DAS ERSTE MAL

Wie war’s beim ersten Mal?“, fragte mich neulich mein freundlicher Internetprovider. Für sein kleines Boulevard-Feuilleton wurde das Publikum gebeten, das „ganz persönliche Erlebnis“ zu schildern, wie’s denn für jeden Einzelnen war beim allerersten und wahrscheinlich alleraufregendsten Erlebnis. Die besten Beiträge werden prämiert.

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Mitmachen also? Here we go: Es war eine Nacht im Dezember des Jahres 1972. Dichte Schneeflocken fielen schon früh im Winter auf die nördlichen Hamburger Vorstädte. Ich hörte „Earthspan“ von der Incredible String Band und „Ride The Wind“ von den Youngbloods – zwei äußerst sentimentale Werke, die mich in die richtige Stimmung für die große, wattige Tumbheit brachten, die sich an die Stunden nach großen sexuellen Erlebnissen oft anschließt. Incredible String Band sangen in „The Actor“ von einem einsamen Schauspieler, den ich mir groß, rotgesichtig und fleischig, aber mit kräftigem dunklem Haar vorstellte. Er verlasse, so hieß es, die Bühne mit einer Rose in der Hand. Dieses Kitschbild prägte sich mir vor allem deswegen als rätselhaft und attraktiv ein, weil es mit zwei anderen Informationen verschmolz: An seinen einsamen Abenden las er Algernon Swinburne (dessen ausgewählte Werke ich mir darauf hin in einer DDR-Ausgabe aus der Leihbibliothek Fuhlsbüttel besorgen musste) und aß „mightily with some false lust“ – und, ohne den Ausdruck zu kennen, verband sich beides für mich zu einer kräftigen, vorbegrifflichen Idee von Kompensation, gefangen in einer Szene aus dem britischen 19. Jahrhundert. Wein oder Punsch, Euer Gnaden? Dicke Kartoffeln plumpsten in mehlige Soßen, und es war nichts als ein Kuss, „a kiss was what he found on damp but friendly ground“.

„Ride the Wind“ wiederum war ein wunderschönes, nichtsnutziges Trio-Jazz-Gedudel über laue kalifornische Nächte, die in irgendwelche unforcierten Zärtlichkeiten übergingen. Ich liebte an dieser Platte ihre Unwichtigkeit. Sie hatte null Prätention, sie war nichts außer süßem, kitschigem Gewinsel zu E-Piano-Jazz. Aber kein slicker Kitsch, sondern amateurhaft. Ich wollte genau das werden, ein E-Pianist, der mit zwei Freunden Kitschjazz daddelnd durch Kalifornien zieht. Besser: eine ganze Welt wie Kalifornien. Alle Lieder handelten von einem ungezwungenen endlosen Zusammensein in wohlriechenden Nächten. Halt: Den kalifornischen Geruch habe ich erst später kennengelernt und den Erinnerungen an die Projektionen rund um wattig-zärtliches Wohlfühlen hinzugefügt. Es war also…

Doch – Moment. Das Internet-Feuilleton fragte gar nicht nach Sex. Nicht nach frühen Verwirrungen in Schnee und Schnellbus. Es fragte nach dem ersten Rockkonzert im Leben seiner Abonnenten. Denn ein Rockkonzert und für spätere Generationen ein Rave (oder so was) sind, das weiß das Portal instinktiv, genau jenes kulturelle Material, aus dem sich heutzutage die begehrten Formeln ableiten lassen, die das Besondere für alle fassen können. Sie sind wie erster Sex.

Die Bücher, die Pop-Musik nun auch von und für Erwachsene nicht mehr wie einen kritisierbaren kulturellen Gegenstand behandeln, nicht mehr wie Kunst, sondern wie ein fact of life, um den herum sich eine Biografie ansiedelt wie bei anderen um gutes Essen, schöne Knaben oder edle Stoffe, bilden längst ihr eigenes Genre. Pop-Musik sei nicht Kunst, sondern Leben – wie Frauen und Fußball.

In deutscher Sprache haben im letzten Jahrzehnt etwa Konrad Heidkamp, Thorsten Krämer, Thomas Steinfeld solche Bücher geschrieben, im englischsprachigen Raum sind sie nicht mehr aufzählbar, oben auf der Liste steht aber natürlich Nick Hornby. Auch da, wo sie in handfeste Theorie übergehen, macht es ihr Verhältnis zum Gegenstand oft aus, dass dieser nicht restlos theoretisierbar sei, weil er aus biografischem Stoff besteht. In Greil Marcus‘ „Lipstick Traces“ hängt, zugespitzt, die ganze Weltgeschichte an einem unaussprechlichen, nur wenige Sekunden andauernden Lärmausstoß, den er in San Francisco, beim letzten Konzert der Sex Pistols, gehört hat. Dieser nicht hintergehbare, letztbegründende Lärm bzw. die weiche Stelle, auf die dieses elektrische Wunder in Greils Seele traf, bleibt der Fluchtpunkt aller Poptheorie – im entscheidenden Moment taucht sie ins Leben ab, und niemand kann sie da rausholen. Immer wenn sie’s schon fast nach Academia geschafft hat, erwischt die Theoretiker der biografische Impuls, wollen sie vom ersten Mal erzählen oder von ungewöhnlichem Wetter. Stormy weather, since you and I ain’t together.

Die Initiation durch das erste Konzert gehört zu der Sorte Material, an dem das pubertäre wie das bürgerliche Grundproblem sich begegnen – Individualität und Gruppe miteinander zu vermitteln -, und erscheint daher zunächst als eine rein soziale Angelegenheit oder eben wie gesehen als eine rein individuelle: als ein Stück aus dem Fotoalbum nämlich. In beiden Fällen kann es ohne Kunst und Kunstbegriff auskommen.

Die daran angeschlossenen Erinnerungen und Erzählungen berichten nicht oder nur selten davon, wie man durch das erste Pop-Konzert zur Musik gekommen ist, sondern wie man dadurch der oder die geworden ist, die wir heute sind. Pop-Musik erscheint hier auf der der Kunst antagonistischen Seite der Welt, dafür in der unmittelbaren Nachbarschaft von Sex. Ein Erlebnis, das woanders hinführt als zu seiner Wiederholung. Zu einer anderen Praxis – Initiation führt immer zu einer anderen Praxis als der, die man bei der Initiation erlebt hat. Sex führt zu Liebe, Erwachsenwerden, Individuation oder zu Bordellen, Bars, Swingerclubs – jedenfalls nicht zu weiterem reinen Sex (das wäre noch immer pervers: Sexualität ist ja nur freigegeben, weil sie so wunderbar sozialisiert, also vom „reinen“ Sex wegführt). Rock-Musik führt – in dieser Lesart – nicht zu einer weiteren permanenten Beschäftigung mit Rock-Musik, sondern dazu, sich selbst kennenzulernen, sei es nun, um Soldat, Steuerberater, Kultursenator oder BDI-Chef zu werden oder Plattensammler, was dem Swingerclub entspräche. Kunst und Liebe sind von Dauer, Pop, Sex und das Leben dagegen kurz.

Es war vor 43 Jahren. Die Vorgruppe hieß Matthews Southern Comfort. Es war die Band von Ian Matthews, der, wenn ich mich nicht irre, durch eine andere Band bekannt geworden ist: War er nicht einmal bei Fairport Convention? Auf jeden Fall hatten die damals einen Hit mit „Woodstock“, der sogenannten Generationshymne von Joni Mitchell, gespielt als Country-Rock mit Pedal Steel Guitar. Auf der Bühne stand auch eine Pedal Steel Guitar, die mich sehr faszinierte, aber sonst kann ich mich an nicht viel erinnern. Ich hatte aber schon mal auf einem Schulfest eine Band live spielen sehen (sie hießen The Selection, Motto: „Pop In Action – The Selection“), der bloße Anblick von Menschen auf einer Bühne konnte es also nicht sein, obschon es sich immerhin um die Bühne der Musikhalle handelte.

Ganz anders erlebte ich den Auftritt der Hauptband, sie hieß Johnny Winter And. Es war ein Auf-Tritt. Winter sprang auf die Bühne wie ein wildes Pferd und rannte unruhig hin und her. Dabei stöpselte er seine Gitarre ein und stieß einen seiner Schreie aus. Diese Schreie waren keine expressiven Kitschschreie authentischer Individualität, sondern pure Soundeffekte, ein Erkennungszeichen. Dieses Erkennungszeichen, offensichtlich live und vor meinen Augen produziert, vereinigte sich mit diesem ebenfalls offensichtlich persönlich anwesenden Körper zu einem sehr kurzen, aber unglaublichen Moment von Präsenz, der mich – wie man so sagt, aber wirklich – erschauern ließ. Dieser bislang nur als medialer Effekt gekannte Winter-Sound, der nur von Fotos bekannte hagere Körper dieses strähnig langhaarigen Albinos erstanden plötzlich als miteinander verbundene Attribute eines sehr wirklichen Körpers vor unser aller überraschten Augen. Ein Geist war herabgestiegen und benahm sich komisch. Mir stockte der Atem. Wenn ich so sagen darf.

Zu dieser Geschichte gehört normalerweise keine Verteidigungsrede auf die Musik. Initiationen greifen kraft des Rituals, nicht weil der Schamane heute einen guten Tag hatte. Niemand ist verantwortlich für die ganz zufälligen Umstände seiner Initiation. Das ist ungerecht. Meine konnte nur funktionieren, weil es ein gutes Konzert war, im Gegensatz zu Matthews Southern Comfort. Weil es unter anderem nämlich auch gute Kunst war.

Johnny Winters Band hieß Johnny Winter And, weil sie einen zweiten Lead-Gitarristen hatte, Rick Derringer. Er war das „Und“, das „Plus“, keine zweite vollständige Person, aber ein ständig präsenter Spiegel oder Doppelgänger. Ein heute vergessener Detroit-Rocker, der in den 60er-Jahren, wenn ich mich richtig erinnere, bei den McCoys gespielt hat. Die McCoys kennt die Welt, weil sie einen Hit mit „Hang On Sloopy“ hatten, ein Lied, das irgendwann in den globalen Oldie-Automaten eingespeist wurde und daher jederzeit zwischen Tokio und Tübingen aus Supermärkten oder Verkehrsradiosendern erklingen kann.

Freilich war es nicht die beste Version von „Hang On Sloopy“. Die dauerte über zehn Minuten und war eine opulente Soul-Oper des großen und noch weiter gehend vergessenen David Porter. Der amerikanische Klassenkonflikt – „Sloopy lives in a very bad part of town“ – wurde bei Porter unter Aufbietung aller von seinem Kollegen und Freund Isaac Hayes berühmt gemachten Tricks (Flüster-Rezitativ, großes Lautstärkespektrum) zu welttheatralischer Größe überhöht, während die weißen McCoys Sloopy zur proletarischen Coolness einer typischen Greaser-Rock-Band runtergekocht hatten, wie Mike Kelley die 60er-Jahre-US-Bands zu nennen pflegte, die gegen die britische Invasion des Beats eine geradlinig stumpfe, amerikanisch-proletarische Rock-Identität verteidigten. Der Sänger der McCoys war, wenn ich mich nicht irre, Mitch Ryder (der Autor irrt – die Red.). Ein späterer Liebling des deutschen authentizistischen Rockismus und seiner zentralen Institution, der Fernsehsendung „Rockpalast“.

