Richard Hawley – Am Abgrund

Überall sieht Richard Hawley Verlierer und Verzweifelte - Erlebnisse, die zu den wütendsten Songs seiner Karriere führten

Und dann musste er weinen. Der Taxifahrer hatte Richard Hawley ja gewarnt. Aber der nur geantwortet: „Was soll das heißen? Ich will da hin!“ Also sind sie zur Maxwell Street gefahren. Dem Ort in Chicago, wo all die wichtigen Blues-Musiker entdeckt wurden. Im Film „Blues Brothers“ spielt John Lee Hooker in einer Szene auf dieser Straße, während unzählige Menschen zwischen Klamotten-Läden, Ständen mit Musik-Kassetten und brutzelnden Würstchen wimmeln. So ähnlich hatte Hawley sich das vorgestellt. Doch als er ausstieg, war es, wie der Fahrer gesagt hatte: nichts mehr da. Nur noch ein riesiger Parkplatz. Wie eine Wüste.

In Hawleys Heimatstadt gibt es auch so eine Wüste. „Sie haben einen ganzen Bezirk in Sheffield plattgemacht, um eine großes Einkaufszentrum zu bauen“, erzählt er. „Dann ist das Geld ausgegangen, das Center ist halb fertig, und wir haben unsere ganze Geschichte verloren. Niemand gewinnt. Das sind verdammte Idioten!“ Soziale und kulturelle Verödung allerorts, kurzsichtigen Politikern und Kapitalgesellschaften sei Dank. Vor zwei Jahren spielte Hawley in Thessaloniki. Er sah Menschen auf der Straße zelten – vor Häusern, die mal ihnen gehört hatten. „Es ist überall ähnlich. Als ich in Philadelphia gespielt habe, fuhr mich ein Freund herum. In der Straße, in der er aufgewachsen war, waren alle Häuser mit Brettern vernagelt. Davor lebten Leute in Wohnmobilen.“ Hawley fühlt sich bedrückend an seine Jugend erinnert. „Ich habe die Thatcher-Jahre erlebt und gesehen, wie diese unser Land zerstört haben – die ganze Infrastruktur. Sie haben England Stück für Stück verscherbelt. Es gab Streiks und Kämpfe gegen die Polizei. Es war schrecklich.“ Geschichte wiederholt sich. Wieder mal am Abgrund.

„Standing At The Sky’s Edge“ heißt denn auch Hawleys wütende Reaktion. Raus aus dem Anzug, weg mit den Orchester-Klängen, zurück zur ersten Liebe: der Gitarre. Größtenteils live aufgenommen. Rau. Energisch. Im Titelstück der traditionelle Sheffield-Bezug: „Sky Edge war ein gefährliches Gebiet, wo ich als Kind gespielt habe.“ Der Song skizziert menschliche Tragödien. Da ist zum Beispiel Joseph, der ein guter Mann war, aber aus Verzweiflung seine Frau und seine hungernden Kinder umbrachte. Leute, für die das System keine Verwendung hatte. Er habe sie in seiner Jugend alle gekannt, nur ihre Namen geändert, sagt Hawley. „Die meisten meiner Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin, sind bald kriminell geworden. Sie haben Autos gestohlen und Drogen verkauft.“ An normale Jobs war in Zeiten immer neuer Rekord-Arbeitslosenzahlen nicht zu denken. Glück und ein Vorbild halfen Hawley, eine Alternative zu finden: Sein Vater war tagsüber Stahlarbeiter und Gewerkschaftsführer. Doch abends spielte er in Clubs und Bars Gitarre, begleitete dort auch schon mal die ganz Großen wie John Lee Hooker.

Neben der Musik gibt es eine weitere große Liebe in Hawleys Leben. Seit 22 Jahren ist er mit seiner Frau zusammen, hat drei Kinder mit ihr. Sie ist Krankenschwester, wie seine Mutter. Auch Hawley würde die Welt gerne ein bisschen heilen: Chancengleichheit schaffen, „die Bastarde abwählen“. Er unterstützt politische Aktivisten wie 38 Degrees, beteiligt sich an Online-Petitionen gegen den Verkauf von Waldgebieten. Wir müssten unsere Denkweise ändern, den Leuten helfen und sie inspirieren, statt sie auszuschließen, appelliert Hawley. „Sonst waren die Krawalle in London nur der Anfang. Dann benimmt sich bald jeder, wie es die Leute dort getan haben: Sie versuchen keine politischen Veränderungen zu erzwingen; sie klauen Turnschuhe und Handys.“

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