Tonio

Der sprachmächtige niederländische Autor A. F. Th. van der Heijden hat ein erschütterndes Requiem auf seinen 2010 verunglückten Sohn geschrieben.

von A. F. Th. van der Heijden

Als der niederländische Schriftsteller Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden am Morgen des Pfingstsonntags 2010 gegen 9 Uhr mit unruhigem Magen und Knoblauchatem erwachte, schaute er voller Erwartung und Zuversicht auf die kommenden 100 Tage. In dieser Zeit sollte ein neuer Roman abgeschlossen werden. Vermutlich ein weiterer Teil seines umfänglichen Romanzyklus „Homo duplex“, den er nach einer autobiografischen Notiz des französischen Schriftstellers Alphonse Daudet benannt hat. „Homo duplex, homo duplex!“, heißt es da. „Daß ich zwei Persönlichkeiten besaß, merkte ich zum erstenmal beim Tod meines acht Jahre älteren Bruders Henri – als Papa so dramatisch aufschrie:, Er ist tot! Er ist tot!‘ Mein erstes Ich weinte, und das zweite dachte:, Was für ein Schrei! Wie großartig wäre der im Theater!'“

Ein schrilles Klingeln riss van der Heijden an jenem Morgen schließlich aus seinen Gedanken. Seine Frau, die Schriftstellerin Mirjam Rotenstreich, öffnete die Haustür. Ein Polizistenpaar stand dort, um eine Hiobsbotschaft zu übermitteln. Tonio, der 21-jährige, nach Thomas Manns „Tonio Kröger“ getaufte Sohn der beiden Autoren, war in der Nacht von einem Auto angefahren worden. Er lag im Krankenhaus, sein Zustand war kritisch. Die Unheilsbringer boten an, die Eltern hinzufahren. Bereits vor dem Haus begann van der Heijden die junge Polizistin zu mustern, um noch einige Details zur Sommerbekleidung der Gesetzeshüter für seinen im Arbeitszimmer auf ihn wartenden Roman zu checken. Sie sind nicht zu trennen, der besorgte Vater und der manische Autor. Auch A. F. Th. van der Heijden ist ein Homo duplex, ein doppelter Mensch.

Im Krankenhaus können Rotenstreich und van der Heijden nach bangem Warten vor dem OP nur noch zusehen, wie schließlich die Beatmungsmaschine abgeschaltet wird. „All die Jahre des Stolzes auf das hübsche und kluge Wesen, das wir gemeinsam hervorgebracht hatten … Letztendlich war es dieses aufgegebene Wrack, das ich mit ihr gezeugt und das sie für uns geboren hatte“, denkt van der Heijden im Angesicht seines toten Sohnes.

Die Eltern fallen in eine dumpfe Trauer – betäuben sich auf der Terrasse ihres Hauses in Amsterdam-Zuid mit Alkohol und Valium. Doch schon sehr bald fängt van der Heijden an, aus Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen das Leben seines Sohnes zu rekonstruieren – beginnend mit der Zeugung, versteht sich -, als könne er es durch seine Prosa retten. Und wenn jemand so etwas kann, dann nur er, denn niemand schreibt so sinnlich und rauschhaft, so pulsierend körperlich wie der Kraftmensch van der Heijden. Doch die Wucht des Ereignisses lässt selbst ihn taumeln.

Immer wieder quälen ihn Selbstzweifel, immer wieder drehen sich seine Gedanken und die seiner Frau um die gleichen ungelösten Fragen. Warum wählte Tonio in jener Unglücksnacht diesen Umweg zu seiner Studenten-WG? Was war mit dem Mädchen, das er drei Tage vor seinem Tod im elterlichen Haus fotografiert hatte? Hatte sich da eine Romanze angebahnt? Aus der Trauer erwächst eine Detektivarbeit – die beiden sprechen mit Freunden und mit der Polizei, spüren das Mädchen schließlich auf.

Nachdem van der Heijden am Schreibtisch auch die letzten Stunden seines Sohnes in sein Werk gesetzt hat, traut er sich mit Rotenstreich an den Unfallort. Es ist der Tag, an dem sie das erste Mal den Stein auf dem Grab ihres Sohnes sehen, und es ist der Tag, an dem die niederländische Fußballnationalmannschaft nach dem verlorenen WM-Endspiel nach Amsterdam heimkehrt, um mit einem Boot durch die von der jubelnden Menge umringten Grachten zu tuckern. Das nationale und das persönliche Schicksal fallen zusammen, so wie einst in van der Heijdens „Die Schlacht um die Blaubrücke“, als der Held Albert Egberts an seinem 30. Geburtstag, der zugleich Tag der Krönung von Königin Beatrice war, ein Proust’sches Erlebnis hatte, das den überbordenden Romanzyklus „Die zahnlose Zeit“ in Gang setzte. Doch während Egberts versuchte, ein Leben zu führen, „in dem alle Geschehnisse sich gleichzeitig abspielten, anstatt zeitraubend aufeinander zu folgen“, verlängert van der Heijden das Leben seines Sohnes, in dem er es vor uns ausbreitet.

Der größte lebende niederländische Autor hat sich frei geschrieben mit diesem Requiem, das zugleich eine Familiengeschichte ist, eine Werkbiografie und eine Topografie seiner Wahlheimat Amsterdam. Während Joan Didion und Joyce Carol Oates den Leser zuletzt in ihren brillanten Trauerbüchern an die Grenze des Verstandes und den Rand der Depression führten, wirkt „Tonio“ wie ein heftiger Schlag in die Magengrube. Als trauernder Vater und sprachmächtiger Autor wird van der Heijden – für den alles zusammenhängt, das Leben und die Schrift, sein Spross und sein Werk, sein Ego und sein Gemächt, die Macht des Schicksals und das Gedärm – trotz aller Zweifel weiterschreiben. Für seinen Sohn und für sich. Eine lebenserhaltende Maßnahme für beide. (Suhrkamp, 26,90 Euro) maik brüggemeyer

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates