Warum „Twin Peaks“ ein spirituelles TV-Erlebnis ist

Die Kult-Serie von David Lynch und Mark Frost gehorcht anderen Gesetzen als alles, was je im Fernsehen zu sehen war.

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Gerade einmal 428 Tage liegen zwischen der Erstausstrahlung des Pilotfilms von „Twin Peaks“ und der letzten Folge der zweiten Staffel. Dann war 1991 auch schon Schluss, nach nicht einmal 30 Episoden.

Zwischen der tot in Plastikfolie eingewickelten Laura Palmer und FBI-Agent Cooper, dem im Spiegel das absolut Böse (BOB) entgegenlacht, schrieben David Lynch und Mark Frost Fernsehgeschichte. Die Serie wurde zum popkulturellen Phänomen, das selbst Queen Elizabeth II. brennend interessierte. Aber sie war dem ausstrahlenden Sender ABC nicht geheuer. Erst pochte man auf eine schnelle Auflösung, wer die Schulschönheit ermordet hat, schließlich empfand man die Mischung aus absurdem Drama und Kirschkuchen-Kitsch als zu ausufernd, um fortgesetzt zu werden.

Doch auch wenn „Twin Peaks“ vom Schirm verschwand, die Anhänger wollten nicht loslassen. Sie hielten das fiktive Städtchen mit angeblich 51,201 Bewohnern, deren faszinierendste Vertreter man einige Stunden lang kennenlernen durfte, am Leben. Sie nahmen alles auf Videokassette auf und analysierten jeden einzelnen Frame. Sie organisierten ein eigenes jährliches Festival und schauten die Serie immer und immer wieder gemeinsam. Sie schrieben die Geschichte weiter, bevor das Wort Fan-Fiction überhaupt erfunden war. Schließlich suchten sie Kontakt zu den Schauspielern, die ihnen gerne auf eigene Conventions folgten.

„Twin Peaks“ muss man buchstäblich durchleben

Seit das Serien-Gewerbe boomt, ist all das auch für viele andere Fernsehreihen völlig normal geworden. Der Buzz wird ja von Netflix und Co. aktiv befeuert. Aber bei „Twin Peaks“ liegt die Sache anders. Die Liebe und Lust, sich auf die unheimliche, rätselhafte, komische, tragische Erzählung einzulassen, ist von der Serie selbst erzeugt wurden, denn sie ist eine geradezu spirituelle Seherfahrung. Man schaut sie nicht nur, man durchlebt sie. Nicht umsonst steht der Epilog von „Twin Peaks: The Return“, der spektakulären Showtime-Rückkehr im Jahr 2017, unter dem Motto „We Live Inside A Dream“.

Verquere „Twin Peaks“-Schönheit Audrey Horne (Sherilyn Fenn)
Verquere „Twin Peaks“-Figur: Audrey Horne (Sherilyn Fenn)

„Twin Peaks“ ist kein bloßes Mystery-Drama mit Comedy-Elementen, es wird mit jeder Folge durch seine geradezu liturgische Form mit wiederkehrenden Motiven (Douglas-Tannen, verdammt guter Kaffee), den als Archetypen menschlichen Verhaltens geradezu überstilisierten Figuren wie aus einer Soap-Opera und einem ausufernden Programm audiovisueller Zeichen zu einem Ritual, das jeden Zuschauer auf eine Reise ins Innere der Welt und des eigenen Selbst einlädt.

Die Serie folgt der künstlerischen Agenda von David Lynch, sie kann als metatextuell verstanden und als postmodern entschlüsselt werden – und doch bleibt solches Analysebesteck stumpf gegenüber der Reizwirkung ihrer Bilder und Töne.

In einer schon in den 90er Jahren reizüberfluteten Welt ist „Twin Peaks“ ein Akt des Widerstandes, und bleibt es auch heute noch, wenn man die Serie erneut oder zum ersten Mal sieht. Es gibt keine Erklärungen, das Geheimnisvolle ist die DNA der Serie. „The Owls Are Not What They Seem“. Jede Szene lockt nur in einen neuen Kaninchenbau, weil die Story keiner geraden Linie folgt, sondern ein Labyrinth an Ereignissen und Emotionen ist.

Mehr als nur Fernsehfiguren

Deswegen fühlen wir nicht nur mit Laura, Audrey, Bobby, Donna, Shelly und all den erwachsenen, mal mehr und mal weniger geerdeten Figuren mit. Uns werden ihre Emotionen mit scheinbar unendlichen Wiederholungen und Rückverweisen näher gebracht. Man muss sich in sie einfühlen, sonst versteht man sie nicht. Das dies gelingt, liegt auch an ihren Autoren und Regisseuren. „Twin Peaks“ lässt das Drehbuch-Prinzip von „character driven“ und „plot driven“ ins Leere laufen. Nicht umsonst erklärte David Lynch seine Motivation für die späte Fortsetzung mit dem simplen Wunsch, all diesen besonderen Menschen noch einmal zu begegnen. Den Schauspielern ging es, bis auf wenige Ausnahmen, nicht anders.

