Sklaven der Wahrheit

Mit dieser Band hatte niemand gerechnet. Sogar die eifrige Plattenfirma, sonst bei jeder Marginalie im Einsatz, ist diesmal hilflos: Gerade eine läppische Besprechung aus einem Metal-Blättchen liegt in der Presseschau. Dabei waren Mother Tongue schon in Deutschland, um sich der Journaille und Zufallszuhörern vorzustellen. Es ist aber nicht schlau, solche Konzerte zu veranstalten, wenn der alte Frank Black in der Stadt ist.

So geschah es also, daß eines der bedeutendsten Alben dieses Jahres ignoriert wurde. „Mother Tbngue“: eine Höllenfahrt, ein Brennglas extremer Empfindungen, Zerstörungswerk und Heilmittel zugleich. Der reine Exorzismus. Eine Jesus-Gestalt auf dem Cover: „Damage“ ist auf die herausgestreckte Zunge tätowiert; auf den Fingern, die an der Unterlippe ziehen, stehen die Buchstaben „LOVE“. Eine Träne rinnt aus dem rechten Auge.

ohne Selbstmitleid sagt: „Ich hatte ein schwieriges Leben“, dann bedarf das keiner Erklärung. Die Stimme von Dave Gould spricht von Drogen und Krankheit, sie spricht aber auch von Leidenschaft, Ünbeugsamkeit und Zorn. „Wir haben alle in einem Apartment in Los Angeles gelebt. Das machte uns nichts aus, weil wir die Musik lieben und an sie glauben. Ich habe nie etwas anderes gemacht. Die Welt ist ein schlechter Platz. Man muß das begreifen, aber man muß ihm auch etwas entgegensetzen.“ In „Sheila’s Song“ heißt es: „The world’s a darker place/ I wish I had you near me.“ Man kann glauben, was Gould berichtet: „Die Leute hier hassen uns, wenn wir auf der Bühne stehen. Sie empfinden uns als aggressiv. Sie wollen uns nicht. Unser Ziel ist nicht Zerstörung. Es geht um den Zusammenhang zwischen Destruktion und Konstruktion. Die Liebe könnte die Lösung sein. Aber es ist viel einfacher, ein Haus in einer Stunde zu zerstören, als es in mühsamer Arbeit aufzubauen. Und deshalb braucht man Wut. Deshalb machen wir Musik.“ Gould und seine Freunde Christian Leibfried, Geoff Haba und Bryan Tulao arbeiten in klassischer Besetzung – aber sie beherrschen ihre Instrumente so virtuos, daß die unvermuteten Brüche in ihren Songs eine mathematische Präzision haben. Sogar Violine und Viola wirken in diesen brachial ziselierten Laubsägearbeiten nicht unangemessen. Das Harte und das Weiche verbinden Mother Tbngue zu Passionsliedern, die abwechselnd konzentriert und entspannt werden. Ebenso changiert der Vortrag zwischen lapidarem Sprechgesang und gebrüllten Ausbrüchen. Es gibt kein Gejammer in dieser Musik, kein Pathos – nur Evidenz. „We’re all slaves to the truth“, singen Mother Tongue.

Burn, baby, burn.

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