Man kann Rick Derringer auch über seine Frau kennen, die im Laufe der Jahre sehr viel bekannter wurde, als er es je war. Liz Derringer fand sich nicht mit der Rolle der „Plus One“ auf der Gästeliste ab und begann zunächst Texte und dann Bücher über Rockmusik zu schreiben, schließlich auch über Rockmusikerfrauen und ihren prekären Status, wie er in dem Liebes(sic!)lied der Grateful Dead „Sugar Magnolia“ unfreiwillig gruselig auf den Punkt gebracht ist: „She waits backstage while I sing to you.“

Liz ist im Gegensatz zu Rick noch heute im Geschäft. Damals aber wurden Rick und Johnny Winter zum ersten Gitarrero-Duo der Welt. Der heute viel geschmähte und allein für den Sexismus und Machismus der Rockmusik symbolisch zur Verantwortung gezogene Typus des Gitarrenhelden war gerade erst ein paar Jahre vorher durch seine glänzendsten (Jimi Hendrix) und seine trübsten Vertreter (Eric Clapton) eingeführt und in Serie gegangen. Jeff Beck, John Cipollina, Jerry Garcia, Jorma Kaukonen und Jimmy Page hatten zwar schon begonnen, diesen neuen Typ des Solisten in der bis dahin eher kollektiven und auf gemeinschaftlichen Verabredungen basierenden Gattung der Rockmusik zu bestimmen, nicht als reinen Geschwindigkeits-Gniedler und phallokratischen Poser, dennoch setzte sich gerade auch bei uns sehr jungen Jungen der frühen Siebziger der „schnelle Finger“ als Indikator von zu Atemlosigkeit berechtigenden Zuständen durch. Alvin Lees Auftritt im Film „Woodstock“ tat das Seinige. Jimmy Page codierte in „Heartbreaker“ von „Led Zeppelin II“ das akzelerierende, sich von Triolen über Pentolen hochjodelnde, vollständig unbegleitete, „nackte“ Gitarrensolo erst einmal als gültige Übersetzung einer Mischung aus männlicher Masturbation und (meist sexueller) Aggression. Was diesen Typus des Solos noch eine Weile rettete, entschärfte, kontextualisierte, war indes die Blues-Form, aus der es sich meistens entwickelte.

Doch Johnny Winter war nicht nur ein Schwanz, den der Blues aus seiner Hose herausholte, er war ein dramatisches Signal, eine vollkommen seltsame Präsenz. Er war komplett WEISS. Er hatte ROTE AUGEN. Und er schrie, so lang und hoch und schrill, dass Yoko Ono und Linda Sharrock daneben zu Judy Collins zusammenschnurrten. Mit seinem Bruder Edgar, der noch lauter und länger schreien konnte, aber statt des elektrischen Blues komisch pop-symphonische, kosmische Klang-Dichtungen vorzog und dessen Album „Entrance“ zu den größten unterbewerteten Platten der Pop-Geschichte gehört, sah ich, gemeinsam mit meinem Bruder, Johnny im Fernsehen, in der Sendung „Swing In“ (Live-Aufnahmen von Bands, samstags auf ARD), wie sie „Tobacco Road“ performten, und Edgar schrie gestoppte zwanzig Sekunden. So waren sie, die beiden Albino-Brüder. Und wie die aussahen! Dieser ausgemergelte (vielleicht süchtige: Was weiß ich!), superdünne Körper, an dem arschlange, fettige, extrem dünne weiße Haare und Fransen von Cowboy-Klamotten herabhingen, als gelte es, die ganze Welt zu streicheln oder mit Speed-Lines zu durchpflügen. Dieser dünne, flinke, superschnelle Gitarrero flutschte aus irgendeiner Nacht des Backstage-Bereichs auf die Bühne, pluggte in und katapultierte sich wie ein gesalbtes Gummiband in eine heilige Hamburger Nacht.