Die Erzählstruktur der Serie will nicht logisch durchdrungen, sondern intuitiv erfahren werden. Wer „Twin Peaks“ schaut, muss sich selbst begegnen und damit rechnen, sich zu verwandeln. Der Mord an Laura Palmer ist ein Riss in der sichtbaren Welt. Aber hier geht es nicht um Kriminologie, sondern um Ontologie. Was ist das Böse? Was ist ein Mensch? Was ist Zeit?

Das sinnlose Sterben war schon immer der Ausgangspunkt vieler spiritueller Reisen. Inszeniert wird die kollektive Trauer um Laura Palmer aber fast wie ein morbid-erotisch aufgeladener Akt, unterstrichen von den immer wieder wie aus dem Nichts aufbrandenden Moll-Synthie-Klänge von Angelo Badalamenti. Ein Klagegesang für die malträtierte Jugendliche, hinter der ein gewaltiger Abgrund steht.

Twin Peaks
Hinter der schönen Fassade von „Twin Peaks“ lauern dunkle Abgründe

Damit gemeint sind nicht nur die Drogen-Verschlagplätze und das Bordell, die von Laura Palmer frequentiert werden, da sind auch die „Black Lodge“, der „Red Room“ und all die anderen metaphysischen Zonen, in der unsere inneren Zustände externalisiert werden. „Twin Peaks“ verhüllt seine Spiritualität auch gar nicht. Agent Dale Cooper folgt indigenen Spuren, es gibt Doppelgänger an jeder Ecke, dazu Zeitloops und Elektrizität als Träger seelischer Energie.

„I Want To Believe“ heißt es bei „Akte X“, das ohne diese Serie gar nicht denkbar gewesen wäre. David Duchovny spielte hier und dort mit, zweimal als eine Art Medium, aber doch ganz unterschiedlich. Aber darum geht es bei „Twin Peaks“: An das zu glauben, was man sieht und hört, den eigenen Sinnen zu vertrauen und das Denken für einen Moment einzustellen. Die Serie zeigt nicht die Dinge, wie sie sind, sondern wie sie wirken. Man kann sie natürlich zu erklären versuchen, aber das dauert dann schon einmal ein paar Stunden.

Geschichte des Missbrauchs

All die künstlerische Finesse wäre nichts wert, wenn sie kein emotionales Zentrum hätte. Laura Palmers Tod ist buchstäblich ein Schrei, der durch alle Staffeln hallt – nicht, weil ihr Mord ein Fall ist, sondern weil er ein Schicksal zeigt. Lynch exorziert hier auch ein wenig seine eigene Methode: Erst weil dem Düsteren auch etwas durchgängig Helles, dem Guten etwas zutiefst Böses entgegengehalten wird, kann der mehrfache Missbrauch der Menschen sichtbar werden.

Zugleich aber erscheinen all die Bewohner von Twin Peaks als Figuren eines Schachspiels größerer Mächte – von Windom Earl über die Woodmen bis hin zur von der Sprengkraft der Atombombe freigesetzten diabolischen Energie von BOB.

BOB im Strudel der Atombombe
BOB im Strudel der Atombombe

Auch wenn es bei „Twin Peaks“ ganz bedrohlich um das Verschwinden von Identität, das Verlorengehen von Orten und das Auseinanderfallen der Zeit geht, hält doch alles ein tiefes Mitgefühl für das Sosein der Dinge und Menschen zusammen. Den Scharlatanen und Tricksern stehen gute Seelen wie der von Harry Dean Stanton gespielte Carl Rodd gegenüber, der eine Mutter tröstet, deren Kind von einem Auto totgefahren wird.

So ausgefeilt die erste Staffel erscheint (der Pilotfilm ist vielleicht sogar Lynchs beste Regiearbeit), so widersinnig und ziellos auch viele Folgen in der zweiten Season anmuten, den Kreis zu einer spirituellen Erfahrung schließt „Twin Peaks“ erst mit „The Return“. Weil hier alles aufgesprengt wird und es eine Rückkehr im metaphysischen Sinn ist – eine Kreisbewegung, ein Gang durch Himmel und Hölle mit der mehrfachen Erfahrung von Reinkarnation (guter und böser Cooper) und absoluter Leere (Dougie).

Ab 13. Juni sind alle Folgen von „Twin Peaks“ und „Twin Peaks: The Return“ beim Arthouse-Streamer MUBI zu sehen. ROLLING STONE führte aus dem Anlass ein XXL-Interview mit Co-Schöpfer Mark Frost über letzte Geheimnisse der Serie.

Man muss David Lynch mit seiner Verbindung zur Transzendentalen Meditation nicht auf den Leim gehen. Aber „Twin Peaks“ gleicht in Form und intendierter Wirkung einer ausufernden Zen-Sitzung. Am Ende steht nicht Aufklärung, sondern eine Frage: „What year is this?“. Dieser letzte Satz der Serie ist wie ein Koan, also eine Frage, die nicht gelöst, sondern durchlebt werden will.

„Twin Peaks“ ist eine spirituelle TV-Erfahrung, weil es eine Welt zeigt, in der das Unsichtbare mächtiger ist als das Sichtbare.

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