Rush

„Retrospective 3“

Wie es sich mit der Historie von Rush verhält, lässt sich gut an dieser nun vollständigen Werkschau ablesen. Während „Retrospective 1″ und „Retrospective 2″ jeweils sechs Jahre umfassen, soll der dritte Teil fast zwei Dekaden abbilden. Es ist durchaus legitim, so vorzugehen- der kreative Output und auch die musikalische Relevanz des kanadischen Trios waren in den 70er und 80er Jahren wesentlich höher als danach.

Tatsächlich aber müsste man bei Rush nicht von drei, sondern von fünf Kapiteln sprechen. Die ersten zwölf Alben unterteilen sich in drei stilistisch unterschiedliche und jeweils durch ein Live-Doppelalbum abgetrennte Schaffensphasen. Rush hatten zu Beginn ihrer Karriere harten Prog-Rock gespielt, mit kreischender Stimme, reichlich Getöse und Science-Fiction-Philosophie. Dann entstanden zwischen 1977 und 1982 die wichtigsten Alben- Rush wurden schlanker im Sound, integrierten Keyboards und epische Melodien. In dieser Phase schrieben Lee, Lifeson und Peart unsterbliche Lieder, die von Fans religiös verehrt werden und zum ewigen Kanon kanadischer Rockmusik gehören.

Es folgten vier weitere, zwischen Wave-Pop, Prog-Pop und Rush-Eigenheit changierende Alben, die allesamt sehr klar konturiert und übrigens ganz wunderbar sind. Dann, und eben hier setzt „Retrospective 3″ an, beginnt eine diskografisch nicht mehr stringente Phase. War es die Verunsicherung durch Grunge und neue Gradlinigkeit, die den sehr galant gewordenen Sound von Rush infrage stellten? Oder fehlte einfach der Wille, sich noch einmal neu zu erfinden?

Gelang mit „Presto“ (1989) noch ein recht gutes Werk, wurden „Roll The Bones“ (1991), „Counterparts“ (1993) und „Test For Echo“ (1996) durchwachsene Alben, die insgesamt nicht den Standard der vorhergegangenen Veröffentlichungen erreichten. Rush machten es sich in einem Kompromiss-Sound aus nicht mehr so komplexem Pop und Rock mit Wave-Gitarren und leichten Modernismen gemütlich, das Songwriting litt hörbar.

Wobei: Im Rückblick erscheinen die auf „Retrospective 3″ zusammengeführten Tracks besser, als man sie in Erinnerung hatte. „Dreamline“ und „Bravado“ von „Roll The Bones“ sind schöne Stücke, denen die gute 80er-Jahre-Phase der Kanadier noch in den Knochen steckt. Vom selben Album stammt „Ghost Of A Chance“, hier in einer Live-Version zu hören. An „The Pass“ von „Presto“ erinnert man sich ohnehin gern- doch es ist eine wohlige, gut meinende Erinnerung an frühere Zeiten.

Mit dem Album „Vapor Trails“ von 2002 (hier mit Remixes von „One Little Victory“ und „Earthshine“!) beginnt fünf Jahre nach dem schwachen „Test For Echo“ (durch „Driven“ vertreten) das fünfte Kapitel dieser Karriere- sehr heavy, sehr Riff-lastig und noch nicht völlig überzeugend. Trommler Neal Peart hatte 1997 bzw. 1998 kurz nacheinander seine Tochter und seine Frau verloren, Rush hörten vorübergehend auf zu existieren. „Vapor Trails“ war mehr der Versuch eines Neuanfangs als das entschlossene Ringen um die musikalische Brillanz.

Weitere fünf Jahre später hatten Rush sich ihrer selbst mit einer immens erfolgreichen Welttournee und einer Cover-EP („Feedback“, 2004) vergewissert. Sie meldeten sich triumphal zurück: „Snakes And Arrows“ von 2007 führt viele alte Tugenden von Rush zusammen. Prog-Rock, Konzept, akustische Gitarre, bedeutungsschwangere Melodien, neue Doktorenrhythmen von Neal Peart.
Auf der der Deluxe-Edition beigelegten DVD finden sich schöne Bonbons, zum Beispiel eines der raren TV-Interviews – Lee, Lifeson und Peart sprechen (bzw. sprechen nicht!) ausgerechnet in der Kalauer-Late-Night-Show „The Colbert Report“ und geben anschließend ihre Visitenkarte „Tom Sawyer“ zum Besten.

Dazu gibt es diverse (sehr gute) Live-Cuts und zehn Promo-Videos, die insgesamt eher putzig als berückend wirken. Das ist ja kein Medium für Rush, die vollauf mit ihrer Musik beschäftigt sind und sich nicht zur Schau stellen wollen. In den Videos stehen sie meistens in rauen Landschaften herum, zwischendurch bebildern Filmsequenzen die jeweiligen Texte. Ein Luxus für den Fan, immerhin. Übrigens: Bitte verbuchen Sie Rush nicht unter „Nerd Rock“; das ist kein Begriff, der dem musikologisch, lyrisch und künstlerisch außergewöhnlichen Gesamtwerk dieser Band gerecht wird. (Warner)