Und nun war das nicht alles, denn Rick Derringer war jetzt auch da, und er war genauso schnell. Er stand Winter gegenüber und antwortete. Winter warf den Kopf zurück und wieherte, Derringer prügelte zurück. Stundenlang. Der Rest waren nun Gitarrenschlachten, Gitarrengewichse, Genudel und Gegniedel, aber immer hypernervös, ungesund schnell und vor allem zu zweit. Durch diesen anderen, auch superschnellen, aber solideren, bodenständigeren, auch ruhigeren und rundherum normaleren Rick Derringer bekam Winter eine noch dramatischere Erscheinung. Musikalisch wurde er in all den Frage-Antwort-Gitarrenduellen, all den doppelstimmigen Läufen und publikumswirksamen Unisono-Passagen gedoubelt und gespiegelt, umso unverzichtbarer und einzigartiger wurde seine bloße Erscheinung, sein heilig-heroinsüchtiges Hagersein. Live war an diesem Abend nicht so sehr die Musik, die es bald auf der Live-Platte von Johnny Winter And zu hören geben würde, live war die ganze außermusikalische Aura der Person. Die allgemeine und allgemein erregende wie initiierende Live-Erfahrung, dass hier einer im selben Raum sich auf hält, der bis dahin nur eine Konstante deiner Medienerfahrung war. Diese Erfahrung erhält eine besondere Form dadurch, dass das, was da live ist, die große außer- oder transmusikalische Erfahrung der Pop-Musik, das Erlebnis einer Person, eines Stars, eines Acts, nicht einfach nur das Gleiche darstellt wie vorher der Medieneffekt, sondern diesen im Nachhinein zum bloßen Versprechen dessen werden lässt, was wir hier und jetzt erleben.

Nur wenn man ein solches Konzert erwischt, gelingt die Initiation. Winter war eine große außermusikalische Präsenz. Doch hatte diese Präsenz eine musikalische Seite, die auch nicht beliebig war. Zwar hätte man die außermusikalische wie die musikalische Seite auch mit anderen Entsprechungen zusammenspannen können, aber nicht mit vielen; die Auswahl wäre begrenzt gewesen. Das Verhältnis zwischen Winter, der fremdartig erregenden Figur, und dem Blues war nicht einfach expressiv, wie es die Rock-Mythologie gerne hätte, aber es war auch nicht so beliebig, wie es die Kritik dieser Mythologie oft zu einfach darstellt. Winter als mein Star war eine rein außermusikalische, wenn man will, theatralische oder Performance-Präsenz, aber diese konnte nur entstehen, weil eine ganz bestimmte musikalisch-inszenatorische Anordnung sie beschwor. Ich wurde initiiert, aber nicht einfach nur in das individuelle Erlebnis der Gemeinschaft, mit gleichfalls und auf gleiche Weise erregten Peers, sondern in den Zusammenhang zwischen diesem Pop-Musik-Erlebnis und seinen vielen Auslösern, Repräsentanten, Indikatoren, Illustrationen. Und das war dann mit anderen Beispielen wiederholbar – als Kunst, wenn man so will. Es geschah im Februar 1971 und begann mit dem Song „Guess I’ll Go Away“.

DER LETZTE WÄLZER

Mit „Über Pop-Musik“ veröffentlicht Diedrich Diederichsen dieser Tage sein dickstes Brett. Weggefährte Hans Nieswandt über Deutschlands streitbaren und umstrittenen Pop-Professor

