In den Klauen des Dr.Kirch

Imay be vile and pernicious/ But you can 't look away/ I make you think l'm delicious/ IVith the stuffthat Isay/ I am the best you can get/ Have you guessed me yet?/ Iam the slitne oozin' out/ Front your TV set (Frank Zappa) SEIN BÜCK IST ZWAR GETRÜBT (ZUNEUMENDE SEHSCHWÄCHE), ABER LEO KIRCH WILL UNS TROTZDEM STEHENDEN AUGES DIE TV-ZUKUNFT DER DIGITALEN VERDUMMUNG BESCHEREN. DER FERNSEHSESSEL WIRD ZUM SATTEL EINER BREITBAND-BONANZA

Früher begann der tag mit einer Schußwunde, so sagte Woif Wondratschek vor ein paar Jahrzehnten, und heute bin ich froh, wenn ich morgens das Fenster öffnen und hinausschauen kann, ohne die Naturszene oder die gegenüberliegende Häuserzeile bei einer Werbeunterbrechung zu erwischen. Ich leide unter Dauerhalluzinationen und habe Siegmund Freuds „Traumdeutung“ zum Altpapier gegeben, weil das Buch total überfordert ist und völlig veraltet, überhaupt nicht mehr in der Lage zu erklären, weshalb meine Phantasien gesponsert scheinen in 3-Disney-D und irgendwie von außen kommen. Ich habe keine Träume mehr, ich werde dauerberieselt. Mein Hirn hat sich in eine träge Masse, einen Klumpen Zerebrales verwandelt, der die Schädelbasis quasi wie einen Kinosessel benutzt und darauf verzichtet, mit mickrigen Eigenproduktionen gegen die planetarische Mediengewalt anzutreten, in der sich die tägliche Überdosis der Traumdröhnung postindustriell verabreicht. Ich werde wie in einer Pawlowschen Versuchsapparatur bei freier Bewegung und guter Verpflegung darauf gedrillt, auf den berühmten roten Knopf zu drükken, der mich endgültig dem interkontinentalen Dauerbeschuß virtueller Bildwelten aussetzt und den Sinn für die Vüfeite des Horizonts in eine geistige Horizontale verwandelt. Die Welt erlebe ich nur noch in Dolby-Surround, begrenzt von der beruhigenden Nähe knisternder Screens, und manchmal, in einer Art induzierter Vision, erscheint mir die überlebensgroße Gestalt des Big Brother persönlich seine Eminenz Leo Kirch. Jahrzehntelang hat er sein Geschick als Monopoly-Spieler hinter den Kulissen der öffentlich-rechtlichen Demokratur ausprobieren können, heimlich still und leise und mit der politischen Unauffälligkeit des Biedermanns. Ganz wie sein Duzfreund Helmut Kohl repräsentierte er allenfalls so etwas wie den verklemmten Geist der Adenauer-Ära, einer Zeit also, deren kulturelle Eigenleistung von der überheblichen Intelligenz nur allzugern auf Achselschweiß und auf Hoffmannstärke reduziert wurde – und genau wie Kohl konnte er an Kritikern wie notorisch Nicht-Wahrnehmenden vorbeiziehen.

Kirch konnte an einer Gesellschaftsstruktur weiterbasteln, die man in den 60er und 70er Jahren zu überwinden glaubte, indem man ihr die Attraktivität eines politischen Utopismus von Mitbestimmung und sozialer Verantwortung entgegensetzte, anstatt den Corpsgeist, dieses Verstummen der Mehrheit in blankem Konsumismus oder den Hang zu gutbürgerlicher Beschaulichkeit wirklich ernstzunehmen und in einer Form sich fortschreibender Gegenwartsbewältigung öffentlich zu machen. Kirch ist von jener sinistren konservativen Truppe, die dafür

sorgt, daß sich Fortschritt an politisch unbedenklichen Prämissen orientiert und sich dabei noch betörend progressiv gibt. Im Grunde gehört er zu den Wegbereitern des Modells 2000, das es so schwer gemacht hat, noch wirkliche Alternativen im Einheitsbrei der Parteien zu finden. Wenn es um verlockende Medienwelten geht – nach dem Motto: aus Alt mach Neu -, hat sich die Konditionierung der Politik bewährt.

