RS-History

The Rolling Stones

Bridges To Babylon

Desertieren sie zum Dancefloor? Machen sie einen Kotau vor der Elektronik, herrschen Endzeitstimmung und Torschlußpanik? Die Antwort, der Fan hat niemals daran gezweifelt: kein bißchen. So berichtete ROLLING STONE vor 20 Jahren über „Bridges To Babylon“

ROLLING STONE rezensierte „Bridges To Babylon“ am 3. Oktober 1997:

Eine weitere Stones-LP nur, ein Lebenszeichen immerhin, die Band-Dynamik wohl unter Kontrolle, aber bloß phasenweise am Brodeln: Dieser erste Eindruck täuscht gewaltig, wie so oft, wenn falsche Erwartungen geweckt werden und nur eine einzige Frage gestellt wird wie hier: Ist es wahr? Gehen sie fremd? Desertieren sie zum Dancefloor? Machen sie einen Kotau vor der Elektronik, herrschen Endzeitstimmung und Torschlußpanik? Die Antwort, der Fan hat niemals daran gezweifelt: kein bißchen.

Hiobsmeldungen, nach denen die Stones wachsweich und winselnd den Trends der Stunde hinterherhecheln, entbehren jeder Grundlage. Alles Bullshit. Wahr ist, daß sie das nicht einmal könnten, wenn sie wollten. Die Rolling Stones sind ungefähr so modelllierfahig und mobil wie die Rocky Mountains. Der Berg kommt nicht zum Propheten, sondern läßt sie kommen, die Verkünder neuzeitlicher Botschaften, läßt sie eine Weile auf sich herumkraxeln, die dünne Luft da oben schnuppern. Nur: Wegweisend sind die Stones heute indes so wenig wie Johnny Cash oder John Lee Hooker. Auch das nicht eben eine neue Erkenntnis. Machen wir also in Immanenz.

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Was obigen ersten Eindruck begünstigt, ist die knochenharte, schier unvergängliche Sound-Signatur, die seismische Klangeigenschaft: torkelnde Rhythmen und peitschende Riffs, haarscharf danebenliegende Harmonies Jaggers vulgäre Vokale und semantisch wie politisch unkorrekte Schamlosigkeiten, seine provozierenden Spielchen mit Intelligenz und Innuendo, alles das und obendrein diese ostentative Unfertigkeit, das arrogante Belassen im Rohzustand. Doch wie stets bei den Stones fallt spätestens beim fünften Durchlauf vieles an seinen Platz, der Adrenalinstau löst sich. This is how the Cookie crumbles …

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Die „Bridges To Babylon“-Songs:

„Flip The Switch“ ist ein krachender Rocker mit „Silver Train“-Slide und viel „yeah yeah“ und „ready to go“, ein potenter Opener, aber unglücklicherweise auch der schwächste Track auf dem Album. Keef und Ronnie laufen Amok. One for the boys. 4,0

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„Anybody Seen My Baby“ ist die Glanznummer dieser Platte und das rundeste, eingängigste Stück Musik, das die Stones in den Neunzigern gezimmert haben: ein „Fingerprint File“-Funk und Verse voller Angst („she just got lost in the crowd“) kontrastieren stupend mit einem Kandiszucker-Chor zu hymnischem Refrain. 5,0

„Lowdown“ stampft und kämpft gegen einen fetten Sound mit einem beeindruckenden Guitar-Interplay und einer wunderbaren subversiven Gesangsmelodie: „Just gimme the lowdown if you can/ I don’t want a Showdown, just wanna know where Island.“ 4,5

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In „Already Over Me“ stellt Mick seine Stimme klagend auf fühlig und fragil: „I’ve been burnt, I’ve been bruised.“ „Out Of Tears“ revisited, könnte man sagen, aber anstelle des Pianos mit Akustik-Gitarren und Bottleneck-Schnarren. 4,5

„Gun Face“ ist eine Art „Shattered“ für die Nineties mit ultahartem Beat und adäquat aggressiv-giftigem Text („I’m gonna teach you how to scream“) und untypisch schwerer Gitarrenlast. 4,0

„You Don’t Have To Mean It“ eröffnet mit lindem Piano zu luftigem Reggae-Beat, Bläsern, Orgel, Dubs light, und Keith Richards ist in Sunshine-Stimmung: „Sweet sounds dripping from your lips.“ Jamaica-Pop, nice’n’easy. 4,0

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„I was feeling downhearted, I was drinkin‘ again“, singt Jagger in „Out Of Control“ zu paranoidem, bedrohlichem Backing aus rootsigen Riffs, Harmonica (Mick himself, no doubt) und urbanem Alptraum-Wah-Wah, bevor klotzige Gitarren einsetzen und den Schatten von Isaac Hayes verjagen. 4,0

„Saint Of Me“ ist säkularer Gospel. Es orgelt pastoral, die Drums haben das Drama von Pauken, die Fills sind süß und quecksilbrig, und Mick macht auf böse und unbekehrbar: „You’ll never make a saint out of me.“ 4,5

Wie „Saint“ von den Dust Brothers co-produziert, ist „Might As Well Get Juiced“ mit seinem wummernden Baß, den klatschenden Beats, Micks leicht verfremdeter Stimme, den Drum-Loops und Synth-Samples sicher der „zeitgeistigste“ Track, bleibt aber stets geerdet durch Harmonica, Slide und eine mühelose Melodie: Electro-Blues. 4,5

„Always Suffering“ hat das Flair einer Country-Ballade und die romantisch-verklärende Wehmut von „Memory Motel“, begleitet von lyrischen Licks und getragen von den schönsten Stones-Harmonies seit „Faraway Eyes“. 4,5

„Too Tight“ ist Rock’n’Roll von einer melodischen Schlüssigkeit und instrumentalen Brisanz, wir wir ihn von den Stones schon seit einer ^eile nicht mehr gehört haben. Watts treibt, die Richards/Wood-Achse rotiert. Hat die Klasse von „All Down The Line“. 4,5

Für die beiden letzten Cuts steht Keef am Mikro: „Thief In The Night“ fußt auf beherrschtem Gesang, gesampelten Geräuschen, unorthodoxen Breaks, Bläsern und bittersüßen Stimmen. 4,0

„How Can I Stop“ schließlich ist ein kleines Soul-Meisterwerk: soft zuerst, Rimshot-steady, Doowoperfahren und ausgestattet mit prächtigen Backing Vocals, dann plustert sich das Piano mithilfe der Becken zum Crescendo, ein Saxophon surft, jazzy und juicy. Und hochdramatisch. Ein Song für Aretha. 4,5

Die Stones haben das Pendel kräftig ausschlagen lassen in den 90er Jahren. Auf den traditionalistischen Americana-Mix von „Voodoo Lounge“ folgte das archaische Blues-Gelage „Stripped“, und nun mit „Bridges“ ein Album, das um Rhythm & Blues gravitiert, um schwarze Popmusik mithin, mid-tempo meist und mäßig modern, nie aber modisch oder modernistisch. Für den Fortschritt sind ja ohnehin andere zuständig. David Bowie meinetwegen. Oder U2. Just kidding.

Sven Hoppe picture alliance / Sven Hoppe/dpa