein Beispiel, das typisch ist dafür, dass die Linke unsere Bemühungen gerne mal beiläufig zur Kenntnis nimmt, sie aber eigentlich für selbstverständlich hält. Und am Ende vielleicht noch fragt: „Warum ist in diesem Bereich eigentlich überhaupt nichts passiert?“
Wir haben die erste Reduktion des Treibstoffverbrauches seit 30 Jahren durchgesetzt. Früher war es meist Kalifornien, das mit ökologischen Maßnahmen vorpreschte, während andere Bundesstaaten an weitaus laxeren Standards festhielten. Inzwischen gibt es im ganzen Land eine einheitliche Regelung. Früher waren LKWs ausgenommen – was etwa dazu führte, dass es Schlupflöcher für die SUVs gab, die 30 Liter auf 100 Kilometern schlucken. Mittlerweile gibt es für alle Autos Vorschriften zur Obergrenze des Verbrauches. Wir haben diesen Schritt in Absprache mit der Autouindustrie getan, die sich bislang noch nie an einer derartigen Abmachung beteiligt hat. Und wir haben die Gewerkschaften an den runden Tisch geholt, die sich bislang ebenfalls verweigert hatten. Das Resultat ist, dass wir praktisch Millionen Autos aus dem Verkehr ziehen, weil die Menge der Treibhaus-Emissionen entsprechend reduziert wird.
Reicht das aus? Ganz sicher nicht. Die Fortschritte, die wir im Bereich der erneuerbaren Energie machen, die Fortschritte, die wir bei der Bausanierung mit energiesparenden Materialien machen, dazu die Maßnahmen zur Reduzierung des Stromverbrauches allgemein – wenn wir diese Maßnahmen zusammenaddieren und den Kurs über die nächsten Jahre beibehalten, dann bin ich zuversichtlich, dass wir das Ziel erreichen, das ich vorgegeben habe, nämlich eine Reduzierung der Treibhaus-Gase um 17 Prozent.
Aber auch das wird nicht reichen. Wenn ich (Energieminister) Steven Chu frage, wie wir das Problem weltweit lösen können, dann sagt er mir Folgendes: Ein Drittel der Treibhausgase können durch größere Effizienz mit bestehenden Technologien eingespart werden, dazu vielleicht noch einen kleineren Anteil durch eine wie immer geartete Steuer auf den Karbonhandel. Aber letztlich sind es technologische Quantensprünge, die wir zur Lösung des Problems brauchen. Und deshalb forcieren wir die Investitionen in die Forschung von sauberen Energiequellen, weil wir nur so unser Ziel erreichen werden. Ob ich zufrieden mit den bisherigen Erfolgen bin? In keinster Weise.

Wird der Zeitpunkt kommen, an dem Sie sich für dieses Thema in der gleichen Weise engagieren, wie Sie es bei der Gesundheitsreform und der Finanzreform getan haben?
Ja, und dieser Zeitpunkt liegt nicht irgendwo in der Zukunft. Ich bin entschlossen, eine Energiepolitik umzusetzen, die Sinn für dieses Land und sein Wachstum macht, die aber gleichzeitig das Klimaproblem ernsthaft angeht. Und mit dem gleichen Nachdruck werde ich auch das Problem der Einwanderungsreform anpacken.
Jungs, ich bin erst seit zwei Jahren in diesem Amt. Und ich möchte daran erinnern, dass wir in dieser Zeit 70 Prozent dessen verwirklicht haben, was wir im Wahlkampf versprochen haben. Für die restlichen 30 Prozent habe ich noch zwei, vielleicht ja auch sechs Jahre. Ich verstehe, dass vielen diese ungelösten Probleme unter den Nägeln brennen, aber ich kann meine Freunde immer nur darauf hinweisen, dass sie die langfristigen Perspektiven im Auge behalten müssen. Bei den ungelösten gesellschaftlichen Fragen ist das etwa „Don’t ask, don’t tell“ (die Praxis des amerikanischen Militärs, das Thema Homosexualität stillschweigend unter den Teppich zu kehren. – Red.). Das Verteidigungsministerium und der Generalsstab haben sich verpflichtet, hier eine Änderung herbeizuführen. Das ist eine große Sache.

Für die Sie ja auch durchaus Beifall bekommen haben.
Gleichzeitig bin ich auch der Oberste Befehlshaber einer Armee, die einen Krieg führt und einen anderen gerade beendet. Insofern ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn ich sage: „Lasst uns einen Schritt nach dem anderen machen.“ Wenn diese Richtlinien umgesetzt sind, werden wir damit sicherstellen, dass Homosexuelle in der Armee nicht mehr die Zeilscheibe von Repressionen sind. Das ist für mich ein Beispiel, dass wir selbst bei Themen, in denen wir keine legislativen Erfolge verzeichnen konnten, eindeutige Fortschritte gemacht haben. Wir bewegen uns in die richtige Richtung.
Und wenn Leute sich darüber beklagen, dass wir noch immer nicht Guantanamo geschlossen haben, dann sage ich: „Richtig, das ist etwas, das ich längst ad acta gelegt haben wollte, aber es scheiterte nun mal bislang am Widerstand des politischen Gegners.“ Wobei das natürlich auch ein ideales Thema für Demagogen ist. Immerhin habe ich dafür Sorge getragen, dass eine wie auch immer geartete Folter ausgeschlossen ist. Ich habe sichergestellt, dass unser Militär und die Sicherheitsdienste nach Prinzipien arbeiten, die unserem traditionellen Rechtsempfinden entsprechen. Dann höre ich: „Aber das Justizministerium verschanzt sich doch noch immer hinter der Doktrin einer Gefährdung der nationalen Sicherheit, um frühere Verletzungen zu rechtfertigen.“ Ich habe klare Anweisungen an das Justizministerium gegeben: Wir werden das Argument der nationalen Sicherheit nicht benutzen, um illegale Aktionen zu rechtfertigen. Andererseits: Natürlich wird es immer Situationen geben, in denen die Identität von Sicherheitskräften, von ihren Informanten und Methoden, geschützt bleiben muss, weil sie sonst in akuter Lebensgefahr schweben würden. Ich würde es nicht als hilfreich empfinden, wenn die Details zu Operationen, die terroristische Angriffe verhindern sollen, im ROLLING STONE veröffentlicht würden.
Aber nochmal: Diese Dinge lassen sich nicht von einem Tag auf den anderen lösen. Wir bewegen uns in die richtige Richtung, und das sollten die Leute im Hinterkopf halten.

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