Kirch kann noch so sehr unter Druck geraten, weil mittlerweile alle Kanäle voll sind und in der überhitzten Phase von Sender-Neugründungen und Spartenfetischismus einfach kein Platz mehr ist für digitales Pay-TV – die Zukunftsstrategen planen weiter. Die Gans muß gestopft werden. Es gelten die Grundsätze einer schönen und neuen Scheinwelt, und so rollen ihm gerade auch die roten Länderbarone ihre roten Teppiche aus. Das NRW-Technokratieministerium unter der Leitung des zukunftsträchtigen Wolfgang Clement wäre ein Beispiel, wo sozialdemokratisches Bewußtsein aus der verklemmten Angst, nur nicht den Anschluß zu verpassen, in die Offensive geht Kaum war die bayerische Landesanstalt für Aufbaufinanzierung (LfA) ausgeschieden aus dem Kreditkonsortium um Kirchs kapitalfressendes DF 1-Projekt, wedelte Clement mit der Westdeutschen Landesbank. Die bekam zwar auch kalte Füße, aber das Buhlen geht fleißig weiter, hofft man doch, daß die Decoder-Produktion in das Nokia-Werk in Bochum verlegt wird. Psychologisch läßt sich dieser Widersinn immer noch verdrängen als Versuch, die medial erzeugte Idealdemokratie zu sichern, von der die Internet-Jünger ach so gern schwadronieren.

Daß es aber im Grunde nur um das Anheizen von Konsum geht und die Kontrolle der „demokratischen Schwachstellen“ des Wundermediums, sollte gerade ein Rückblick in die Medienhistorie des Herrn Kirch deutlich machen. Als Schah Reza Pahlewi im Iran Blut fließen ließ, flössen in der Bundesrepublik Tränen um „Winnetou III“ oder um das Prinzessinen-Unglück von Soraya, oder man geiferte im Springerstil so lange gegen die Studentenbewegung, bis sich schließlich einer der geBildeten des Herrn Dutschke annahm und bei einem Attentat lebensgefahrlich verletzte, eine Woche nach dem Mord an Martin Luther King.

Dutschke stirbt elf Jahre später an den Spätfolgen des Anschlages. Die Studentenbewegung ist mittlerweile tot, Apo gilt als Wendeform von Opa, in allen Fachschaften und Asten und den Landschaften der politischen Unruhe spürt man kaum einen Hauch, doch es gibt „Bild“ und „Auto-Bild“ und „Bild der Frau“ und „Computer-Bild“ und Leo Kirch ist mit 35 % bei Springer beteiligt. Aber er setzt auf Moderneres.

Sein verzweigter Konzern hält Anteile an über 50 Mediengesellschaften. Neben den Standbeinen Beta-Film und Taurus-Film ist Kirch bei Sat 1 und dem Deutschen Sportfernsehen Mehrheitsaktionär. Er hat die Sperrminorität unter anderem bei Pro 7, Premiere und Kabel 1; er besitzt Großkinos in Köln, Zürich und Wien; er mischt mit fast 50 % bei der Constantin mit und hält neben seinem eigenen Digital-TV gute Geschäftskontakte zu europäischen PayAnbietern wie dem Schweizer Teleclub und der italienischen Telepiü, über die er mit Silvio Berlusconi, dem Medienzaren, Ex-Ministerpräsidenten und Sponsor des italienischen Neofaschismus verbandelt ist.

