Haldern Pop Festival, Rees, Haldern :: Die Generation Geige

Musik ist in Schwingung gebrachte Luft!“, rief zur Begrüßung Haldern-Urgestein Hein Fokker in die verstummenden Akkorde von Vivaldis „Frühling“. Es war früher Nachmittag am Niederrhein, ziemlich genau 40 Jahre nach dem größten und legendärsten Open-Air-Konzert aller Zeiten: Woodstock. Und vielleicht wollte der israelische Singer/Songwriter Asaf Avidan mit einem Folksong, den er allein zur Akustikgitarre anstimmte und damit das Festival auf der Hauptbühne eröffnete, an dieses historische Datum erinnern. Schließlich begann Richie Havens dereinst die drei schlammigen Tage voller Frieden und Musik auf ganz ähnliche Weise.

Ein nostalgischer Moment für ein Publikum, das zum größten Teil 1969 noch gar nicht geboren war. Von Nostalgie sonst aber keine Spur, Haldern ist und bleibt ein Festival der Gegenwart. Es hat sich auch im 26. Jahr trotz großer Erfolge – wieder war es Wochen vorher ausverkauft und iLive- und der WDR-Rockpalast haben übertragen – den Charakter des Versuchslabors bewahrt. Wirklich große Headliner wurden in diesem Jahr erst gar nicht gebucht, vielmehr konzentrierten sich die Veranstalter auf das breite Spektrum internationaler Popsensibilität. Von William Fitzsimmons‘ brüchigen Balladen und den rhythmischen Bluesgebeten des dänischen Duos Wildbirds & Peacedrums bis zur quirligen Elektronik von Fräuleinwunder Little Boots und den grandiosen Afro-Funk-Jazz-Überwindern BLK JKS.

Zwei Erkenntnisse konnte man dieser Versuchsanordnung abgewinnen, die unter Mithilfe von knapp 7000 Zuschauern und gut drei Dutzend Bands und Solisten abermals auf dem Pferdegestüt der Familie Babiacki abgehalten wurde. Zum einen zeichnet sich bei vielen Bands derzeit eine Rückbesinnung auf die Wurzeln europäischer Musiktraditon ab. Kammermusik, komplexe Arrangements und ein klassisches Instrumentarium dringen massiver denn je in den Pop. Sichtbares Indiz: die Geige, die das Saxofon als prägendes Zusatzinstrument abgelöst hat.

Ob sie bei den südafrikanischen Dear Reader zu mehrstimmigen Gesängen und wohltemperierten Harmonien erklang, zu Andrew Birds beschwingter Melancholie fiepte und zipperte oder sich bei Patrick Watson in Form eines ganzen Streichquartetts manifestierte: Geigen, Geigen und noch einmal Geigen! Diese Generation von Musikern spielt meist mehrere Instrumente, sie können Noten lesen und beherrschen Tonlehre und Komposition. Ihre Karrieren begannen nicht in der Garage und auch nicht beim Casting, sondern in der Musikschule, wo sie gelangweilt feststellten, dass mit drei Akkorden und dem Blues-Schema schon fast alles ausprobiert wurde.

Das isländische Ensemble Hjaltalin, das sich nicht nur den obligatorischen Violinisten, sondern auch einen Fagottspieler leistet, oder der kanadische Wunderknabe und Arcade Fire-Arrangeur Owen Pallett, der in seinem Soloprojekt Final Fantasy auf die avantgardistischen Kräfte der Geige baut, stehen klar für diese Entwicklung. Bands, die ihre Inspiration aus dem Rock oder Punk bezogen und das Schritttempo des Festivals beschleunigten, waren in der Unterzahl. Die von den Maccabees, The Vals oder dem funky aufspielenden Powertrio The Thermais versprühte Gradlinigkeit, Erregung und Gefahr blieben eine Ausnahme im Meer der introvertierten Gefühlsseligkeit. Ausnahmen auch die angenehm swingenden Roots-Rocker Blitzen Trapper und Broken Records, vor allem aber die grandiose Hippie-Urhorde Edward Sharpe And The Magnetic Zeros, die wie eine Mischung aus The Band auf Amphetaminen und einer Folkvariante von Sly Stone die kleinere Bühne im Spiegelzelt bei sommerlichen 31 Grad im Sturm nahmen.

Eine weitere Erkenntnis war die weitgehende Abstinenz deutscher Bands. Haldern Pop galt stets auch als Indikator für den popmusikalischen Ist-Zustand der Republik. Gruppen wie Element Of Crime, Tocotronic oder Notwist gaben hier in der Vergangenheit wichtige Konzerte. Bis auf die Gypsy-Weltmusik-Swing-Kapelle Tonfisch sowie die Hamburger Unterhaltungskünstler Fettes Brot war indes keine deutsche Band im Programm. Und von Fettes Brot, deren Konzert in der Nacht von Samstag zu Sonntag euphorisch gefeiert wurde, konnte man keinen signifikanten Beitrag zum Stand des Pop in diesem Land erwarten. Einen schwungvollen Abschied hingegen schon.

Warten wir also das 27. Haldern Pop im nächsten Jahr ab. Wer weiß, vielleicht sind dann ja Oboen das nächste große Ding? Wir werden auch dann wieder berichten.

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