Der Text „Das erste Mal“ ist ein Auszug aus dem opulenten Wälzer „Über Pop-Musik“, dem am 8. März bei Kiepenheuer &Witsch erscheinenden Opus magnum von Diedrich Diederichsen (39,99 Euro). Im Allgemeinen wird der Autor – und daran ist natürlich nichts verkehrt – an seinen extrem klugen und geistreichen Texten gemessen, mit denen er seit mehr als 35 Jahren nicht nur den Musikjournalismus bereichert hat. Manchen ist seine Kost zu hart – wer aber Geschmack an Diederichsens Denken und Stil gefunden hat, wird von diesem ausgesprochenen Vielschreiber stets satt versorgt. Was dabei oft übersehen wird: Er schreibt nicht nur gut, er ist auch das, was man einen guten Typen nennt. Hinter all den Schriften steht ein intensives Aktivistenleben voller Liebe und Leidenschaft, ein Brennen vor allem für ein Sujet, das ihn naturgemäß am längsten von allen begleitet: Popmusik. Im wirklich allumfassendsten Sinne. Und die stetige Bereitschaft und Lust, all seine Energie, seinen Ernst, aber auch seinen Witz als Lebensaufgabe im Dienste der Popmusik zu investieren – als Kritiker und Aktivist der zentralen, modernen Gesellschaftskultur. Ein guter Typ eben.

Geboren 1957, wurde Diederichsen dem Publikum zunächst als prägender Redakteur und Autor des längst verblichenen, aber unvergessenen Hamburger Musikmagazins „Sounds“ bekannt. Was damals, Ende der 70er-Jahre, noch niemandem so richtig klar war: Obwohl sich bis dahin schon unfassbar viel ereignet hatte zwischen Rock & Roll, dem Summer Of Love und Punk, war Popmusik tatsächlich noch unglaublich jung, nur etwa 20 Jahre alt, und aktiv wie ein Vulkan, der immer neue Inseln gebiert. Auch Diederichsen war erst Anfang 20 und letzter Chefredakteur des damals wichtigsten deutschen Musikmagazins. Der Vulkan hat sich inzwischen deutlich beruhigt, Popmusik hat nun eine lange Geschichte, und Diederichsen hat sie in voller Gänze mit durchmessen, kommentiert und ihre Rezeption beeinflusst.

Nach dem Ende von „Sounds“ 1983 wurde er Chefredakteur der Kölner „Spex“ und verhalf ihr zu enormer Bedeutung. Der massive Einfluss nicht nur des Mannes durch seine eigenen Texte, sondern auch der von ihm ausgewählten Autoren und Redakteure zeigt sich bis heute in deren weitverstreuter Präsenz in der Medien-, Kunst- und Akademie-Welt.

Dort, in Academia, ist er seit seinem Ausstieg bei „Spex“ Anfang der 90er-Jahre vornehmlich zu Hause, als pendelnder Professor zwischen Wien und der Westcoast; er hat seitdem viele gute, wichtige Bücher sowie unfassbar viele Artikel geschrieben und Dinge angeschoben und – über 15 Jahre hinweg – nun dieses 474-Seiten-Monsterwerk „Über Pop-Musik“ gestemmt. Es ist keine Nacherzählung der Geschichte geworden, sondern eher eine tiefenpsychologische, tiefenpolitische und tiefenphilosophische, dabei aber auch tief persönliche Durchdringung dieses großartigen Dings, das für ihn wie für uns Popinfizierte der Weg zur Welt war und vielleicht bleiben kann, wenn wir wirklich verstehen, was wir an diesem Ding überhaupt haben. Für diese Untersuchung fährt Diederichsen fünf dicke Themenblöcke auf, „Humane Faktoren“,“Sprache – Vokabular – Performance“,“Geschichte und Vorgeschichte“,“Stimmen, Maschinen, Sozial-Objekte“, „Die Gesellschaft der Pop-Musik“, sowie eine Einführung und Ausblicke. Das ist keine sehr niedrigschwellige Lektüre, andererseits aber auch bei Weitem nicht so hermetisch oder schwierig, als dass man sich ihr nicht beherzt und mit Vergnügen widmen könnte.

Für die Zukunft des Pop ist dieses Buch der intellektuelle Schlüssel. Man sollte sich dafür allerdings etwas Zeit nehmen.

Unser Autor HANS NIESWANDT ist Künstlerischer Leiter des Instituts für Populäre Musik der Essener Folkwang-Universität, arbeitet als DJ, veröffentlicht Bücher und schreibt Texte für ROLLING STONE

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