Doch all diese Connections machen nicht die eigentliche Macht Leo Kirchs aus. Die Banken können ihm noch so sehr zusetzen wegen der horrenden Verluste, die DF 1 derzeit und wohl auch in Zukunft einfährt: für die großen Monopolisten wird er auch jenseits irgendwelcher Bonitäten immer interessant bleiben, weil er etwas hat, was alle anderen – Bertelsmann etwa oder der mit Medienträumen spielende Ron Sommer von der Telekom – gern haben würden. Kirch hält 70-80 Prozent aller verfügbaren „attraktiven“ Programminhalte. Er hat Exklusivverträge mit drei der großen Hollywood-Studios und hat sich in die strategisch günstige Position eines Verteilers bugsiert Ohne ihn läuft die hochgerüstete Rundfunkmaschinerie nicht Ohne Kirchs Birnenweichmacher bleibt die Hardware der profitablen Medienzukunft still oder muß den Spartenspagat ohne die nötigen Lockstoffe versuchen: etwa unter Mithilfe eines abendfüllenden Kachelmann auf dem Wetteroder Unwetterkanal -je nach Laune.

Dagobert Duck hortet ja bekanntlich Taler in seinem Entenhausener Geldspeicher, aber Kirchs Taler haben eben die Größe von Filmdosen, und im Gegensatz zu dem unterhaltsamen Bunt des schnatternden Geizhals‘ lauert hinter dem Fehlfarbengeflimmer des Münchner Medienmoguls die Realität eines Desinformationsmonopolisten. Doch genau das ist es, was seinem Imperium selbst in Krisensituationen Stabilität verleiht. „Kirchs Filmbänder sind lang genug, um uns alle einzuwickeln“, so hat einmal ein Konkurrent behauptet – einer von denjenigen, die selbst mächtig genug sind, sich der lästigen Pflicht des Informationsauftrags entziehen zu wollen, könnten sie nur ähnlich effektiv aus dem Fundus unendlicher Seichtigkeit schöpfen wie der haßgeliebte Kirch. Mit weitaus mehr Instinkt als seine Konkurrenten hatte Kirch schon zu Beginn der galoppierenden Technologisierung gespürt, daß der ganze High-Tech-Firlefanz von Sat-Anlagen, Decodern und d-boxen im Grunde nur einem einzigen Zweck dient: dem immerwährenden Wiederaufguß von prägenden ErZeugnissen der westlichen Filmkultur. Ein paar Dutzend hochkarätige Klassiker und Alibi-Sendungen wie „Zak“, ansonsten aber nur gequältes Licht: Schmonzetten, Dramolette und „Wetten, daß“?“. Je schöner die Heide mit Action-, Trashund Pulp- und Ballerfiction und diesem Bindemittel von Gameshows, Quasselshows, Erotik- und Zotikfeatures, gleich serienweise produziert in den Studios von Creutzfeldt und Jakob.

Die Banken, die Kirch nun auf der Pelle sitzen, da sie ihr gutes Geld gleich unsummenweise verschwinden sehen in einem Projekt von fraglicher KurzzeitprofitabiJitüt, diese Banken sind eben auch sehr an einer Medienlandschaft interessiert, die für Ruhe und Ordnung sorgt und die Leute bei Laune hält Das gleiche gilt für jene konservativen Kreise, aus denen der Zündfunke für die Umgestaltung des behäbigen öffentlich-rechtlichen Bildungsund Informationsfernsehens stammt, auch wenn mittlerweile selbst der Gralshüter konservativer Langmut, Bundespräsident Roman Herzog, die Geduld verliert und über die „Banalisierung und Trivialisierung“ meckert, welche die „Hirne kaputt“ macht.

Diese Entwicklung scheint sich als komplette Trennung von Form und Inhalt zu vollziehen; eine Entwicklung, bei der sich das Medium revolutioniert quasi im Gegenzug zum schwindsüchtigen Verfall der Botschaften. Statt Bedenkenswertem bleibt nur Entertainmentmüll – Infogülle, die Kirch als der Herr der Kanäle tagtäglich durch den bundesdeutschen und zunehmend auch den europä ischen Teil der weltweiten Kanalisation jagt oder jagen läßt. Pay-TV, Pay-per-view und Free-TV unter dem Dauerbeschuß von Werbeblöcken. Eine Art Daseinsgrundfunktion in der schönen neuen Welt von „merchandising mania“.

Den Wirtschaftsbossen allerdings gefaüts. „The proof of the pudding is in the eating“: von 0,2 Millionen Werbeeinnahmen 1956 stieg die Zahl auf satte 7 Milliarden Ende 1996 – mit einem deutlichen Anstiegsknick zum Zeitpunkt der Vergabe terrestrischer Frequenzen an Sat 1 und RTL. Desgleichen können die derzeit noch moderaten Rundfunk- oder Kabelnetzgebühren schon jetzt hochgerechnet werden auf 200 bis 400 Monatsmark im gar nicht mehr so virtuellen Pay-TV- und Online-Zeitalter. Kirch hat seine Fühler längst in jene Bereiche ausgestreckt, die der Konditionierung nachfolgender Generationen dienlich sind, weiß er doch genau, wie wenig Kapital sich letztlich aus der krankenhausserienreifen Senilenriege schlagen läßt, die sich täglich vor Sat 1 versammelt. „Ende der analogen Welt – Decoderkunden werden zu DF 1-Abo gezwungen“ hieß es jüngst im Fachblatt „Infosat“, und dort konnte der erstaunte Interessierte nachlesen, daß Kirch in einem geschickten Coup mit der nervös gewordenen MTV-Truppe in Kontakt getreten ist Um gegenüber VIVA Boden gutzumachen, setzt die Geschäftsleitung (jetzt hätte ich fast „Gefängnisleitung“ geschrieben) von MTV-Europe langfristig auf die digitale Schiene und verhandelt mit Kirch, um günstige Konditionen für den Umstieg ihrer Decoderkunden auf DF 1-Abos auszuhandeln. Teenager, bei denen aufgrund jahrelanger Konditionierung die Musik ins Auge anstatt ins Ohr geht, bilden genau die passende Einsteiger für den Versuch, neue Märkte innerhalb der Gesellschaft zu erschließen, und mit dem richtigen Bild-Pep lassen sich wohl selbst dem Naabtal-Duo progressive Töne entlocken.

Und dann kommt noch hinzu, daß Kirch mit Hilfe der Unionstruppen die EU-Richtlinie boykottiert, die besagt, daß wichtige Sportereignisse im Free-TV übertragen werden müssen. So könnten Wimbledon oder die US-Open demnächst bei DF 1 für steigende Abonnentenzahlen sorgen, und es wäre, wie wiederum „Infosat“ mutmaßte, „ein bitterer Vorgeschmack auf das, was den Zuschauer bei den Fußball-Weltmeisterschaften derJahre 2002 und 2006 nach dem Erwerb der Übertragungsrechte durch die Kirch-Gruppe erwarten könnte“.

Auch die ehemaligen Widerständler der Offentlich-Rechtlichen beginnen ihre Zeldager zu verlassen, wo sie sich in den Flugschneisen, die Kirch und die Telekom gelegt haben, bereits ein wenig eingeengt fühlen. In einem Interview bekannte sich ZDF-Intendant Dieter Stolte zur digitalen Zukunft. Bei der IFA ’97 im August wolle man sich gewappnet zeigen. Er hoffe, daß die vertraglichen Grundlagen mit der Kirch-Gruppe bis zur Funkausstellung geschaffen seien, fügte er hinzu, und Ron Sommer setzte noch einen drauf, als er mitten im Pressegewitter um Kirchs möglichen Ruin Gespräche mit dem Unterfohringer Tycoon anbahnte.

Die Telekom könnte Kirch Zugang verschaffen zu 17 Millionen Kabelhaushalten. Bisher waren denkbare Einigungsmodelle an seinen knallharten Forderungen gescheitert, doch nun scheint er moderater geworden zu sein und beansprucht wohl nicht mehr 95 Prozent aus den Einnahmen der Digitalvermarktung, weil er sich im Rahmen seiner langfristigen Strategien wieder im Vorteil wähnt Noch einmal heißt das Stichwort: Fußball-WM. Jeder im Mediengeschäft weiß, daß die aberwitzigsten Dinge möglich sind, wenn sich die Goldgräberstimmung im Vorfeld solcher Ereignisse aufzuheizen beginnt. Sobald sich jene zwei Wochen inszenieren, in denen Ereignisse von niedrigstem Informations- aber höchstem Unterhaltungswert die Programmpläne dirigieren, kann Kirch den Schlaraffen spielen und milliardenweise abräumen. Die Situation wird vergleichbar sein

mit einem riesigen Kuchen, dessen Hefetrieb noch lange nicht gestoppt ist – und jeder wird ein Stück davon haben wollen.

Anstatt also in Spekulationen zu schwelgen, wie man sich Kirch als Sozialfall vorzustellen habe, sollte man lieber realistisch über das Digitalkartell von morgen nachdenken; denn was sich als ein Scheitern in den verschiedensten Szenarien ausmalen läßt, würde kaum dem gegenwärtigen Trend zu Monopolstrukturen zuwiderlaufen. Wer immer noch glaubt, die Sender- und Programmbeziehungen ließen sich entflechten und rückwenden zu jenem föderalen Prinzip, bei dem Minderheitenprogramme und Info-Foren immerhin eine Plattform hatten, anstatt bloß plattgemacht zu werden im Konkurrenzkampf mit Schreinemakers und „ran“, der hat das Wichtigste nicht begriffen. O-Ton Ron Sommer: „Es ist ein Wahnwitz, daß Minderheitenprogramme ein ganzes Kabel belegen, das Millionen Haushalte erreicht“ – und mit Minderheitenprogrammen meint er keineswegs Erzeugnisse der Gegenkultut Der „Krieg um die Augäpfel“, wie’s in einer MGM-Studie heißt, ist längst voll entbrannt. Ein möglicher Kirch-Konkurs würde bloß zu einer stärkeren Umklammerung seiner (Noch)Konlcurrenten wie Bertelsmann oder Telekom führen – und was bitte wäre das anderes ab ein Monopol?

Die gleichen Bedingungen gelten im Grunde auch für den vielgepriesenen Aufbruch in die individualistische Mediengesellschaft, die Vollendung der individuellen Kommunikationsmöglichkeiten im WeltWeiten Warten. Internet, Informationshighway, Datenautobahn: welches Stichwort auch immer vor dem Hintergrund der globalen Vernetzung genannt wird, es verspricht Kommunikationsmöglichkeiten als Korrektiv zu den Vereinnahmungstendenzen des Medienspektakels. Konsumenten, so heißt es, bedienen sich nun der Medien, die mit ihnen vorher wie mit Bediensteten umsprangen oder sie, in statisch/statistische Rollen gedrängt, zu Positionsspielchen nutzten. Aus passiven Konsumenten würden aktive Kommunikanten und Selbstbedienung ersetze Abfertigung.

Solche und ähnliche Träumereien machen die Runde, ohne daß sich jemand des Grundsatzes entsinnt, daß im Zeitalter der Werbestrategien das Angebot die Nachfrage dirigiert. Niemand, der am Medienmarkt der Zukunft teilhaben will, denkt nicht schon jetzt darüber nach, wie sich das Internet für seine Zwecke manipulieren läßt und Kirch wohl am wenigsten, denn auch im globalen Datenrausch machen die Bilder und das Programmangebot das Rennen. Die Monopolisten haben noch immer die massivsten Möglichkeiten, den Meinungsbildungsprozeß mit Informationen zu beschicken; denn zu glauben, bald könne sich jeder mit dem Weltganzen verquicken und sein Hosianna der globalen Öffentlichkeit zu Gehör bringen, setzt ein Interesse voraus, das immer eine rein statistische Größe bleiben muß. Wer, bitteschön, will denn die einzelne Stimme oder das einzelne Anliegen aus der Kakophonie des Netzes noch heraushören? Und wer wird sich die Mühe dazu machen? Stanislaw Lern hat einmal verächtlich den alljährlichen Wissenszuwachs des Hightech-Zeitalters mit der lapidaren Spekulation kommentiert, nun müsse sich wohl bald die Wissenschaft der Infbrmationsentsorgung etablieren, weil es immer schwieriger wird, Wichtiges aus dem anschwellenden Geschwätz von Soap, Nebensächlichem und Bildgeflimmer herauszufiltern – keineswegs Gedanken eines Mannes, der es gewohnt ist, sehnsüchtig in die Vergangenheit zu blicken.

Also Blick nach vorn: „2002 – A Soap Odyssey“. Das Volk hat sich von dem Erstschlag der Rechtschreibreform nicht wieder erholt, aber geschrieben wird eh nur noch selten. Das Alphabet reduzierte sich in in den folgenden Jahren, frei nach der Devise don’t:-( be:-), auf ein paar Emoticons, die sich bisweilen mit ihren debilen Visagen auf Bildschirmen verlieren, doch selbst einsilbige Dialoge lassen sich damit kaum führen – und wer will das auch? Michael Schumacher ist noch dreimal Weltmeister geworden. Der allerneuste Schrei sind Bildschirme mit Bräunungseffekt, stufenlos regulierbar, mit Abschaltsensorik bei Anzeichen von Sonnenbrand, ohne daß die gerade laufende Übertragung (das Wort „Input“ beginnt, semantisch an dessen Stelle zu rücken) abgebrochen wird. Mittlerweile sind 32 Kamerapositionen Standard im digitalen Pay-TV, und bei Rennen der Formel 1 träumt beinahe jeder davon, im Moment einer Kollision just jene Einstellung gewählt zu haben, die den totalen Vor-Ort-Effekt bietet: den Sekundenbruchteil der Fusion von Hirnmasse und Metall und/ oder Beton.

Überhaupt hat der Informationsgehalt von Sendungen eine kaum noch überbietbare Pakkungsdichte erreicht sowie ein Maß von Koordination, in dem das Fehlen von Artikulationsmöglichkeiten des Protestes gar nicht mehr auffällt. Wann immer in einem Drittweltland vor laufender Kamera besetzte Botschaften gestürmt werden und sich ein politisches Problem mit sauberen Fangschüssen löst, sorgen die großen Nachrichtensender nun dafür, die entscheidenden Salven nicht mit geschmacklosen Werbeunterbrechungen zu verderben.

Anfängliche Probleme in dieser Richtung konnten geklärt werden, weil sich Vertreter der Großkonzerne unter Führung von Daimler-Benz und Shell bereit erklärten, auf den etwas weniger attraktiven Platz zwischen den Wiederholungen der entscheidenden Feuerstöße auszuweichen – wegen der Kundenfreundlichkeit, und weil man ja begriffen habe. Auch die Fußballweltmeisterschaft ist ein voller Erfolg und hat den Digitalisierungsgrad in der Bundesrepublik auf stolze 92 Prozent anwachsen lassen, was den Statistiken der UNESCO zufolge einen Spitzenplatz nicht nur in Europa bedeutet. Die offiziellen Bälle sind erstmals mit einer stoßfesten Kamera versehen und komplettieren das sportliche Großereignis mit dem dazugehörigen Kopf-ab-Gefühl. Aber der Ball ist rund, und die Welt dreht sich ebenfalls weitet Und Leo Kirch? Ach ja, er hat einen sagenhaften Deal geschlossen mit diesem sommersprossigen US-Trilliardär aus Seattle, der hinter seiner Brille immer noch so harmlos aussieht wie Scooter aus der Muppet-Show, obwohl er doch irgendwie Kirchs Sohn sein könnte. Aber falls es jemanden gibt, der nicht wissen sollte, wer Scooter ist: Microsoft hat ein riesiges Bildarchiv, dort wird sich wohl eine brauchbare Fotografie von ihm finden, und außerdem werden die Shows sicher gerade auf irgendeinem Kanal wiederholt.

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